Fritz Werner:
"...ein gedicht soll kraft zum leben geben"
Eine Erinnerung an Rainer Maria Gerhardt

 
"gruppe der fragmente freiburger kreis 1. Veranstaltung dichtung musik malerei freitag, 24. 2. 1950 20 h. universität hörsaal 5". Ein auffälliges Plakat, 60 x 25, aus dem auf Packpapier aufgetragenen Schwarz die braune Schrift stehengelassen. Ein ungewohntes Bild des Hörsaales mit seinen etwa 60 Besuchern, zumeist jungen Menschen. An den Wänden kräftige Holzschnitte von Erwin Steitz und Helmut Bischoff, daneben interessante Monotypien von Waldemar Epple. Ungewöhnlich auch das 22 Minuten lange "Gedicht" von Claus Bremer. Dann traten sie auf, die Dichter, Malerdichter, wurden Übersetzungen eben dieser Dichter, von Perse und Pound gelesen, erklang das Streichtrio in e des hochbegabten Genzmer-Schülers Bcrthold Hummel. Und es las auch eigene Lyrik der Kopf dieser Gruppe, Rainer Maria Gerhardt. Ich weiß nicht mehr, was er las. Auf dem Programm steht "Die große Mauer". Ich weiß nur noch, daß seine Sprache elektrisierte, daß es ein völlig neuer Ton war, eine Unverbrauchtheit der Worte, die aufwühlte. Der erste Sprung in die Öffentlichkeit war getan. Es fällt schwer, nach mehr als 40 Jahren diese Zeit wieder lebendig zu machen, und was ich dazu zu sagen habe, kann nur ein persönliches Bekenntnis zu einem jungen Dichter sein, der für mich der Anfang eines neuen Dichtungsbewußtseins war.
 
Es waren keine Anknüpfungspunkte an die Zeit vor 1933 da. Eine Welt war kaputtgegangen, alte Vorkriegsidole boten sich wieder an, wurden wichtig - wie Benn und Heidegger. Alle mit Vorgeschichte belastet. Der Krieg hatte meine private Bibliothek zerstört, es war wieder Anfang. Sechs Jahre Krieg und Gefangenschaft. Engste Wohnverhältnisse, kein Telefon, keine Xerokopierapparate, Papierknappheit und die fast grotesken Zufälligkeiten dessen, was gedruckt wurde aufgrund der Gesetze von vier nach vier Seiten ziehenden Besatzungsmächten. In Ladengemeinschaft mit Tauschzentrale und Kurzwaren wurden Bücher verkauft, ein schwieriges "Zuteilungsverfahren" herrschte - besonders vor der Währungsreform, wo das Geld keinen Wert hatte. Was draußen, jenseits dei Grenzen, an Literatur, an Dichtung entstand - keine Ahnung. "Tausend Jahre" vom ausländischen Denken abgeschnitten, waren wir Schwamm geworden, der sich von Gebotenem vollsog. Natürlich war der Name Eliot bekannt, von Pound war einiges durchgesickert, aber wer hatte schon einen Überblick über die Moderne, die uns insbesondere von Amerika aus, aber auch von Frankreich her überflutete. Die Rgale der Buchhandlungen waren leer. Schwer, heute nachzuvollziehen, welche Wirkung das junge Studentenpaar Rainer Maria Gerhardt und Renate Schlothauer hatte. Sie besaßen hektographierte Blätter aus aller Welt, Studentenzeitungen und andere mehr oder weniger primitiv hergestellte, meist mit Lyrik und Essayistik angefüllte Pamphlete. Wie kamen sie in ihre Hände, woher plötzlich diese fremden Namen, dieser Charles Olson, Robert Creeley, Cid Corman, Henri Michaux, Antonin Artaud, Archibald McLeish, Alfred Jarry, William Carlos Williams und wie sie alle hießen, etwas bekannter schon Apollinaire, Lautréamont, dazu Maler und Musiker. Dieser RMG, wie er sich gern nannte, wo hatte er nur all diese Beziehungen her? Robert Creeley schrieb später: "Ich erinnere mich sehr deutlich an ihn, nicht groß, ein wenig untersetzt, dunkelhaarig, seine Haut etwas rauh von all der Stärke, die damals die allgemeine Ernährung ausmachte - oder noch deutlicher, die neugierige Konzentration, beharrlich, oftmals begeistert, aber wie nur eine Laune oder eine momentane Erregung. Er nahm eine solche Rücksicht auf Dinge - auf mich, als ich ihn mit einem Freund, Ashley Bryan, besuchte. Wir trafen sie in Freiburg, wo sie, Rainer, seine Frau und die zwei Kinder, in einem Zimmer lebten. Sie überließen uns ihr Bett und schliefen auf dem Boden".
 
Das war schon Jahre später, das war nach seinem Tode geschrieben, und ich mühe mich, mir diese beiden jungen Leute lebendig werden zu lassen, die Anfang 1948 bei uns im Atelier auftauchten. RMG und Renate, die bald heirateten und in der Stadtstraße 7 eine Einzimmerwohnung fanden. 1949 und 1950 der Student Rainer Gerhardt, 1951 und 1952 der Schriftsteller Rainer Maria Gerhardt: mir scheint diese Änderung keine Nebensächlichkeit, eher eine Fanatisierung auf eine dichterische Bestimmung hin, die ihn früh verzehrte, von Begeisterung zu Begeisterung trieb, und von Depression in noch tiefere Depression stürzte. Wort, Musik, Malerei, Plastik, die damals zu neuer Bedeutung wachsenden Medien Film, Rundfunk, Fernsehen - alles bündelte er, versuchte es zum Werkzeug dessen zu machen, was er für notwendig hielt, weitergeben mußte. Es war ansteckend, in seiner Gegenwart zu leben, immer neue Namen, neue Wortbilder, Ablehnungen und Zustimmungen. Die Worte wurden bei ihm auf die Goldwaage gelegt, neue ungewohnte Metaphern kamen hervor. Junge Menschen scharten sich um ihn, er dominierte nicht, vertrat keine Richtung, aber das Ringen um das Wort, nach dem adäquaten Ausdruck mußte jeder Zuhörer neben noch so begabten Dritten heraushören. Mir schien er immer trunken von seinen eigenen Worten.
 
"die alte weise schreckt uns
alte töne verbraucht jähe lebendig
neue töne falb und grausam
mischen sich ziehen und ranken sich
durch das wüste land das abend land
wo die nachtfalter sich spannen
und feuer blackt rot in den samtenen nächten
und hölderlin sich nahet
süssem lied der hirtengott und
ähnliche seltsame dinge..."
 
Das geschah im kleinen Kreise in Freiburg, unter Menschen, die sich mehr zufällig begegnet waren. Aber da regte sich schon der Verleger, da wurde mit der Schreibmaschine vervielfältigt, so die "gedichte 1948", 13 Schreibmaschinenseiten, doch mit leeren Vorsatz- und Rückenblättern, in dünnem Papierumschlag mit Faden zum Buch gebunden, oder "Ein deutsch Weihnachtsspiel anno domini 1948" mit zwei Holzschnitten von Beate Kühn und einem von ihm selbst. Bei jeder seiner Arbeiten das Bestreben, dem geschriebenen Wort eine äußere Form zu geben. So sind diese rührend handgemachten Bücher schon Andeutung des in 25 Exemplaren auf Büttenpapier gedruckten "der tod des hamlet". Die Stadtstraße 7 war in den Jahren 1949/50 Tempel der Dichtkunst. Im kleinen Kreise lasen Mitarbeiter der "Fragmente", einer kleinen hektographierten Zeitschrift, die "blätter für freunde" benannt waren, je 10 zusammengeheftete Blätter. Sechs solcher Hefte kamen heraus, das sechste Heft, wenn die Widmung an mich stimmt, am 8.7.1950. Freunde zahlten die Blätter und schickten sie wieder an Freunde, und wenn sie an die richtige Adresse kamen, hatten sie eine größere Wirkung als eine komfortable Hochglanzzeitschrift. Diese Wirkung etwa erlebte ich bei Gottfried Denn und Egon Vietta, denen ich diese Blätter sandte. In den Briefen an Oelze schrieb Benn: "Auch aus dem Kreis von Werner in Freiburg erhielt ich einige seltsame Sachen von jungen Deutschen. Ich nenne es für mich: Phase II (nämlich des nachantiken Menschen), liegt in der Richtung von Montage-Mensch, Roboterstil; den Menschen giebt es gar nicht mehr, er wird zusammengesetzt aus Redensarten, verbrauchten Floskeln, ausgewetztem Sprachschatz, alles steht gewissermaßen in Anführungsstrichen - und das Seltsame ist: es wirkt auf Sie gewissermaßen echt..." (10.7.1949). Und mir schrieb er: "Nehmen Sie heute nur einen kurzen Gruß. In der Hauptsache, um Ihnen zu sagen, daß mich die Gedichte des Freiburger Kreises ungemein interessiert haben, ich empfinde in ihnen etwas ganz Modernes u. werde vielleicht Gelegenheit finden, dem demnächst öffentlich Ausdruck zu geben. Bitte bestellen Sie das den Unternehmern und Dichtern" (4.9.1949). Und in "Doppelleben" schreibt Benn dann: "...Bedarf größten tragischen Sinns, sonst nicht überzeugend. Aber wenn der Mann danach ist, dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikoschwitz sein und das Ganze ist doch ein Gedicht... (Namen: Perse, Auden, Comte de Lautreamont, Palinurus, Langston Hughes, Henry Miller, Elio Vittorini, Majakowski (ohne Bolschewismus), einige junge Deutsche aus dem Freiburger Kreis". Dabei wäre der Begriff "Frciburger Kreis", den Benn prägte, mit Vorsicht zu verwenden und nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen um Eberhard Meckcl, Kurt Heynicke, Ernst Sander, Bruno Berger, Gerhart Vanoli, Hans Daiber, Franz Schneller und andere. In dem "Freiburger Kreis" in der Stadtstraße aber, in diesem einen Zimmer, in dem später zwei Buben auf dem Boden krabbelten, habe ich viele Dichterlesungen gehört. Gerhardt und Claus Bremer als die Wortführer, aber es lasen auch andere, und der denkwürdigste Abend war der 22.11.1949. An diesem Abend fehlten die Schallplattcn, die die Lesungen sonst unterbrachen, etwa T.S. Eliot, der seinen Bernt Norton las, oder Flos Campi von Vaughan Williams für Orchester und Vokalchor, von der Filmmusik über Östlich-Sprituelles bis hin zum Kirchenchor. Sonst war das für rmg - wie er sich nannte - wichtiger Bestandteil seiner Dichtung. Er vervollständigte diese umfassende Wortwelt, in der griechische und lateinische, französische, englische und spanische Zitate lebendig wurden, wie auch Stellen aus Mythen und Beschwörungsformeln ozeanischer Kulturen. An diesem Abend in größerem Kreise - oder bringe ich hier zwei kurz aufeinanderfolgende Abende zusammen? - las Eberhard Meckel einige Gedichte, die in der Diskussion anerkannt, aber in durchaus positiver Beurteilung der provinziellen Dichtung zugesprochen wurden. Brav blieb auch Gerhard Kirchhoff. Mit Claus Bremer und Günter Freudenberg kam dann der Ton des Kreises der "Fragmente" ins Ohr. Gerhardt las Pound, Roethke und Renate Zacharias. Dann eigene Gedichte - und es war, als sei ein ganz anderes Medium Wort geworden. Die Diskussion wurde lebendig. Was ist Kriterium für Dichtung, wo ist ein Gedicht als gut oder schlecht zu bezeichnen? Der Literaturhistoriker Ruprecht meinte, der Literaturwissenschaft fehle ein solches Kriterium noch. Der Komponist Harald Genzmer sprach in der Musik von technischen Maßstäben für das Kriterium des Könnens. Am überraschendsten an diesem Abend der Philosoph Wilhelm Szilasi. Er fand die klarsten Formulierungen und stellte Dauer als Gegenteil der Monotonie heraus. Zu Gerhardts Gedichten sagte er, sie seien vollkommen, und er habe Angst vor dem Vollkommenen. Ich werde nie seinen letzten Satz vergessen: "Darf ich Ihnen etwas Schreckliches sagen: Ihre Gedichte sind schön". Dieser Mann war es denn auch, der als Mäzen rmg die Möglichkeit gab, seine ersten verlegerischen Versuche zu unternehmen, die Schriftenreihe der "Fragmente".
 
Das Leben rmg's wurde immer ruheloser. Ich weiß nicht, wann sie ihre Freiburgcr Wohnung aufgaben, einmal in Bühl bei Renates Eltern, einmal in Karlsruhe und dann wieder monatelang in einem Zelt lebten, Möbel und die wertvolle Bibliothek in einer Spedition einlagernd, die sie dann, um zu ihren Lagerkosten zu kommen, zu einem Schleuderpreis versteigern ließ. Denn es konnten schon Briefe auftauchen wie diese: die Portokasse ist leer, deshalb das lange Schweigen... Dieser geistige Reichtum, dieses Jonglieren zwischen Schreiben, Übersetzen und schmalen Einkünften daraus brachte die junge Familie an den Rand des Hungerns, und oft wußte niemand, wie schlecht es ihnen ging. Jedenfalls habe ich das Bild eines blassen, eingefallenen rmg stärker vor Augen als das eines wohlgenährten. So habe ich auch später keine Notizen von Abenden in der Stadtstraße 7, während sie eher einmal bei uns auftauchten, oft auch nur einer von ihnen, da die Kinder die Familie zusätzlich belasteten. Nur von einem Abend will ich noch reden. Das Studium Generale hatte 1952 einen Lyrikpreis für Studenten ausgeschrieben, an dem sich rmg nicht beteiligen konnte, da er nicht immatrikuliert war. Unter Hunderten von teils sehr banalen Einsendungen fand ich eine, die mich vor allen anderen elektrisierte. Bei der Prcisvcileihung am 24.7.1952 stellte sich ein Hans Magnus Enzensberger heraus, der auch den ersten Preis bekam, wohl sein erster für literarisches Schaffen. Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich ihn kennenlernte. Aber dann gelang es mir, ihn mit rmg und Claus Bremer zusammenzubringen. Das Datum des Abends kann ich nicht mehr feststellen, aber wie heute sehe ich den schönen H. M. Enzensberger mit gepflegtem Cäsarenhaarschmit und blauem, auffallend elegantem Pullover zwischen dem selbstbewußten Claus Bremer und rmg in unserer schrägen Dachwohnung sitzen. Bremer, als Schauspieler vorzüglicher Leser und Interpret seiner Lyrik, las einige "Dauergedichte", die in seiner Weise zu lesen schwer nachzuvollziehen war; Enzensberger las Lyrik, die dann teilweise in "Die Verteidigung der Wölfe" gedruckt wurde, und zum Ende rmg die mich immer bezaubernden, schlicht-schönen und stimmigen Verse. Es wurde viel diskutiert, und wenn die Lesenden sich an Einzelheiten festhakten, überlegte ich und holte manchmal einen Band aus der Reihe "Der Jüngste Tag" aus dem Regal, wo ich Ähnliches oder Anklingendes schon gelesen zu haben glaubte. Wenn sich auch beide füreinander interessierten, hat Enzensberger doch nie die Absicht gehabt, dem Kreis der "Fragmente" näher zu treten, Er suchte den arrivierten Verleger. In einem Brief vom Pfingstmontag 1951 schrieb er mir: "mir liegt allmählich sehr daran, daß meine Sachen gedruckt werden, und zwar nicht wegen des sogenannten ruhms, sondern einfach deshalb, weil das die vernünftigste art der vervielfältigung ist. ich bin des abschreibens für meinen gut gedeihenden leserkreis einfach leid, dafür hat man schließlich die druckpresse erfunden". Und so bleibt als letzte Erinnerung an diese Zeit Enzensbergers Gedicht für rmg "Tod eines Dichters": "...und dein Name, auf blanker Platte/ sich langsam läuternd/ zum Oxyd der Vergessenheit..."
 
Gibt es eine Biographie dieses rmg, von dem, in zwei schmalen Oktavbändchen "Umkreisung" und "der tod des hamlet" gesammelt, keine 50 Seiten Lyrik und nur wenige Seiten Prosa (als "Rundschau" der "Fragmente") im Druck erschienen sind, dazu einige Gedichte und Übersetzungen in den Rotaprintdrucken der "Fragmente"? Beide Lyrikbände zusammen mit 1100 Exemplaren, von denen der weitaus größere Teil nie ausgeliefert wurde? Die Lebensdaten sind schnell aufgezählt: Am 9.2.1927 in Karlsruhe geboren; dort durch Selbstmord am 27.7.1954 gestorben. Nach Angaben Dritter in der Hitlerjugend großgeworden, als Soldat in Jugoslawien zu den Truppen Titos desertiert. Nie habe ich ihn von seinem Vater oder seiner Mutter sprechen hören, nie etwas darüber in seinem Werk gefunden. Aber gern erzählte er von einem Wiener Onkel oder alten Freund, dem Komponisten Apostel, einem Freund Schönbergs. Oft spürte ich in den Gesprächen mit ihm dessen innere Nähe - das weiche, empfindsame Wesen des katholischen Österreichers, und fand auch in seinen Gedichten diese tiefverwurzelte Katholizität und die nicht zu leugnende Verwandtschaft mit Trakl, dessen Bildern und Stimmungen. Aber sonst schien er völlig frei von familiären Bindungen, umso verwurzelter aber in einer Landschaft, die eine mythische Sprachlandschaft war. Von ihr war er besessen, unter seinen Händen - lassen wir das Wort ruhig stehen - wurde alles zum Gedicht, voller Farben, Mythen, Rausch, Kühle und Glut in einem, Himmel und Hölle, Gold und Kot. Auf Kritik reagierte er mit einer überraschenden Empfindlichkeit, ihn zu verletzen bedurfte es nicht viel, sein Absolutheitsanspruch war außergewöhnlich. Zuweilen fühlte er sich als Verteidiger der Dichtung schlechthin und seine Ansprüche waren sehr hoch, seiner eigenen Dichtung wie auch seinen Übersetzungen gegenüber. In seinem Nachruf in der FAZ hat Alfred Andersch das richtig gesehen: "Der ebenso begabte wie gefährdete junge Mann hat sich für die Idee der Dichtung, und zwar die anspruchsvollste und schwierigste Dichtung der Moderne aller Länder, ins Zentrum des geistigen Lebens zu rücken, aufgeopfert". Und zu seinen ebenso wichtigen Übersetzungen weiter: "Das meiste, was Gerhardt edierte, hat er, zusammen mit seiner Frau, selbst übersetzt. Diese Übersetzungen werden immer umstritten sein, doch verrät ihre heftige, gejagte Diktion viel von dem Menschen Gerhardt".
 
Solche Übersetzungsfragen hat es immer gegeben. Ist nicht das traducere das Hinüberführen einer dichterischen (oder philosophischen) Sprache in die eines anderen Volkes? Ist nicht die Alfred Wolfenstein´sche Übersetzung Rimbauds trotz mancher Freiheiten adäquater als die sicher philologisch exaktere, aber schwunglosere Walther Küchlers? Sehr am Herzen lag rmg Ezra Pound, er hatte viel mit ihm korrespondiert, viel mit seiner Frau Renate, die wohl die bessere Anglistin war, übersetzt, war mit Pound befreundet. Dieser hatte auch die Patenschaft von Gerhardts zweitem Sohn Ezra übernommen und schickte dem Kind, auch über den Tod seines Vaters hinaus, zu jedem Geburtstag sein Patengeschenk. Er hatte rmg die Übersetzungsrechte gegeben, wie rmg schreibt; die ersten Übersetzungen ins Deutsche sind aus der Feder der Gerhardts. Ich höre noch den von ring oft vorgetragenen canto XIV: "… mit usura hat niemand ein haus aus gutem stein/ jeder block glatt geschnitten und wohl passend/ damit Zeichnung sein antlitz bedecke/ mit usura/ hat niemand ein gemalt paradies auf seiner kirchwand/ harpes et luthes/ oder wie eine jungfrau botschaft erhaelt/ mit Heiligenschein herstrahlt vom einschnitt..." - eine Versfolge von unbeschreiblicher Sprachschönheit. Damals war Niedermayer auf der Suche nach Pound-Rechten, da er einen Auswahlband herausbringen wollte, und wandte sich an mich, weil er in den "Fragmente"-Heften die Gerhardt'schen Übertragungen gelesen hatte. Mein Versuch, rmg und Renate diese Ubersetzungsmöglichkeit zu geben, endete nach zwei Jahren mit einem Mißerfolg. Der Limes-Verlag vermochte seine Übersetzungen nicht anzuerkennen, und als ich Gerhardt zu Zugeständnissen bewegen wollte, bekam ich mit Wörterbuchauszügen, die seine Version untermauerten, eine Abfuhr. In all diesen Fragen war der gerhardtsche Absolutheitsanspruch jedem diplomatischen Handeln abhold. Und er verdarb sich viele Möglichkeiten. So schrieb er etwa nach der positiven Reaktion Benns auf die "Fragmente" in deren erstem gedruckten Heft zustimmend über Benns "Ausdruckswelt", um dann nach seiner Empfehlung, Benn möge sich die Gedichte von James Joyce ansehen, da könne er seinen eigenen Vers wiedererkennen, nur bescheidener und schöner", die "Statischen Gedichte" zu verreißen, und zwar vollständig: "die spräche erhält nicht den räum, sie selbst zu sein, sie ist eingeengt und mit exotischen glanzlichtern verschen. Der vers ist keine Weiterentwicklung und bringt innerhalb der dichtung nichts neues. Es sind schöne gedichte. Aber schöne gcdichte haben für uns keine bedeutung. Sie genügen nicht... Benn hat in ,Stil der Zukunft' gesagt, was notwendig ist. Warum tut er es nicht?" Und das schickte rmg an Benn mit der, wie dieser an E. R. Curtius schreibt, "überaus törichten Inschrift": "Hoffentlich sind Sie mir nicht allzu böse". Leider ist die Benn'sche Folgerung eingetroffen: "nein, ich bin ihm nicht böse, nur fürchte ich, daß er nicht weit kommt".
 
Die Tragik des Falles Gerhardt scheint mir zu sein, daß er um jeden Preis mit dem Kopf durch die Wand wollte, im Blickwinkel heutiger psychoanalytischer Literaturbetrachtung vielleicht ein spätpubertärer Zug. Was er nur an kritisierender Beurteilung in die Hand bekam, reizte ihn zu umfangreichen Antworten, wie ihn Anfang 1950 eine kritische Auseinandersetzung Joachim Fests mit einem der kleinen "Fragmente"-Hefte, die ich ihn lesen ließ, zu einem dreiseitigen Schreibmaschinenbrief veranlaßte, in dem er Fest Dichtungsfeindlichkeit unterstellte, da "maßstäbe an das dichtwerk herangetragen (werden), die nicht in diesem selbst liegen, sondern von anderen gebieten übernommen sind. Mit dichtungsfeindlichen maßstäben dürfte aber schwerlich dichtung zu messen sein". Oder: Der Südwestfunk mußte sich im gleichen Jahr nach Rücksendung von Arbeiten des "Fragmente"-Kreises und Andeutungen einer falschen Benn-Interpretation durch den Kreis sagen lassen: "Es ist so viel über Benn gesprochen worden, gerade über den rundfunk, aber es ist furchtbar zu sehen, daß diese ganzen intellektuellen - die negativen, verzeihen sie diese schärfe - überhaupt keine ahnung von der sache haben. Sie wissen nicht, um was es geht, weder bei Benn noch anderswo. Es ist ein sehr schlechtes zeichen, wenn über alle deutschen funkstationen das gleiche, vollkommen falsch verstandene gesendet wird. Das zeigt, daß niemand - sie werden darüber entsetzt sein - aus jener publizistenschicht eine ahnung von zeitgenössischer dichtung und ihren problemen besitzt, ganz zu schweigen davon, daß wohl niemand - mit ausnahme der modegrößen (auden) - ausländische dichtung kennt. Denn allein von dorther läßt sich feststellen, wo heute dichtung steht oder nicht steht". Zum Schluß stellt Gerhardt dann fest: "Mein brief ist albern, gewiß, denn das läßt sich alles nicht sagen, entweder man hat es oder man hat es nicht. Leider hat es fast niemand. Aber das getue mit ,unseren dichtern´ ist zu gewaltig und dieses scheunengeflüster dieser hinterhofallerseelenpoeten zu penetrant, als daß man schweigen könnte. Ja, jede waschfrau ein Goethe - nichts gegen die waschfrau -, jeder gymnasiast ein Eichendorff, jeder schullehrer ein grieche und jeder junge backfisch - auch die älteren eingeschlossen - ein Rilke. Alles ist vorhanden, nur kein geschmack. Ein volk der dichter und denker! Und die wenigen, die vorhanden sind, müssen schweigen, oder müssen in jener art schweigen, in der sie schreien sollten, beziehungsweise man sie schreien lassen sollte. Sie werden verleugnet und verschwiegen".
 
Über diesen kleinen Kreis der Verschworenen, über diese "Flüsterpropaganda" durch die Versendung der im Rotaprintverfahren hergestellten ersten sechs Heftchen der "Fragmente" hinaus kam rmg erst, als die "Fragmente" als "Internationale Revue für moderne Dichtung" im Sommer 1951 im Druck vorlagen. Bezeichnend für sein Anliegen, Dichtung zu fördern, ist die Tatsache, daß er in diesem ersten Heft selber nur als Übersetzer in Erscheinung trat. Dafür bestritt er als Kritiker die lose Beilage "Rundschau der Fragmente" - im zweiten und auch letzten Heft fehlte diese Beilage, aber er druckte dort ein eigenes Gedicht ab. Dieses erste Heft gab er mir nur zögernd nach Erscheinen. Er wußte, daß ich die Kritik an Benns "Statischen Gedichten" nicht gutheißen konnte und ahnte eine Verstimmung. Darüber hinaus hatte ich versucht, ihn zur Geduld zu ermahnen, auf billigere Vervielfältigungsart seine Arbeit fortzusetzen und eben doch einen Verleger zu finden. Seine finanziellen Verhältnisse waren so trostlos, daß eigene Verlagstätigkeit, die eben Kapital erfordert, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Wesentlichster Erfolg dieses gedruckten Heftes der "Fragmente" war zweifellos die umfangreiche Kritik des angesehenen Romanisten Ernst Robert Curtius in der Schweizer "Tat" vom 2l. Juli 1951. Und wie gut kannte Curtius die Schwierigkeiten des Unternehmens, daß er am Anfang seiner sehr positiven Besprechung das schweizer Mäzenatentum zur Unterstützung dieser Zeitschrift aufforderte - "Denn moderne Dichtung, wie sie hier gemeint ist, braucht Mäzene. Je demokratischer ein Gemeinwesen, umso dringlicher ist die Neubelebung des Mäzenats. Das ist eine Feststellung soziologischer Art, die leicht evident zu machen wäre". Nach einer erfreulich sachlich-wohlmeinenden Kritik schließt Curtius: "Seit der Menschheitsdämmerung von Pinthus ist mir keine so erfrischende modernistische Manifestation vorgekommen wie das vorliegende Heft. Es ist zu hoffen, daß sich genügend Interesse zeigen werde, damit ein Unternehmen wie ‚Fragmente´ sein Leben fristen kann. Die Feindschaft dagegen ist natürlich schon rege". Die Realität sah anders aus: Nach dieser ersten "erfrischenden, modernistischen Manifestation" nach 30 Jahren konnte gerade noch Heft 2 erscheinen und drei Jahre später steckte der von seinen Druckschulden gequälte Verleger seinen Kopf in den Gasofen. Jahre später die Legendenbildung, etwa in der Version Horst Bieneks, der in den "Akzenten" Gerhardts Tod nach Berlin verlegte und 1987 in seinen "Münchner Poetikvorlesungen" bemerkte: "Im ,Lot´ las ich zum ersten Mal die Gedichte eines verrückten Amerikaners, Ezra Pound, der in einem Washingtoner Irrenhaus eingesperrt war, übertragen von dem blutjungen Dichter Rainer M. Gerhardt, der ebenfalls verrückt wurde und Selbstmord beging, nicht einmal dreißig Jahre alt. Was sollte nan danach noch dichten? Surrealistisch, natürlich. Das bedeutete für uns nicht nur Literatur, - das war auch Leben!". Auf der anderen Seite rätselten Kommentatoren Arno Schmidts an dem Satz aus "Tina oder Über die Unsterblichkeit": "Dabei kamen sie vom Schichtunterricht was'n Wort wieder!: Rainer M. Gerhardt bitt für uns)": da sollte "Rainer M." für Rilke und "Gerhardt" für Paul Gerhardt stehen, bis ein anderer auf die "Rundschau" der "Fragmente" hinwies, wo rmg schreibt: "Es scheint, als ob im deutschen sprachraum ein Schriftsteller auftreten würde, der einige neue elemente der sprache einführen und die ergebnisse des expressionismus verwerten wird. Den versuchen dieses mannes ist die größte aufmerksamkeit zu widmen, es scheint, daß aus seiner feder neben Benn und Curtius der einzige wesentliche beitrag zur gegenwärtigen literatur erfolgen wird: Arno Schmidt".
 
Eines stellt auf jeden Fall fest - an rmg konnte man nicht vorbei, wenn man einmal auf ihn gestoßen war und das geringste Gespür für Dichtung hatte. Die Ursprünglichkeit seines Werkes, seine Dichte und Faszination hat auch heute, nach 40 Jahren, nichts von seiner Wirkung eingebüßt. Es ist schon tragisch gewesen, wie rmg die letzten drei Lebensjahre von seinem Verlegersein und den völlig unzureichenden Voraussetzungen aufgebraucht wurde, daß er keinen dauernden Wohnsitz hatte und viel unterwegs war. Wenn ich ihn in großen Intervallen wiedersah, wenn er aus Karlsruhe, Paris oder der Provence kam - die Treffen in der Stadtstraße waren vorbei. Wir konnten uns nicht mehr bei ihm treffen, und ich glaube, auch die Besuche bei uns standen oft unter dem Unstern des Gehetztseins. Jede Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen, mußte er nützen, und doch sind auch Radiosendungen selten gewesen. Die wichtigste scheint mir "Die maer von der Musa Nihilistica" zu sein, die der Hessische Rundfunk im November 1952 sendete. Da ist die Haltung dieser Gruppe der "Fragmente" - und das ist im wesentlichen rmg selber - beschrieben: "Ihre Bemühung ist es, an Sprache zu arbeiten und die größtmögliche Sauberkeit der Mittel zu erreichen. Sie versuchen einen neuen Stil zu entwickeln, den Montagestil, und auf dem Weg zu active writing das Gedicht mit Emotionen zu erlassen. Das Gedicht selbst soll eine emotionale Kraft sein. Vielleicht führt eine andere Versuchsweise zu Ergebnissen in einer anderen Dichtung. Publikum und Kritiker sind gewöhnt zu erzählen oder erzählt zu bekommen, daß bei fortschreitender Differenzierung der Mittel die Isolation des Poeten eine immer vollständigere wäre. Die an der Sache arbeitenden Poeten sind aber der Meinung, daß fortschreitende Differenzierung nicht Hindernis auf dem Wege zur Verständigung und Vorbereitung moderner Dichtung zu sein braucht, gelingt es, wie die Arbeitshypothese sagt, ein unmittelbares Gespräch zweier oder mehrerer Poeten zu erreichen". Gerhardt führt als Beispiel das poeme collectif von Claus Bremer und rmg an.
 
Im Vorwort zu einer "Auswahl neuerer Gedichte", auf die er viel Zeit verwandte und die dann doch nicht zustandekam, schrieb rmg: "Ein gedicht soll kraft zum leben geben, heute, es mag in anderen Situationen anders sein, aber heute, da die grossen der erde mit den ängsten der menschen spekulieren und auf ihren nöten ihre verbrecherischen pläne aufbauen, ist es eine aufgabe der dichter, eine atmosphäre von klarheit und lebendigkeit zu schaffen, den grossen den grund ihrer greuel aus der hand zu winden, die grosse waffe (die angst) mit der die regierungen ihre völker schrecken, um sich so die vollmachten für ihre ungeheuere willkür in die hände zu spielen. Die lebendigkeit wird aller willkür entgegentreten, sicher in ihrer kraft, der ängstliche aber wird schutz suchen im fell der natter.
 
Es scheint, als ob nach jahren der Stagnation das neue blut sich regen würde, und eine neue entwicklung ihren anfang nähme. Es scheint, als ob die zeit der resignation und der totengesänge so nicht vorüber, so doch nicht ausschliesslich mehr wäre. Eine neue aktivität bahnt sich an, neue dichter sind nach diesem kriege heraufgestiegen mit neuen tönen. Europa hat seine ohren verschlossen, aber es wird und muss sie öffnen. Die mär von der Musa Nihilistica trifft diese dichter nicht. Für sie hat die welt und das leben nie aufgehört, eine gewaltige kraft zu sein. Ich glaube, dass es den einfallslosen literaten überlassen werden sollte, das nichts zu besingen, das allerdings nicht sehr ergiebig ist. Sie werden sich bald dem Heiligen zuwenden, das raum genug besitzt, noch einige 10.000 poeten in seinen bereichen wandeln zu lassen, und reich genug ist, ihnen eine literarische lebensrente zu gewähren. Es gibt ein wagnis, heute, wie es immer ein wagnis gab. Wer ohren hat, der höre."
 
Theorie und Kritik waren nicht das wesentliche Anliegen rmg's. Sein eigenes lyrisches und erzählerisches Werk lag ihm besonders am Herzen.Und die Mühe und Exaktheit, die er darauf verwendete, zeigen die vielen Fassungen von "der tod des hamlet". Dieses als ein Gedicht genommen, sind bei Lebzeiten ganze elf Gedichte im Druck und fünf in den kleinen, im Rotaprintverfahren hergestellten "Fragmente"-Heften erschienen. Mehr schon von seinen Übersetzungen moderner amerikanischer und französischer Lyrik, die er mit seiner Frau anfertigte, und die unter beider Namen erschienen. So blieb ein wichtiges lyrisches Werk, denn auch die Prosaversuche sind als ein solches anzusehen, ungedruckt. Wer kennt schon rmg's
 
Selbstbildnis mit rotem Schal
 
I
 
ein netz aus feuer     macht die nacht schweigen
die sirenen haben     ein ander gesicht
sie werden uns heimsuchen
 
               falter aus glas und samt
               die trommeln den schlaf hüten
ich habe ein rotes auge aufleuchten sehen
 
das dreieck der wand ist voller richtpfeiler
ein goldenes tablett wird die mitte der weit sein
alle gefährte enden hier
ein grosses horn ist dem schlaf gegeben
 
ein netz aus feuer       macht die nacht schweigen
ein netz aus feuer       macht den bogen schwirren
es hat die hand bewegt
               eine musik zu schreiben
 
               stroh in den haaren
auf den nägeln       ein bergwerk kobalt
rubin und rotbeersaft
               eine grube unter deinen augen
sie haben die flöte tönen machen
sie haben die hand bewegt
               eine musik zu schreiben
 
ein goldenes tablett       wird die mitte der welt sein
ich habe ein rotes auge aufleuchten sehen
es hat alle glieder entzückt
               aufrecht zu gehen
es hat alle glieder entzückt
               in schlaf zu fallen
ein netz aus feuer       macht den schlaf wachen
 
II

am mittag des zwölften Septembers wurde die
sonne rot. die geschichtsschreiber haben
nichts anderes zu berichten, der riegel
war geöffnet, man sah sehr grosse tiere
durch die Stadt gehen
 
          oder:
 
Gesang der Jünglinge im Feuerofen

wir haben eine zeit errichtet
staub über feldern
 
es schabt der ratte fuß da
braun das gestein in der sonne
in fremden armen die dirnen
und die schreie der nötigung
hallen durch die verdorbene stadt
 
"an den flüssen babylons saß ich nieder und weinte"
und es stießen sperlinge, schmerzen,
mir tief in das ohr,
"die züge seh ich, seh die scharn sich nahn
über die endlosen ebnen"
 
               was hab ich gegen dieses aufzurichten
               was hab ich gegen dieses aufzurichten
               was hab ich gegen dieses aufzurichten
               sonne im antlitz und wind im haar
 
und der taube singsang über den hügeln
des weizens neige, golden das kornfeld
die grüne sichel des monds, pupurne himmel
und die rote sonne in bleichem gesträuch
 
               was hab ich gegen dieses aufzurichten
 
die zeit, die heute sich an uns verdirbt
ist niemals hier, was morgen uns an grauen wird
es zählet nicht, was ist erinnerung
 
               sonne im antlitz und wind im haar
 
ich habe den atem nicht und die toten sonnen stinken gen himmel
verwesung treibt uns dahin
verfallene straßen
mauern gewebt durch vergänglichkeit
städte gebaut in vergänglichkeit
wer soll die stunden noch zählen unter den sternen
wer trägt noch die frucht vom dürren feld
verfallene straßen
nirgends nach nirgends
straßen nach nirgends
 
               sonne im antlitz und wind im haar
 
       Oder wer vermag sich Versen zu entziehen wie diesen:
 
"mein vers ist weiß von hekuba
von rost ist meine trän
die wasser tief im wellenbaum
von wasser sind die wellen blind
               in wispern verschied sie..."
 
Oder:
 
"du bist aufgerufen, draußen erwarten dich drei
folg ihnen, folg ihnen, bald ist der sturmwind vorbei
draußen wartet ein tor, schwarzes eisengcflecht
grausame tulpen, rot und brennend und schlecht
böse im grund, gut im oberen schein
und der eule schwing läutet den abend ein
fahl das grün über versunkenem beet
wo ein toter im fauligen hemde steht
steinzeitmensch
urzeitmensch
mensch mit drähten und antennen ..."
 
So beginnt die "elegie 49". Auch die wenigen vorliegenden Prosaversuche haben eine lyrische Sprache, so der "Kleine Roman", von dem ich (wohl anfängliche) Versuche besitze - eine Mischung aus Christi-Geburt-Erzählung und Gegenwarts-Aspektcn dieses Geschehens. Es heißt da am Anfang: "Im namen des vaters und des sohnes und des geistes. Da der herr ausging, geschah dieses: vielblättriger sturmschrei. Zahnloser himmel. Schatten schwer über dem uferland, da wo die nacht beginnt, so zwischen verschiedenen stunden am abend, wenn die mäher müde kehren und die braunen pferde langsam mit den köpfen nicken, friedliche rauche in den zerrissenen wind treiben und häupter und hände sich sorgsam um die gelben tische versammeln. Im späten abend in irgendeinem august. Da schreiten mondschein und sternglanz, zwei ganz vergessene gestalten, als vorhut heraus aus dem nachmittag. Sie sind zu hause im dunkeln, wo ein einzelner ast manchmal in der schwärze aufblüht oder ein muhmann dort hinter gespenstischen weiden ..."
 
"ich war nicht in der nähe, als es geschah, und mein hirn kreist immer nur um den gedanken, mit was, welcher angst, welcher verzweiflung oder welcher ruhe seine letzten minuten angefüllt gewesen sein mochten. Sein gesicht war ruhig, um keinen deut anders als es immer aussah, wenn er schlief, ohne kampf, ohne den ausdruck von irgendeiner Verzweiflung, reiner schlaf, wonach er sich immer so sehnte, ein nirwana", schrieb Renate in dem Brief, in dem sie uns rmg's Tod mitteilte. Und was nun? Ich muß immer an Walter Calé denken, der auch so tragisch endete im hiesigen Raum, und dessen "Nachgelassene Schriften" herauskamen und um die Jahrhundertwende die literarische Öffentlichkeit beschäftigten. Wie ungleich weiter reichte die literarische Wirkung von rmg! Walter Höllerer machte 1961 durch seinen "Brief an Crecley und Olson" in "Junge amerikanische Lyrik" auf ihn aufmerksam. Klaus Reichert stellte in den Arbeiten über beide Dichter immer wieder die Bedeutung rmg's heraus. Und ich finde in aller Literatur über diese Dichter Hinweise auf Gerhardt. Helmut Salzinger und Michael Braun, um nur noch diese Namen zu nennen, haben besonders mit der Zeitschrift "Falk" versucht, das Vergessen aufzuhalten. Stefan Hyner hat in Amerika, von allen Beteiligten unterstützt, mehr Material zusammengetragen als irgendjemand in Deutschland, und so ist die vierteilige Dokumentation "Leben wir eben ein wenig weiter" von 1988 mehr englisch- als deutschsprachig. Aber was ist eine Verbreitung von 200 Exemplaren? Die Erben haben bisher alle Initiativen zugunsten Gerhardts verhindert, auch die des für eine Herausgabe so prädestinierten Uwe Pörksen. Dabei leben noch einige der Freunde aus dieser Zeit, Dichter und Maler. 1959 scheiterte der erste Versuch Claus Bremers, da die Stiefmutter das ausgeschlagene Erbe angetreten hatte; Mitte 1964 erbat Renate Gerhardt mein Material und gab es Anfang 1965 zurück. Dann hörte ich nichts bis zu der Mitteilung von 1972, sie habe die Gedichte zur Edition vorbereitet und sei daran, eine Monographie über den "Fragmente"-Kreis zu schreiben. Es sind 20 Jahre vergangen; ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Aber in der letzten Auflage von "Wer ist wer?" finde ich in den umfangreichen Angaben über sie all die Namen des Programms von rmg, wobei es durchaus legitim ist, daß sie ihre frühe Übersetzertätigkeit dieser heute bekannten Autoren herausstellt. Aber es war doch eine gemeinsame Übersetzerarbeit und wo bleibt er dabei, rmg? Er, der auf einen Brief an Olson von diesem einmal die folgende Antwort bekam:
 
"an gerhardt, dort, inmitten der Dinge Europas/ von denen er an uns geschrieben hat in seinem ‚Brief an Creeley und Olson' so hart angepackt/ von diesem jüngst gekommenen Bärensohn/ porzellan ist keins kaputt,/ doch auch kein lächeln in meinem mund..." - und es folgt ein großes, langes Gedicht voller Ermahnungen und Bedenken, und jeder spürt die Verwandtschaft dichterischer Aussagen. Und derselbe Olson schrieb bei der Nachricht von rmg's Tod: "Rainer/ der mann der im begriff war seinen 52. geburtstag zu begehen/ am Tag an dein ich von Deinem Tod erfuhr, mit 28, sagte:/ ,Ich bin hingestreckt auf Dionysos' Zunge'!/ Deine Art zu sprechen, und meine/ verbessernd - da ich diesen anderen Deutschen mißverstand,/ wegen des Akzents, und weil ich an Dich dachte,/ und davon sprach, wie du uns allen Gehör verschafftest!/ in deutschland (wie ich einen Salamander beobachte auf der Spitze eines trockenen Kiefernzweigs/ der Fliegen fängt), was ich diesen Mann - beinahe doppelt so alt wie Du sagen hörte, war/ ,ich bin hingestreckt auf eines Dinosauriers Zunge'!"
 
In diesem erschütternd schönen Gedicht, das noch einmal das Leben des jungen Dichterfreundes aufrollt, schreibt Olson an anderer Stelle: "Rainer, der Thyrsus/ ist ab// Ich kann jetzt/ nichts mehr/ in Deine Hände legen// Es hat keinen Zweck/ daß ich versuch/ Dich zu wappnen// Ich kann nur Lorbeer/ und rote Blumen tragen/ nur Andenken, kann nicht// ein Ruder schneiden mit meinem eigenen Muster/ für Dich, letzten Dichter// Du bist nirgends/ als in der Erde" - und Olsons Gedicht endet so: "Es war Dein Verdienst zu wissen/ daß wir aufsteigen müssen/ O daß die Erde/ Dir so/ gegeben werden mußte!// O Rainer, ruh/ im falschen Frieden// Laß uns die wir leben/ versuchen".
 
Diese Wiederbegegnung mit rmg - sie ist für mich eine schmerzlichschöne Erinnerung. Er ist der ewige Jüngling geblieben, seine Verse haben nichts vom ersten Schmelz verloren. Am 10.7.1954 bekam ich von ihm die letzte Postkarte aus roter Pappe: " ... stecke wie seit jahren nicht mehr in vernünftiger arbeit, und wird bis zum herbst einiges vernünftige dabei herauskommen. Hole so ziemlich alles wieder auf ... alles gute und schöne tage in der provence der wirklich und einzig heißgeliebten". Hier war er mit Creeley zusammen, hierher wollte er ziehen. Ich wanderte im Var-Tal, als er sich am 27.7.1954 das Leben nahm. Wäre es nicht an der Zeit, daß "einiges vernünftige" endlich herauskäme?
 

Allmende 32/33 12. Jahrgang 1992 Elster Verlag Baden-Baden.



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