Die vergessene Revolution der Lyrik Zur Aktualität von Rainer Maria Gerhardt
und Werner Riegel von Michael Braun
Die Geschichte der Nachkriegsliteratur beginnt mit einem verhängnisvollen
Pakt zwischen Geist und Macht: Eine politische und ästhetische Antwort
auf die faschistische Barbarei bleibt nach 1945 aus, statt dessen geben
Dichtung und Kritik der politischen Restauration schöngeistigen Flankenschutz.
Während in der Gruppe47 das Wort "Kahlschlag" die Runde macht (ohne
daß es zu einem wirklichen Neubeginn kommt), begibt sich die Poesie
mit blattvergoldeten Worten in die lyrische Provinz und sucht Zuflucht
in "Silberdistelklausen" (F.G. Jünger) und anderen ornamentalen Fluchtburgen
eines falschen Traditionalismus. In diese kleine heile Welt der naturlyrischen
Schwärmer bricht 1948 in kulturrevolutionärer Absicht ein literaturbesessener
Student aus Freiburg ein, gerade 21 Jahre jung: Rainer Maria Gerhardt propagiert
in seiner Zeitschrift 'fragmente` eine kosmopolitische Vision moderner
Dichtung. Als junger Frontsoldat war der 1927 in Karlsruhe geborene Gerhardt
zu Titos Partisanen übergelaufen. Jetzt, nach seiner Rückkehr
aus der Hölle des Krieges, stürzte er sich zielstrebig auf die
moderne Literatur, die ihm von den Machthabern in Hitlerdeutschland vorenthalten
worden war. Für seine frühen literarischen Versuche erhielt er
bereits 1946 den Jugend -Literatur-Preis der Stadt Wien. 1947 kam er als
Gasthörer an die Universität Freiburg und lernte dort Claus Bremer
kennen - jenen Claus Bremer, der später als experimenteller Lyriker
und Dramaturg von sich reden machte und heute als freier Schriftsteller
und Redakteur der Literaturzeitschrift 'orte` in Zürich lebt. Zusammen
mit Bremer gründete Gerhardt 1948 die "gruppe der fragmente" und gleichzeitig
die Zeitschrift 'fragmente`, die zunächst als hektographiertes Kleinst-Journal
an Freunde und Bekannte verteilt wurde. In Freiburg begegnet Gerhardt auch
einem jungen Kommilitonen, der sich mit noch unveröffentlichten Gedichten
in einem studentischen Lyrik-Wettbewerb profiliert hatte, aber vorläufig
noch eine akademische Karriere anstrebte: Hans Magnus Enzensberger. Um
1950 beginnt Gerhardt dann den transatlantischen Dialog mit den avantgardistischen
Dichtern Nord-Amerikas, den Poeten von "Black Mountain College", einer
privaten Kunst- und Literaturakademie in North Carolina: Er korrespondiert
regelmäßig mit Charles Olson, Robert Creeley und Jonathon Williams.
In diesem poetischen Briefwechsel kritisiert Olson die esoterischen Höhenflüge
seines deutschen Schülers Gerhardt: "Die aufgabe, Gerhardt / ist genau
zu sein, gleich / von anfang an ... / magie, mein leichtfingriger faust,
/ wirkt nicht so einfach sympathetisch." 1951 investiert Gerhardt sein
intellektuelles und finanzielles Kapital in die Neukonzeption der 'fragmente`
als (gedruckte) 'internationale revue für moderne dichtung`.
Dem ersten Heft fügt er einen poetologischen Essay bei, der sein
ehrgeiziges Programm resümiert: "Das abenteuer des geistes hat neu
begonnen, es mag vielleicht schon für tot erklärt worden sein
... Die neue welt ist identisch mit der von Benn demonstrierten ausdruckswelt,
die einzige realität des dichters ist die realität des gedichts,
der einzige wille da zu sein der wille zum gedicht, und die einzige ordnung
die ordnung des gedichts."
Die Hefte der 'fragmente` bilden später die Eckpfeiler jenes "Museums
der modernen Poesie", das Hans Magnus ENzensberger 1960 eingerichtet hat.
In Heft1 der neuen 'fragmente` veröffentlchte Gerhardt in meist
eigenen Übersetzungen Gedichte von Ezra Pound, Henri Michaux, Saint
John-Perse, Rafael Alberti und William Carlos Williams. In der kleinen
Schriftenreihe 'fragmente Taschenbücher` erscheinen schmale Bände
von Confucius, Claire Goll, Ezra Pound und Wolfgang Weyrauch. Besessen
von der Idee, den restaurativ gesinnten Kulturverwaltern der Adenauerzeit
eine kulturelle Lektion zu erteilen, versuchte der Kleinverleger Gerhardt
im Alleingang die anvancierte Poesie der europäischen und amerikanischen
Moderne in ein Land zu importieren, das kurz zuvor nur an der Liquidierung
authentischer Kunst interessiert war.
Unterdessen wird in Hamburg im Dezember 1952 das literarische Endzeit-Projekt
des "Finismus" aus der Taufe gehoben: Mit ihrer Zeitschrift 'Zwischen den
Kriegen`, ähnlich wie die frühen 'fragmente` ein hektographiertes
Heft mit einer Auflage von 200 exemplaren, starten die bis dato unbekannten
Dichter Werner Riegel und Peter Rühmkorf einen fulminanten Angriff
auf die "Stromlinienspießer" der Nachkriegsliteratur. Trotz verwandter
literarisch -ästhetischer Positionen (beide waren glühende Verehrer
von "Big Benn" und Arno Schmidt) hat Rainer Maria Gerhardts und Werner
Riegels Kampf gegen den kulturellen Biedersinn der Adenauerzeit zu keiner
gemeinsamen Basis gefunden. Die poesivernarrten Einzelgänger der fünfziger
Jahre, beide erklärte Feinde des opportunistischen Kulturbetriebs,
verharrten in ihren privaten Literatur-Universen, ohne die gemeinsame Zielrichtung
ihrer politischen Ästhetik zu erkennen. In einem seiner "astralen
Essays" (Rühmkorf), neben deren rhetorischer Brilianz und polemischer
Schärfe sich das gepflegte Parlando heutiger Literaturkritik blamiert,
hält Riegel unerbittlich Gericht über die Lyrik seiner Zeit.
Sein Rundumschlag trifft nicht nur die harmlose Feld-, Wald- und Wiesenlyrik
der eskapistischen Naturdichter und die konservativen "Metafiesiker der
Holthusen, Eich und Holzköpfe ad infinitum", sondern auch die so apostrophierten
"Formalisten": "Am andern Ende des Stranges, zum Aufhängen ist das,
ziehen die Formalisten, die mit Vorsatz Langweiligen, die Hochstapler der
Sprache, ... die Schnell und Leichtfertigen der 'Fragmente`, die Nebligen,
die Qualligen, der 'Konturen`, die Ausgewogenen, die auf Quatsch Geeichten
vom 'Lot`. Sie geben typographische Mätzchen für Revolution der
Lyrik aus, Interpunktionszeichen für Gedanken, die Senkgrube unter
ihrer Schädelplatte für Bregen, Kalauer für Esprit, Anleihen
aus dem Gilgameschepos für das prälogische Genie ihrer Hirnrinde
und Phrenesie für Dichtung.
Sie schreiben klein und karriert, sie schreiben mit geschlossenen Augen
und dem linken Fuß, sie montieren nach dem Kursbuch und den Knöpfen
auf ihrer Wollweste; vor der kulturellen Not dieser Zeit gehen immer ihrer
sieben auf Kovals Lot. Und, alle in allem mit Hut und Hieroglyphen der
einen, der gräßlichen, der Napfkuchenform verfallen: sich möglichst
unverbindlich an formalen Gesetzen vorbeizuschwindeln."
Im polemischen Feuerwerk, das Riegel hier abbrennt, werden auch die
unbestreitbaren Verdienste der von ihm verspotteten Zeitschriften eingeäschert.
Denn dies bleibt festzuhalten: Rainer Maria Gerhardts 'fragmente` haben
zusammen mit der von Alexander Koval in Berlin herausgegebenen Zeitschrift
'Das Lot` - und eben mit den 'Blättern gegen die Zeit` der Firma Riegel
/ Rühmkorf das Terrain für die lyrische Moderne in Deutschland
erschlossen. Hier fand er statt, der Neubeginn der Sprache, der poetische
Aufbruch und Umbruch zur Moderne hin, - allerdings ohne daß der damalige
Literaturbetrieb davon Notiz genommen hätte. Denn die kulturrevolutionären
Programme der 'fragmente` und der 'Blätter gegen die Zeit` wurden
von den Verwaltern des Kulturrestauratoriums, für die Rilke das Nonplusultra
modernen Dichtens darstellte, geflissentlich ignoriert. Riegel fand immerhin
noch privaten Zuspruch bei einigen Überlebenden der expressionistischen
Epoche (bei Hanns Henny Jahnn, Alfred Döblin, Richard Hülsenbeck
und Kurt Hiller), dagegen stießen die 'fragmente` allerorten auf
dumpfe Ignoranz. Einzig der Romanist Ernst Robert Curtius erkannte die
epochale Leistung R.M. Gerhardts. Im Juli 1951 schreibt er in einer Rezension
über das erste Heft der 'fragmente`: "Seit der Menschheitsdämmerung
von Kurt Pinthus ist mir keine so erfrischende modernistische Manifestation
vorgekommen wie das vorliegende Heft." Da ansonsten positive öffentliche
Resonanz auf seine Arbeit ausbleibt, lastet bald ein ziemlich großer
Schuldenberg auf Gerhardt.
Seine Verlagsprojekte scheitern, tiefe Depressionen lähmen schließlich
seinen ungeheuren Arbeitseifer. Er verliert sein Zimmer in Freiburg, in
dem er zusammen mit seiner Familie lebte und ist für einige Zeit auf
ein Zelt angewiesen. Am 17.1. 1954 erscheint in der 'Neuen Zeitung` ein
demütigender Verriß der 'fragmente` aus der Feder des Literaturkritikers
Helmuth de Haas: "Weltorientierung? ... Nein! Knäblein -Lyrik, Zeltorientierung,
Spätzeitkitsch ... Psychistensauce, anarchisch heraufgespült.
Kennwort: Auch Ariadne trank Coca-Cola auf Lesbos." In aussichtsloser Lage
entschließt sich Rainer Maria Gerhardt am 27.Juli 1954 zum Freitod.
Seiner Frau Renate und seinen beiden Söhnen Titus und Ezra Gerhard
hinterläßt er 40.000DM Schulden aus der Verlagsarbeit. In ungeahnt
tragischer Weise erfüllt sich der prophetische Satz aus Gerhardts
poetologischem Essay: "Dichtung ist heute ein lebensgefährliches beginnen,
die schreckschüsse der dadaisten sind noch nicht verhallt, und eine
furchtbare wahrheit steigt herauf, ein vers von erheiternder pracht und
großer faszination kann morgen das todesurteil seines dichters sein".
Ein unrühmliches Beispiel für das Ressentiment, das dem Einzelgänger
Gerhardt entgegenschlägt, liefert auch Gottfried Benn. Gerhardt hatte
in den 'fragmenten` Benns Essay Doppelleben angepriesen, die Statischen
Gedichte, (die 1948 erschienen waren), jedoch als "rückgriffe" und
"sentiment" verworfen. Im September 1949 und noch im Juli 1950 hatte sich
Benn in Briefen bewundernd über die 'fragmente` geäußert.
Kaum aber wird er gewahr, daß an seiner Dichter-Imago gekratzt wird,
distanziert sich Big Benn eiligst von der "Neutönerei" und dem "rezidivierenden
Dadaismus" des poetischen Nachgeborenen Gerhardt. Dabei gibt es mehr Parallelen
zwischen Benns und Gerhardts Poetik, als es die gegenseitigen Distanzierungen
vermuten lassen. Die Vision Gerhardts von der Dichtung als "kulturelle
einheit, quer durch alle sprachen und räume" trifft sich mit Benns
Überzeugung von der "eigentümlichen Nähe aller Kunstdinge
innerhalb des ganzen Kulturkreises von der frühägyptischen Plastik
bis zu den Zeichnungen Picassos, von den Hymnen des Mittleren Reichs und
den hebräischen Psalmen bis zu den Gedichten von Ezra Pound". Die
weitgespannte Gebärde, die im Gedicht die Bruchstücke aus Kulturgeschichte
ud Wissenschaft mit Mythologemen, Namen und Zitaten zusammenführen
soll, basiert für Benn wie Gerhardt auf dem "Montagestil". "Der Stil
der Zukunft", dekretiert Benn in Doppelleben, "ist der Roboterstil, Montagekunst".
Ebenso Gerhardt: "Montagestil bedeutet nicht formauflösung, sondern
steigerung und äußerste disziplin der form." Die rigorose Handhabung
des "Montagestils" führt in Gerhardts eigenen Gedichten dazu, daß
allerlei Bildungsgut angeschwemmt wird, ohne in eigener Formgebung strukturiert
und neu bearbeitet zu werden. Die hochgespannte Beschwörung der poetischen
Urahnen bleibt oft in der bloßen Remineszenz stecken. IV
Auch Werner Riegel erliegt der magischen Anziehungskraft des überlebensgroßen
Dichter-Idols Benn. Der archimedische Punkt seiner poetologischen Reflexionen:
"Benn als Problem des Lyrikers." So der Titel eines Essays aus Heft22 von
'Zwischen den Kriegen`, erschienen im November 1955. Der Partisan einer
modernen "Lyrik nach Benn" vermochte zuletzt dem Bannkreis des Meisters
nicht zu entrinnen. Die scheinbar unerschöpflichen Kräfte des
angriffslustigen Polemikers und Benn-Adepten Riegel, tagsüber als
Bürobote der Firma Arnold Otto Meyer ("Südfrüchte, Häute,
Gewürze"), nachts als Dichter und "zynischer, sarkastischer Finist,
Negativist, Sensualist, Desperado" tätig, waren rasch aufgebraucht.
Am 11.Juli 1956, nur vier Tage nach Benn, starb er im Alter von 31 Jahren
an Krebs.
Stefan Hyner, ein poetischer Nomade aus der Heidelberger Provinz, ist
zusammen mit dem unermütlichen Helmut Salzinger seit 1984 den fast
verwehten Spuren R.M. Gerhardts gefolgt. In drei Jahren geduldiger Recherche
reiste Hyner quer durch die USA, um noch lebende Freunde und Kollegen Gerhardts
aufzusuchen und nach verschollenem Material zu forschen. Das Resultat dieser
Recherchen liegt jetzt vor: eine Dokumentation Über das Nachleben
des Dichters Rainer Maria Gerhardt - drei hektographierte Hefte, eingeschlagen
in hellbraunes Packpapier. Der "Fall Gerhardt" hat indes bis heute seine
tragischen Züge behalten: Denn die gegenwärtigen Inhaber der
Urheberrechte am Werk von Gerhardt, seine Söhne Titus und Ezra Gerhardt,
haben mit einer "Einstweiligen Verfügung" bis auf weiteres die Verbreitung
der Dokumentation untersagt. Der "Fall Gerhardt" droht damit juristisch
stillgestellt zu werden: Über einen visionären Dichter und Verleger,
der mitten im kulturellen Mief Adenauerdeutschlands die Revolution der
Lyrik ausrief, wird erneut das öffentliche Schweigen verhängt.
Wer Gerhardt lesen will, bleibt vorerst auf spärliche Einzelveröffentlichungen
in Zeitschriften ('Akzente`, Heft3, 1956) und schwer zugänglichen
Anthologien (Hans Benders Widerspiel
erschienen 1962) angewiesen. Daß diese schmalen Teile seines
Werkes überhaupt noch greifbar sind, verdanken wir im wesentlichen
Walter Höllerer, der in den fünfziger und sechziger Jahren mehrfach
auf Gerhardt hingewiesen hat. Für die literarische Rehabilitierung
R.M. Gerhardts ist aber die umfassende Neuveröffentlichung all seiner
Texte notwendig: Die Neuausgabe seiner beiden Gedichtbände Der tod
des hamlet (1950) und umkreisung (1952) ebenso wie ein Reprint sämtlicher
'fragmente` und eine Edition seines Briefwechsels.
Während dem Werk von R.M. Gerhardt weiterhin das Recht auf literarische
Öffentlichkeit verweigert wird, bemüht sich Peter Rühmkorf
zum zweitenmal (nach 1961) um die Wiederentdeckung des Pamphletisten und
Lyrikers Werner Riegel: diesmal mit einem schön gestalteten (aber
bibliographisch unzureichend edierten) Auswahlband bei Haffmanns. Für
den Literaturbetrieb und seine Generalagenten sind Gerhardt und Riegel
erledigte Fälle, marginale Episoden aus den Goldenen Fünfzigern.
Den literarischen Irrtum derjenigen, deren Horizont nur bis zum Ende der
jeweiligen literarischen Saison reicht, gilt es zu korrigieren. Denn erst
jetzt kommen die Impulse aus der modernen angloamerikanischen Lyrik, die
Gerhardt vor über dreißig Jahren emphatisch aufgegriffen hatte,
in der deutschsprachigen Literatur allmählich an, werden etwa die
Gedichte von Robert Creeley (bei Residenz) neu übersetzt. Und von
den Tugenden literaturkritischer Polemik, die Riegel souverän exerzierte,
könnten heutige "Kliteratur"-Kritiker nur lernen. Bis dahin gilt das
Verdikt, das Riegel über meine Zunft verhängt hat: "Die Second-Hand-Gebildeten
unserer Epoche zeigen das Prachtalbum der abendländischen Kultur jedem
Besucher, aber nie schauen sie selbst hinein."
Stefan Hyner/Helmut Salzinger (Hrsg.): Leben wir ein wenig weiter
... Über das Nachleben des Dichters Rainer Maria Gerhardt. Eine Dokumentation
mit bibliographischem Supplement. Edition Head Farm 1988, 2179 Odisheim.
240S. DM20,-.
Peter Rühmkorf (Hrsg.): Werner Riegel. "... beladen mit Sendung/Dichter
und armes Schwein". Zürich, Haffmans Verlag 1988. DM40,-.
Copyright (c) contrapress media GmbH T881012.70 TAZ Nr. 2634 Seite 12-13
vom 12.10.1988 489 Zeilen von TAZ-Bericht michael braun
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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