NACHRICHTEN VON BÜCHERN UND MENSCHEN   #6


Was Sie noch nie interessiert hat,
und was Sie auch noch nie wissen wollten:
Hier erfahren Sie es bestimmt nicht!
| zurück | 29. 05. 2010 | - - - |




CAMILLE UND IHR SPIEGELBILD
 
Robert Linhart: (alias Godard) Das letzte Mal haben wir darüber geredet, daß, als du dich ausgezogen hast, oder gerade vorhin, als du dich auszogst, du dich manchmal im Spiegel siehst.
Camille: Ja.
Robert Linhart: Und wer war das, den du sahst?
Camille: Mein Bild.
Robert Linhart: Dein Bild. Und dein Bild, bist du das oder ist es jemand anderer?
Camille: Das bin ich.
Robert Linhart: Und dieses ich, das du siehst, hat das auch eine Existenz?
Camille: Ja, weil ich es bin, der mich in dem Spiegel dort betrachtet.
Robert Linhart: Ja, aber das Bild, hat das auch eine Existenz?
Camille: Ja.
Robert Linhart: Das ist, als ob du zwei Existenzen hättest?
Camille: Vielleicht.
Robert Linhart: Und das letzte Mal sagtest du, daß du nur eine einzige habest, und dann, daß das Bild keine Existenz habe. Daß du nicht doppelt seist.
Camille: Aber das da, das ist nicht doppelt.
Robert Linhart: Es ist nicht doppelt? Aber das andere gleicht dir dennoch aufs Haar.
Camille: Ja.
Robert Linhart: Und wenn es zweimal die gleiche Sache ist, sagt man dann nicht, daß es ein Doppel ist?
Camille: Doch, aber ... wenn es keinen Spiegel gäbe, wäre ich nicht doppelt.
Robert Linhart: Aber es gibt einen.
Camille: Ja, aber ich bin trotzdem nicht doppelt.
Robert Linhart: Aber manchmal gibt es Spiegel, die nicht so gut sind. Deine Mutter zum Beispiel sieht dich dann nicht.
Camille: Ja.
Robert Linhart: Aber sie weiß, daß du existierst.
Camille: Ja.
Robert Linhart: Warum? Ist es, weil sie ein Bild von dir in ihrem Kopf hat, so wie ein Spiegel?
Camille: Nein.
Robert Linhart: Also für deine Mutter existierst du nicht in diesem Moment?
Camille: Doch, aber es ist kein Spiegel.
Robert Linhart: Nein, es ist kein Spiegel, aber es ist trotzdem eine Existenz.
Camille: Nein.
Robert Linhart: Also bist du doch wohl doppelt; du bist doch sowohl dort, als auch vielleicht bei deiner Mutter. Und vielleicht mit mir oder mit einem Haufen Leute zusammen, oder du bist mehr als doppelt, du bist dreifach.
Camille: Aber wenn man hinsieht, bin ich ganz allein.
Robert Linhart: Würdest du eher sagen: ein Bild von dir, oder dein Bild, wenn du dich in einem Spiegel siehst, oder wenn du Fotos ansiehst?
Camille: Es ist mein Bild, es ist ...
Robert Linhart: Aber würdest du eher sagen: ein Bild von dir, oder dein Bild?
Camille: Mein Bild.
Robert Linhart: Und würdest du auch sagen, daß ein Bild mit dir ist? Würdest du nicht das Wort <mit> gebrauchen?
Camille: Nein.
Robert Linhart: Gut. Daß ein Bild von dir, denkst du, daß das keine Existenz hat, in Bezug zu dir. Du, du hast eine, aber nicht dein Bild.
Camille: Doch, aber wenn ich mich im Spiegel betrachte, bin ich im Spiegel, das ist nicht jemand, der existiert.
Robert Linhart: Das ist nicht jemand, der existiert?
Camille: Doch, doch, aber im Spiegel ...
Robert Linhart: Im Spiegel, das existiert nicht.
Camille: Nein.
Robert Linhart: Aber zum Beispiel: die Leute, die dich in diesem Moment im Fernsehen sehen, sie werden ein Bild von einem kleinen Mädchen sehen. Glaubst du, daß, von diesem Bild des kleinen Mädchens, sie denken werden, daß es ein wirkliches kleines Mädchen ist oder daß es ein kleines Mädchen ist, das keine Existenz hat?
Camille: Ein wirkliches.
Robert Linhart: Ein wirkliches? Und doch, sie werden dich nicht in Wirklichkeit sehen, sie werden ein Bild sehen.
Camille: Ja.
Robert Linhart: Also hat dieses Bild Existenz, da du mit ihnen einverstanden bist, daß, wenn sie dein Bild sehen, sie sagen werden: das ist ein wirkliches kleines Mädchen; und doch, sie werden dich nicht berühren können, aber denken, daß das ein wirkliches kleines Mädchen ist. Ist es so, daß das Bild ein Objekt ist wie ein Bett oder etwas anderes, ein bißchen?
Sprecher: Sie bewegt sich fast nicht, ein wenig erschlagen von ihrer Tagesarbeit, und er fährt fort, sie zu betrachten. Im Gegensatz'zu dem, was man sich einbilden mag, glaube ich nicht,'daß er ein Bild von ihr erhalten will, noch einen Ton. Ganz einfach, er läßt ein Signal los, und er erwartet die Stimme dessen, was passiert, wenn das Signal sie durchquert, sie, wenn sie dieses Signal reflektiert. Oft ist es nicht das, was sie durchquert.
Jean-Luc Godard: aus France Tour Détour Deux Enfants, Premier Mouvement.


 
[Doch] 30 Jahre später :

VIENNALE - TRAILER 2008: UNE CATASTROPHE
Der diesjährige Festival-Trailer Une catastrophe wurde vom Regisseur Jean-Luc Godard realisiert und läuft ab 18. September österreichweit in über 100 ausgewählten Kinos und wird während der Viennale von 17.-29. Oktober wiederholt im Programm des Festivals zu sehen sein.
Um sichtbar zu machen, wie Geschichte funktioniert und warum die Menschheit, zum Schönen begabt, so bereitwillig an der (unschönen) eigenen Abschaffung arbeitet, muss man nur kurz die Perspektive wechseln. Das ist Jean-Luc Godards Trick: Er kann die Politik von der Kunst nicht trennen, weil er das eine im anderen wiedererkennt. Er zeigt, dass Hawks mit Marx zu tun hat und die Shoah mit Bach. Une catastrophe, Godards Trailer für die Viennale 2008, ist – in diesem Sinne – erneut eine Arbeit äußerster Verdichtung, dabei aber völlig abgeklärt, als verfügte sie über alle Zeit der Welt: Gehalten im Stil des Godard’schen Opus magnum, der Histoire(s) du cinéma, führt die kunst- und filmhistorische Mini-Assemblage von einem dramatischen Augenblick aus Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925) über giftfarbene Videokriegsbilder zu einer in Superzeitlupe zerdehnten Kussszene aus der berühmten Berlin-Romanze Menschen am Sonntag (1929) Im Ton dazu: das Stöhnen auf- und zuschlagender Tennisspielerinnen, ein plattdeutsches Liebesgedicht («Dat du min Leevsten büst») und der Beginn aus Robert Schumanns Klavierzyklus «Kinderszenen». Une catastrophe ist resignativ, aber nicht ganz ohne Hoffnung: Die Liebe ist, vom Krieg aus gesehen, über die Abwege der Kunst in 63 Sekunden zu erreichen. (Stefan Grissemann)

Sehen Sie den Film hier : godard : une catastrophe

Jean-Luc Godard’s Une catastrophe
In what is quite a coup for the Viennale, Vienna’s film festival, Jean-Luc Godard came out of semi-retirement to make a trailer for the festival, his first film work since 2006. Entitled Une catastrophe, it runs for just sixty-three seconds, but it is hereby claimed for the silent film community because it makes use of Battleship Potemkin and People on Sunday. The film opens with the over-famous Odessa Steps sequence from Potemkin, accompanied probably for the first time by the sounds of a tennis match.
Then, following a shot of an agonised man with a knife (from what film?) and gaudy colour footage of war, we get a slowed-down, stop-start sequences of two lovers from People on Sunday (Menschen am Sonntag), Edgar G. Ulmer, Fred Zinnemann and Billy Wilder’s exquisite 1930 drama with a Berlin documentary background. Throw in some fractured titles, snatches of Schumann’s “Scenes from Childhood”, and an eighteenth century poem in Low German, and you have a mightily rich concoction for your sixty-three seconds.
Love, death, guns, music, language, iconography, montage. Histoire(s) du cinéma, indeed.

 

Zwei Jahre später:

A symphony in three movements
THINGS SUCH AS:
A Mediterranean cruise. Numerous conversations, in numerous languages, between the passengers, almost all of whom are on holiday...
OUR EUROPE
At night, a sister and her younger brother have summoned their parents to appear before the court of their childhood. The children demand serious explanations of the themes of Liberty, Equality and Fraternity.
OUR HUMANITIES
Visits to six sites of true or false myths: Egypt, Palestine, Odessa, Hellas, Naples and Barcelona.

Der von der Zürcher Firma Vega Film produzierte «Film Socialisme» kreist bei einer Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer um Fragen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und um Legenden der Menschheit. (Swiss Films)

ändere nichts
damit alles anders ist
 
du wirst nicht alle Seiten der Dinge zeigen
bewahre dir einen Rest an Unbestimmbarem
 
ich bin allein
scheint der Gegenstand zu sagen
also
von einer Notwendigkeit erfaßt
gegen die
ihr nichts ausrichtet
 
wenn ich nur bin
was ich bin
bin ich unzerstörbar
inden ich bin, was ich bin
und ohne Vorbehalt
kennt meine Einsamkeit die eure
 
es sind nun fast fünfzig Jahre
daß sich die Kinogänger in der Schwärze
der verdunkelten Säle
am Imaginären erhitzen
um wieder warm zu werden vom Realen
dieses rächt sich jetzt
und will echte Tränen
und echtes Blut
 
abgesehen davon ist das Kino eine Industrie
und wenn der Erste Weltkrieg
dem amerikanischen Kino erlaubt hatte
das französische Kino zu ruinieren
sollte der Zweite mit der Entstehung des Fernsehens
ihm erlauben, das gesamte europäische Kino
zu finanzieren, das heißt zu ruinieren
 
aber zunächst geht es mir um die eigene
um meine Geschichte
was habe ich mit all dem zu schaffen
mit all dieser Helligkeit
mit all dieser Dunkelheit
manchmal am Abend
 
manchmal am Abend flüstert jemand
in meinem Zimmer
ich schalte den Fernseher aus
aber das Flüstern hört nicht auf
 
ist es der Wind
oder sind es meine Vorfahren
 
Geschichte der Einsamkeit
Einsamkeit der Geschichte
 
wenn ein Bild
für sich betrachtet
etwas klar ausdrückt
wenn es eine Interpretation enthält
wird es sich nicht
durch den Kontakt mit anderen Bildern verwandeln
die anderen Bilder werden keine Macht über sie haben
und es wird keine Macht über die anderen Bilder haben
weder Aktion noch Reaktion
es ist endgültig und nicht weiter verwendbar
im System des Kinematographen
 
das soll heißten
daß das Kino niemals eine Kunst gewesen ist
und noch weniger eine Technik
 
o Tod
alter Kapitän
es ist Zeit
laß uns die Anker lichten
dieses Land ödet uns an
o Tod
laß uns aufbrechen
wenn Himmel und Meer
schwarz wie Tinte sind
unsere Herzen
die du kennst
sind mit Strahlen gefüllt
 
kann man die Zeit erzählen
die Zeit für sich
Geschichte der Einsamkeit
Einsamkeit der Geschichte

 
wenn ein Bild
für sich betrachtet
etwas klar ausdrückt
wenn es eine Interpretation enthält
wird es sich nicht
durch den Kontakt mit anderen Bildern verwandeln
die anderen Bilder werden keine Macht über sie haben
und es wird keine Macht über die anderen Bilder haben
weder Aktion noch Reaktion
es ist endgültig und nicht weiter verwendbar
im System des Kinematographen
 
das soll heißen
daß das Kino niemals eine Kunst gewesen ist
und noch weniger eine Technik
 
o Tod
alter Kapitän
es ist Zeit
laß uns die Anker lichten
dieses Land ödet uns an
o Tod
laß uns aufbrechen
wenn Himmel und Meer
schwarz wie Tinte sind
unsere Herzen
die du kennst
sind mit Strahlen gefüllt
 
nein, in Wahrheit
wäre das ein verrücktes Unterfangen
eine Erzählung, in der gesagt würde
die Zeit verstrich
sie verfloß
die Zeit folgte ihrem Lauf
und so fort
 
die Kunst des Kinos
besteht darin
hübsche Dinge
von hübschen Frauen machen zu lassen
 
in seinen Anfängen
empfand das Kino nur wenig
und glaubte alles zu wissen
später, heimgesucht
vom Zweifel, vom Schmerz
vom Erschrecken vor dem Mysterium des Lebens
geriet es ins Schwanken
und jetzt, da das Kino alles empfand
glaubte es nichts zu wissen
 
die Empfindungen, die ich von der Existenz habe
ist noch nicht ein Ich
es ist eine unvordenkliche Empfindung
sie entsteht in mir
aber ohne mich
der Mensch
der Mensch hat in seinem armen Herzen
Gegenden, die noch nicht existieren
und wo der Schmerz eintritt
damit es sie giebt
 
ein Bild ist nicht stark
weil es brutal oder phantastisch ist
sondern weil die Verknüpfung der Ideen
weitreichend und richtig ist
 
wenn ein Mensch
wenn ein Mensch das Paradies im Traum durchquerte
und eine Blume erhielte als Beweis für seinen Aufenthalt
und er beim Erwachen diese Blume in seinen Händen hielte
was würde er sagen
 
ich war
dieser Mensch

 

Zitate aus:
Jean-Luc Godard: Histoire(s) du Cinéma
München, ECM New Series, 1999.


»Die Tautologie, daß ein Film aus Filmbildern (und -tönen) besteht, nimmt bei Godard schon sehr früh und mit jedem Film mehr eine nachgerade dialektische Volte. Denn die Bilder des Kinos sind seit je mehr und anderes als Ab- und Nachbilder einer äußeren, chronologischen Geschichte. Sie sind und signieren die Geschichte nicht weniger, als die Geschichte sich in ihnen konstituiert. Godard rezitiert vergangene Filmbilder (die eigenen und die fremden) direkt oder metaphorisch und montiert (>schneidet<) so die Tagesreste der Film-Geschichte zu einem (Tag-)Traum vom Kino.« (Hanns Zischler)
    

Synopsis : Eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer: Mit dabei sind ein ehemaliger Kriegsverbrecher, ein französischer Philosoph, eine Polizistin aus Moskau, eine amerikanische Sängerin, ein Botschafter aus Palästina. Die Bilder unterscheiden sich stark von den Worten. Quo vadis Europa. Ein Mädchen und ihr kleiner Bruder bitten ihre Eltern um Erklärungen zu den Themen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Unsere Wiegen der Menschheit: Sechs echte/falsche Legenden werden besucht: Ägypten, Palästina, Odessa, Hellas, Neapel, Barcelona.
Freitag, 19.03.2010 : Quand la loi n’est pas juste, la justice passe avant la loi.
Unter den Titeln FILM ANNONCE 2 und FILM ANNONCE 6 ist seit ein paar Tagen mehr als nur ein Trailer zu Godards SOCIALISME (2010) auf youtube und vimeo zu sehen. Wenn ich es richtig verstehe, ist vielmehr der gesamte Film dort veröffentlicht, allerdings auf die Länge von 4 Minuten und 6 Sekunden (in vimeo auf 1 Minute 6 Sekunden) beschleunigt und von hinten nach vorne abgespielt. In Final Cut dürften es 2 Handgriffe sein, den Film auf seine ursprüngliche Dauer umzurechnen und die Richtung zu ändern.
Interessantes Konzept von viralem Marketing und Vergesellschaftung – gesetzt den Fall, das kommt von Godard selbst, wofür die Godardesken Texteinblendungen sprechen. Sozialismus anno 2010, for those who don’t have the time. Der Screenshot stammt aus dem Abspann des Trailers & somit aus dem Vorspann des Films: Wenn das Gesetz nicht gerecht ist, geht Gerechtigkeit vor Gesetz.
posted by Volker Pantenburg
der | Trailer | (OF)


16. Januar.   Es war in der letzten Woche wie ein Zusammenbruch, so vollständig wie nur etwa in der einen Nacht vor zwei Jahren, ein anderes Beispiel habe ich nicht erlebt. Alles schien zu Ende und scheint auch heute durchaus noch nicht anders zu sein. Man kann es auf zweierlei Arten auffassen, und es ist auch wohl gleichzeitig so aufzufassen.
 
Erstens: Zusammenbruch, Unmöglichkeit, zu schlafen, Unmöglichkeit, zu wachen, Unmöglichkeit, das Leben, genauer die Aufeinanderfolge des Lebens, zu ertragen. Die Uhren stimmen nicht überein, die innere jagt in einer teuflischen oder dämonischen oder jedenfalls unmenschlichen Art, die äußere geht stockend ihren gewöhnlichen Gang. Was kann anders geschehen, als daß sich die zwei verschiedenen Welten trennen, und sie trennen sich oder reißen zumindest auseinander in einer fürchterlichen Art. Die Wildheit des inneren Ganges mag verschiedene Gründe haben, der sichtbarste ist die Selbstbeobachtung, die keine Vorstellung zur Ruhe kommen läßt, jede emporjagt, um dann selbst wieder als Vorstellung von neuer Selbstbeobachtung weitergejagt zu werden.
 
Zweitens: Dieses Jagen nimmt die Richtung aus der Menschheit. Die Einsamkeit, die mir zum größten Teil seit jeher aufgezwungen war, zum Teil von mir gesucht wurde – doch was war auch dies anderes als Zwang –, wird jetzt ganz unzweideutig und geht auf das Äußerste. Wohin führt sie? Sie kann, dies scheint am zwingendsten, zum Irrsinn führen, darüber kann nichts weiter ausgesagt werden, die Jagd geht durch mich und zerreißt mich. Oder aber ich kann – ich kann? –, sei es auch nur zum winzigsten Teil, mich aufrechterhalten, lasse mich also von der Jagd tragen. Wohin komme ich dann? »Jagd« ist ja nur ein Bild, ich kann auch sagen »Ansturm gegen die letzte irdische Grenze«, und zwar Ansturm von unten, von den Menschen her, und kann, da auch dies nur ein Bild ist, es ersetzen durch das Bild des Ansturmes von oben, zu mir herab.
 
Diese ganze Literatur ist Ansturm gegen die Grenze, und sie hätte sich, wenn nicht der Zionismus dazwischengekommen wäre, leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala, entwickeln können. Ansätze dazu bestehen. Allerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt, das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit all dem sich nicht ausgibt, sondern jetzt erst sich auszugeben beginnt.

Franz Kafka Tagebuch 1922
www     :         filmsocialisme

Film Socialisme von Jean Luc Godard 2010 (CH) · 101 Minuten · mit Catherine Tanvier (la mère), Christian Sinniger (le père), Jean Marc Stehlée (Otto Goldberg), Patti Smith (personne de la vrai vie), Robert Maloubier (personne de la vrai vie) - Regie: Jean Luc Godard - Drehbuch: Jean Luc Godard - Dauer: 101 min. - Format: 35mm 1;1,85 - Versionen: F/D - Produktion: VEGA FILM - Festivals/Preise: Festival de Cannes (Selection Officielle: Un certain regard).
Offizielle Broschüre zum Film (pdf-format).
InterView mit J.-L. Godard zum Film Socialisme (10 Folgen).
"Wenn das Gesetz nicht gerecht ist ... geht die Gerechtigkeit vor dem Gesetz"
 
Peter Mühlbauer
  
Jean-Luc Godard gibt mit seinem neuen Film
auf ungewöhnliche Weise Kommentare zum Immaterialgüterfeudalismus ab
 
Der Schweizer Jean-Luc Godard ist der Bertolt Brecht der Nouvelle Vague - manchmal zu aufdringlich in seinem Willen zum Regelbruch und zur Bewusstmachung (der heute, wo Jump-Cuts Standard geworden sind, gar nicht mehr so leicht zu erkennen ist), manchmal aber auch genial. Vor allem in Masculin, féminin mit Jean Pierre Leaud und der Yeye-Sängerin Chantal Goya, Weekend und Sauve qui peut (la vie) mit seinen Debatten über das Landleben und die Sexualität.
Diese Woche wird Jean-Luc Godards neustes Werk Film Socialisme in Cannes gezeigt. Parallel dazu streamt es der Vertrieb Wild Bunch auf dem Portal filmotv.com. Allerdings nur für Internetnutzer in Frankreich und gegen eine Gebühr von sieben Euro. Doch inwieweit das, wie angekündigt, wirklich die Premiere des Films sein wird, ist nicht ganz klar: Auf Vimeo und YouTube gab es nämlich schon vorher mehrere merkwürdige "Ankündigungen", von denen unter anderem france24.com vermutete, dass sie den kompletten Film beinhalten - allerdings rückwärts und stark beschleunigt.
Dass sich der Schweizer Bankierssprössling für dieses, wie Volker Pantenburg es ausdrückte, "interessante Konzept von viralem Marketing und Vergesellschaftung" entschied, könnte nicht zuletzt auch damit zusammenhängen dass es trotz guter Kritiken mit der Vermarktung seiner Werke immer schlechter klappte: In den 1960er Jahren liefen Godards Filme noch im Kino, in den 1980ern im Fernsehen und seit den Nuller Jahren fast nur noch auf Festivals.
Dafür, dass die Basteleinladung von Godard selbst stammt, spricht ein Screenshot, der der Pressemappe an auffälliger Stelle beigelegt ist: "Quand la loi n'est past juste ... la justice passe avant le loi" heißt es da in einer Einrahmung der von DVDs bekannten Copyrightwarnung. Auf Deutsch: "Wenn das Gesetz nicht gerecht ist ... geht die Gerechtigkeit vor dem Gesetz".
Dass er diesen Weg für einen Kommentar nutzt, ist für ihn nicht ungewöhnlich: Godard arbeitete auch in früheren Filmen wie sonst nur wenige in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewusst mit Schrifttafeln. Am Schluss des Trailers zu Masculin, féminin etwa erlaubte er sich eine Anmerkung zum Jugendschutzhinweis und teilte über den Standardtext hinaus mit, dass dieser Film "natürlich" für Minderjährige verboten sei - weil es ja um sie geht.
Durch seinen Filmessay Histoire(s) du Cinema, in dem sich der Regisseur in acht Kapiteln mit der Geschichte des Kinos auseinandersetzt, konnte er zudem die problematischen Auswirkungen des Copyrights aus erster Hand kennenlernen. Auch wenn Godard selbst in einem 1996 geführten Interview mit Jonathan Rosenbaum die Schwierigkeiten herunterspielte und behauptete, er würde sich einfach neues Material suchen, wenn ihm eine Firma das Zitatrecht streitig macht, scheinen die Probleme mit den kurzen Ausschnitten, aus denen der Film zu einem großen Teil besteht und an denen Medienkonzerne noch Monopolrechte beanspruchen, die Verbreitung durchaus behindert zu haben:
Das bereits in den 1980er Jahren begonnene Werk konnte in Frankreich nämlich erst 2005 als DVD-Set veröffentlicht werden. Vorher schien es trotz umfangreichen Kritikerlobs in der "Rechtehölle" gefangen. Eine deutsche Fassung kam sogar erst von einigen Monaten auf den Markt. Nun muss Godard hoffen, dass Claudia Roth nicht entdeckt hat, dass er Hitler-Aufnahmen mit Ton-Steine-Scherben-Musik unterlegt - sonst lässt vielleicht auch sie noch einen ihrer Anwälte von der Leine.
Allerdings ist Godard bei weitem nicht der einzige Filmemacher, dem die in den letzten Jahrzehnten formell wie informell stark ausgeweiteten Immaterialgüterprivilegien schaden: Der Harvard-Rechtsprofessor Lawrence Lessig legte unlängst in seinem Text For the Love of Culture eindrucksvoll dar, dass dies mittlerweile ein Massenphänomen ist - und dass Dokumentarfilme nicht mehr gezeigt und nicht auf DVD übertragen werden dürfen, weil sich die Hersteller auf Verträge mit Rechteinhabern einlassen mussten, die ihnen die Verwendung von Zitaten nur für wenige Jahre erlaubten.

Telepolis, 17.05.2010

Denn so berühmt Godard auch ist, seine Filme schaut ja jenseits eines Festivals wie Cannes auch keine Menschenseele mehr an. Dies niemals zu akzeptieren und sich gleichzeitig nicht mehr davon betrüben zu lassen, das ist die Essenz von "Film Socialisme".
Tobias Kniebe: Filmische Verzweiflungstaten, Süddt. Zeitung vom 18.05.2010.


Friedrich Hölderlin
 
    Die beschreibende Poesie
 
Wißt! Apoll ist der Gott der Zeitungsschreiber geworden,
    Und sein Mann ist, wer ihm treulich das Faktum erzählt.
| » Stimmen « |


| nach oben |