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So arbeitet die Hoffnung
Der argentinische Lyriker Juan Gelman
von Gaby Weber
(aus Ware Natur/ ila 234)

Vertrauen 1

Er setzt sich an den Tisch und schreibt.
Mit diesem Gedicht wirst du die Macht nicht ergreifen, sagt er.
Mit diesen Versen wirst du die Revolution nicht machen, sagt er.
Mit Tausenden von Versen wirst du sie nicht machen, sagt er.

Und mehr noch: diese Verse können dir nicht helfen,
dass Knechte, Meister, Holzfäller besser leben,
besser essen, dass er besser isst, besser lebt,
nicht einmal zum Verlieben werden sie ihm helfen.

Er wird mit ihnen kein Geld verdienen,
nicht umsonst ins Kino gehen können,
man wird ihm keine Kleidung dafür geben,
er wird keinen Tabak, keinen Wein dafür bekommen.

Weder Papageien, Halstücher, noch Schiffe,
weder Stiere, noch Schirme wird er für sie bekommen.
Ginge es nach ihnen, würde er vom Regen nass,
würde er kein Pardon, keinen Dank dafür bekommen.

Mit diesem Gedicht wirst du die Macht nicht ergreifen, sagt er.
Mit diesen Versen wirst du die Revolution nicht machen, sagt er.
Mit Tausenden von Versen wirst du sie nicht machen, sagt er,
setzt sich an den Tisch und schreibt.

Juan Gelman. Geboren 1930 in Buenos Aires. Er ist der wohl bekannteste zeitgenössische Poet Lateinamerikas. Seine Gedichte wurden in viele Sprachen übersetzt, in Deutsch erschienen sie unter dem Titel: „So arbeitet die Hoffnung". Der Argentinier hat nicht nur Verse geschrieben, er wollte auch die Revolution machen. Er war Lastwagenfahrer, Journalist und Herausgeber der Literaturzeitschrift „Crisis". Und er war Guerillero und Widerstandskämpfer gegen die Diktatur. Sein Sohn und seine Schwiegertochter sind damals verschleppt und ermordet worden. Bis heute sucht Juan Gelman nach seinem Enkelkind, das in einem Folterzentrum auf die Welt gekommen ist.

Vor zwei Jahren wurde Gelman der argentinische Nationalpreis für Lyrik verliehen (vgl. ila 214) und statt einer Dankesrede las er den Mächtigen die Leviten. Er erinnerte an die während der Diktatur ermordeten Literaten – ungesühnte Verbrechen, klagte er vor Ministern und Honoratioren, Verbrechen, über die der Mantel des Schweigens gelegt wird. Statt Vergessen forderte Gelman die Wahrheit. „Für die Athener", so der Poet vor der Jury, „war das Gegenteil des Vergessens nicht die Erinnerung, sondern die Wahrheit." Beliebt machte sich Gelman mit seiner Kritik nicht. Hätte er nicht EINMAL den Mund halten und sich einfach für die Auszeichnung bedanken können, nörgelte die Presse. Den Mund halten? - entgegnete Gelman. Unmöglich! Gestritten hat er sich mit allen, mit fast allen. Mitte der siebziger Jahre stritt er bewaffnet gegen den Staat. Er war führendes Mitglied der peronistischen Guerilla-Organisation „Montoneros". Die anti-kommunistische Todesschwadron verurteilte ihn zum Tod und der Dichter flüchtete 1975 nach Rom. Von dort aus stritt Gelman weiter. Gegen die Diktatur, und später auch gegen die eigenen Genossen. Und beide verurteilten ihn zum Tod, für die Generäle war er ein „Vaterlandsverräter", für seine Genossen ein „Abweichler". Nach seiner Rückkehr in sein Heimatland stritt er weiter, gegen die Politiker und gegen die öffentliche Meinung, die das Vergessen predigen, und gegen alle, die ihm vorschreiben wollen, was er zu tun und was er zu lassen habe.

Juan Gelman lebt seit zehn Jahren in Mexico-Stadt. Seine zweite Frau – die Argentinierin Mara – wohnt dort seit 25 Jahren, und er ist ihr gefolgt. Mara hat heute Abend gekocht, mexikanische Spezialitäten: verschiedene Pfefferschoten, Huhn mit Schokoladensauce und Ravioli gefüllt mit Huitlacoche, einem schwarzen Pilz, der den Mais befällt. Ob es ihm in Mexiko gefällt? Gelman nickt. „Es ist angenehmer", sagt er, „als Ausländer im Ausland zu leben, statt Ausländer im eigenen Land zu sein." Sein Geld verdient er als Kolumnist der linksliberalen argentinischen Tageszeitung „Página 12". Denn von der Poesie kann man nicht leben. Seine Wohnung im Künstler-Stadtteil Condesa ist mit alten, schweren Möbeln eingerichtet. Die hohen Wände des Altbaus bieten genügend Fläche für Zeichnungen und Skulpturen aus aller Welt. Gelman, jüdischer Abstammung, schreibt auch Gedichte in Sephardí. „Heute versteht man unter Sephardí die Sprache der Juden, aber eigentlich war Sephardí die Sprache Spaniens. Die Juden waren im 15. Jahrhundert aus Spanien vertrieben worden und ließen sich im Mittelmeerraum nieder. Sie nahmen die Sprache Kastiliens mit und pflegten sie in ihrer neuen Heimat weiter. Bis heute wird zum Beispiel in Saloniki Sephardí gesprochen. Ich erinnere mich, daß ich mich bei einem Griechenland-Besuch dort hervorragend verständigen konnte."

Klarheiten1

Wer hätte je gesehen, dass die Taube den Falken heiratet,
der Argwohn die Zuneigung, die Ausgebeuteten den Ausbeuter?
Scheinhochzeiten! Unzählige
Katastrophen werden mit diesen Hochzeiten geboren, Streit und Trauer.

Hält das Gebäude solcher Hochzeiten lange? Muss nicht der
leichteste schwache Nordwind es zermürben
oder zerstören, der dort weht? Wird es als Ruine enden,
vom Himmel erdrückt? Ach Land!
Ach mein Land! wütendes! trauriges! erschossenes! schönes!
befleckt mit revolutionärem Blut!

Es sitzen die lilafarbenen Papageien
mit Geschrei in fast jedem Baum,
auf fast jeden Ast gereiht.
Mehr allein? Weniger allein? Allein? Warum?

Wer hätte je gesehen, daß ein Kalb den Metzger heiratet,
die Zärtlichkeit den Kapitalismus?
Scheinhochzeiten! Unzählige
Katastrophen werden mit diesen Hochzeiten geboren, 
Streit und Trauer und Klarheiten wie 

der Tag, der sich in seiner Eisenkuppel
über diesen Versen dreht.

Gelman beherrscht viele Sprachen, in vielen Ländern hat er gelebt. Nur Russisch, die Sprache seines Vaters, kann er nicht: „Mein Vater kam aus der Ukraine und hieß eigentlich Milotschnik. Er war Sozialrevolutionär und musste aus dem zaristischen Russland flüchten. Bei seiner Einreise nach Argentinien – 1912 – benutzte er einen Pass, von dem er mir niemals verriet, wer ihn gefälscht hatte. Am Zoll fragten ihn die Beamten nach seinem Namen, denn sie konnten die kyrillische Schrift nicht entziffern. Er antwortete ,Hellmann’ mit einem gehauchten ,h’. Sie schrieben Gelman in die Einwanderungspapiere, mit ,G’. Als 1917 in Russland die Revolution losging, hielt es mein Vater nicht länger in Argentinien aus, sondern wollte zurück, um beim Aufbau des Sozialismus mitzuhelfen. 1918 traf er in Moskau ein und fand Arbeit in einer Fabrik. Nachdem seine erste Frau gestorben war, heiratete er meine Mutter." Doch sein Vater – der in der Sowjetunion wieder Genosse Milotschnik hieß – war kein Bolschewik, sondern ein Freidenker. Er kehrte 1928 mit seiner zweiten Frau nach Argentinien zurück, als „Compañero" Gelman.

„In der ersten Zeit wohnten wir in einer heruntergekommenen Mietskaserne, in der es eine Küche und ein Bad für alle gab. Mein Vater war Zimmermann und nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion nähte er Oberhemden. Das Geschäft lief eher schlecht als recht, aber 1945 kam General Perón an die Regierung und ab diesem Zeitpunkt verbesserten sich die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und der Mittelschicht radikal. Mein Vater konnte mich auf die Oberschule und die Universität schicken. Mein Leben war ziemlich verrückt. Einerseits kam ich aus einem Arbeiter-Vorort, wo lauter Nichtsnutze lebten. Ich rauchte, war mit Prostituierten zusammen, spielte Billard und würfelte im Café um Geld. Daneben besuchte ich eine staatliche, aber sehr vornehme Oberschule, auf die die Oberschicht ihre Sprösslinge schickte. Ich war zwischen diesen Realitäten hin und her gerissen, aber schließlich siegte der proletarische Einfluss und ich trat in die kommunistische Jugendorganisation ein."

1951 schrieb er das Gedicht: „Eine alte Sache":

Es war am Anfang des Jahrhunderts: die Stadt zog lange Hosen an,
fuhr im Landauer, zog Eisenbahnen an, stieg mit Fenstern bis zum Himmel auf.
Es war das Reich der Großgrundbesitzer, vor kurzem an England verkauft, 
es war das Königreich der Namen, das in fünf Lehensgüter geteilte Land,
wo Tiere gemästet wurden und Pedro weniger wert war als eine Kuhhaut.

Eines morgens wurde der Fluss von seltsamen Stimmen geweckt,
sanfte Worte, rauhe Töne, die Luft suchte herauszufinden,
was zum Teufel geschah, welche Sprache sie in Kristalle zerschnitt,
während die Einwanderer mit geprügelten Hosen an Land gingen, 
die Taschen voller Heimweh und einigen Träumen, 
von der Schifffahrtsgesellschaft autorisiert.

Da kamen Italiener, Türken Araber, Russen, Bulgaren, Juden,
Slowaken, Polen, Spaniermit dem Finger des Hungers im Mund,
mit trockenen Tränen auf den Wangenknochen, 
mit Rücken, die das Gewehr leid waren, die Knute, den Polizeiknüppel. 
Da kamen sie, fertigten Häuser, Uhren, Stühle, Bleistifte, Windeln, 
ergriffen den Pflug, ließen aus dem Boden Tropfen regnen,
gefüllt mit Weizen und Mais, sie kamen in dieses Land
und bauten Tage, Hoffnungen, Bäume, Kinder, Vögel, Lieder,
hier begann ihnen der Knochen zu schmerzen 
während die Herrn Alcorta und Anchorena in Paris Geliebte aushielten,
das Land für einige Pfund Sterling verkauften 
und ihre Gamaschen durch Europa trugen.

Hierher kamen sie, die Gringos, die Ausländer, 
lernten, den Mate zu schlürfen, im gemischten
Porteño zu reden, in Guaraní, steckten ihrer Hände Arbeit in die Kühlhäuser,
in die Fabriken und sahen sich Auge in Auge den alten Gespenstern gegenüber.
Ihre Kreolenbrüder waren wütend, (man hatte ihnen gesagt: „Die Gringos rauben euch die Arbeit!")
die Gringos wurden gejagt. Wie viele kamen aus dem Pulverdampf,
dem Waffenklirren auf den Barrikaden des Volkes, 
wie viele sanken nieder im Schmerz, im Kampf! 

Die Herren diktierten ihnen ein Gesetz: „Es ist dem Ausländer,
dem Tagelöhner, Maurer, ungelernten Arbeiter, dem Armen verboten,
Lohnerhöhung zu fordern, sich zu vereinigen, für sein Hemd zu kämpfen, 
die Schürze, den Löffel, das Huhn, das Tischtuch.
Es ist ihm erlaubt, Hunger zu leiden, Schläge, Tränen, Erniedrigungen.
Kulis dieser schmutzigen Erde, man soll vergessen, daß sie Menschen sind.
Und wenn sie sich daran erinnern, diese Ketzer, diese Wilden,
dann mache man sie aktenkundig, verbreite ihre Namen, 
schicke sie in Ketten an ihren Ursprungsort zurück."

Das ist das Gesetz, berühmt wegen seiner verhassten, 
verfluchten Zahl, das Gesetz 
4144.
Angenagelt inmitten meines Volkes,
schlägt es noch heute die Reinsten in Bann.

Dazu erzählt Juan Gelman: „Ende des vergangenen Jahrhunderts begann die Oligarchie, Europäer zu importieren, denn im Land fehlten Arbeitskräfte. Diese ,Gastarbeiter’ hatten fast alle revolutionäre Ideen im Kopf. Die erste marxistische Zeitung Argentiniens – ,el obrero’ (der Arbeiter) – wurde von einem deutschen Einwanderer geleitet, der mit Friedrich Engels einen regen Briefverkehr unterhielt. Das war für die Mächtigen natürlich bedrohlich und auf ihren Druck wurde schließlich das Gesetz Nummer 4144 erlassen, das die Ausweisung von Ausländern erlaubte, die in Aktivitäten verwickelt waren, die man heute als ,subversiv’ bezeichnen würde. Damals hießen sie ,anti-national’. Dieses Gesetz blieb lange Zeit in Kraft, Perón ließ mit dieser Begründung Einwanderer aus Jugoslawien in Abschiebehaft nehmen."

Lange hielt es Juan Gelman nicht bei den Kommunisten aus. Sie setzten auf den Parlamentarismus und lehnten Guerilla-Aktionen als „kleinbürgerlich" ab: „Der Sieg der kubanischen Revolution im Jahr 1959 bewies in unseren Augen, dass wir zum Sozialismus auf friedlichem Wege nicht gelangen würden. Auf jeden Fall dauerte es uns zu lange, wir wollten lieber sofort die Revolution machen. Die KP schloss mich mit der Begründung aus, dass ich sie verlassen hatte. So stand es wirklich in dem Beschluss. Inzwischen hatten uns die Aufstände in Bolivien und im argentinischen Landesinneren in den Bann gezogen und es entstanden die ersten bewaffneten Gruppen. Ich ging zunächst zur FAR, den ,Argentinischen Revolutionären Kräften’, deren Vorbild Ernesto Che Guevara war. Uns war klar, dass die Fokus-Theorie nicht funktionieren würde. Sie besagt, dass eine Gruppe bewaffneter Kämpfer den Funken der Rebellion in einen revolutionären Flächenbrand verwandeln und dass die Aufstände in den Nachbarländern auf Argentinien übergreifen würden. Auch wenn wir zu den Waffen griffen, glaubten wir nicht an einen Erfolg einer kleinen Guerillatruppe. Wir wollten uns stattdessen im Volk verankern. Mit Waffen allein würden wir uns nicht verankern können. Die Waffen haben Gewicht, aber sie denken nicht. Unser Problem war, dass in Argentinien die Arbeiterklasse peronistisch ist. Wir wollten unsere Isolation überwinden und uns in der Arbeiterklasse verankern, ohne gleichzeitig unsere marxistischen Überzeugungen zu verraten."

Gelman schloss sich schließlich der größten Guerillatruppe an, den peronistischen „Montoneros". Tagsüber arbeitete er als Journalist und schrieb Gedichte, nachts nahm er an illegalen Aktionen teil. Das ging auf die Dauer natürlich nicht gut. Noch herrschte – zumindest formell – Demokratie in Argentinien, aber die Todesschwadron machte gezielt Jagd auf Oppositionelle: „Sie erschossen Genossen auf offener Straße. Und unserer Organisation fiel nichts Besseres ein, als Leute der Gegenseite umzubringen. Dabei hätten wir darauf politisch reagieren müssen. Doch wir reagierten militärisch und ließen uns auf diese Weise in die Spirale der Gewalt hineinziehen. Wir hätten uns von Perón distanzieren, aber ihn nicht frontal bekämpfen müssen. Die Arbeiter sympathisierten zwar mit uns, sie nannten uns ,muchachos’. Aber sie selbst waren keine muchachos, sie waren nicht Teil unserer Struktur. Auch das war ein großer Fehler von uns: Wir hatten leider nicht deutlich genug getrennt, wer ein legaler Kämpfer und wer ein illegaler war. Und als wir dann freiwillig in den Untergrund gingen, blieben unsere Sympathisanten, die Betriebsgruppen und Studentenorganisationen, ungeschützt auf dem Präsentierteller zurück. Diese Leute waren keine Guerilleros, dennoch wurden diese Bewegungen zum Teil komplett ermordet. Eine nach der anderen."

Auch Gelman stand auf der Liste der Todesschwadron. 1975 ging er nach Rom. Dort schrieb er diese Zeilen:

Ich liebe dieses fremde Land für das, was es mir gibt.
Und für das, was es mir nicht gibt.
Denn mein Land ist einzig.
Es ist nicht besser, aber es ist das einzige.
Die Fremden achten es ohne es zu lieben.
Sie sind schön, auf andere Weise schön.
Ihre Schönheit rührt mich.
Aber ihre Art, diese Schönheit zu erlangen, ist mir fremd.
Das ist schön: sie reichen mir ihre Schönheit,
und sie reichen mir die Fremdheit ihrer Schönheit.
Ungerechtigkeit, Schmerz, Leiden – immer dabei.
Ich grüße Dich, Schönheit.
Wir sind Teile der globalen Reise,
verschieden, entgegengesetzt, die gleichen Wellen nehmen uns mit.
Lass uns an einen Strand gehen.
Lass uns ein Feuer gegen die Kälte und gegen den Hunger anzünden.
Wir werden im Licht desselben Mondes glühen.
Wir werden uns sehen. Sehen.

Im März 1976 ergriffen die Generäle die Macht. Nun richtete sich die Repression gegen ALLE Andersdenkenden, nicht nur gegen Guerilleros. 30 000 RegimegegnerInnen ermordeten sie in ihren Folterkammern. In dieser Situation wäre für Juan Gelman eine Rückkehr nach Argentinien lebensgefährlich gewesen: „Ich bat die europäischen Sozialdemokraten um Hilfe und erreichte schließlich, dass Olaf Palme, François Mitterrand und Willi Brandt gegen die Menschenrechtsverletzungen protestierten. Nur Bruno Kreisky wollte nicht unterschreiben. ,Wir unterhalten mit Buenos Aires diplomatische Beziehungen’, begründete er. Darauf riet ich ihm, nicht als Bundeskanzler, sondern als österreichischer Sozialdemokrat zu unterzeichnen. Er lachte: Das könne man doch nicht trennen. Wir stritten uns noch eine Weile, und irgendwann fuhr es aus mir heraus. ,Kreisky’, schrie ich ihn an, ,erinnern Sie sich an Léon Blum’ (den ersten sozialistischen Ministerpräsidenten Frankreichs, der 1938 abdanken musste und vom Vichy-Regime vor Gericht gestellt wurde). Er antwortete nicht. Ich griff nach meinem Regenmantel und ging wortlos. Während ich auf den Aufzug wartete, hörte ich meinen Namen. Da stand Kreisky, mit einem Füllfederhalter in der Hand. Er unterschrieb. Wortlos. Diese öffentlichen Proteste der Sozialdemokraten waren auf internationalem Parkett der erste harte Schlag gegen die Generäle. Im Gegensatz zu Pinochet brach die argentinische Diktatur nie die Beziehungen zur Sowjetunion oder zu Cuba ab. Und nachdem US-Präsident Carter ein Embargo gegen die UdSSR verhängt hatte, wurde sie sogar ihr bester Handelspartner. Wir bekamen dies zu spüren, als wir die Vereinten Nationen dazu bewegen wollten, das Regime wegen seiner Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen. Gegen diese Anträge stimmten stets die sowjetischen und die cubanischen Delegierten. Nur einmal enthielt sich Cuba der Stimme, nachdem es uns gelungen war, den cubanischen Botschafter betrunken zu machen."

„Ehrenzeichen"

Sie haben dem Herrn General einen Orden verliehen.
Sie haben dem Herrn Admiral und dem Luftwaffen-Kommandeur einen Orden verliehen,
und meinem Nachbarn, dem Wachtmeister.

Eines Tages werden sie dem Dichter einen Orden verleihen,
weil er Worte wie Feuer benutzt, wie Sonne, wie Hoffnung.
Inmitten des Meeres menschlicher Armut, soviel Schmerz. 
So ist es.

1978 wurde in Argentinien die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen und das Regime wollte der Weltöffentlichkeit eine Gesellschaft in Frieden vorführen. Juan Gelman wollte der Weltöffentlichkeit die Friedhöfe vorführen. Er entschloss sich, trotz aller Warnungen illegal nach Buenos Aires zu reisen: „Ich wollte Journalisten mit argentinischen Arbeitern und Menschenrechtsgruppen zusammenbringen, darunter war auch ein Redakteur des ,Spiegel’. Sie sollten mit eigenen Augen sehen, was die Militärs im Lande angerichtet hatten. Die Volksbewegung war liquidiert worden! Doch kaum war ich nach Rom zurückgekehrt, las ich einen Aufruf der Montonero-Anführer, die im Exil geblieben waren. Die Militärs, hieß es darin, seien ,groggy’ und mit ein paar Backpfeifen könne man sie verjagen. Sie waren dabei, völlig unerfahrene Genossen zu rekrutieren, die für die ,gerechte Sache’ zu allem bereit waren. Ich fiel aus allen Wolken. Ich hatte gerade vor Ort gesehen, wie unsere Landsleute die Fußballspiele begeistert auf der Straße feierten, während die Folterkammern auf Hochtouren arbeiteten. Alle wussten es und fast alle duldeten es. Durch Schweigen. Und in dieser Situation planten die Montoneros eine militärische ,Offensive’. Einer sagte: ,Juan, wir müssen Bomben legen, damit die Zeitungen über uns berichten.’ Was in den Köpfen der Menschen vor sich ging, interessierte ihn nicht. Ich beschloss, mich von der Organisation zu trennen und begründete dies in einer Anzeige in ,Le Monde’. Das spaltete wohl ihre Kräfte, viele sprangen von ihrer ,Offensive’ ab. Ich schätze, dass damit zweihundert Genossen ihr Leben retteten. Die anderen, die trotzdem illegal nach Argentinien reisten, wurden alle ermordet."

Die Montoneros schoben ihm die Schuld für den Misserfolg ihrer „Offensive" in die Schuhe und verurteilten ihn zum Tode. Er wäre nicht der erste gewesen, der wegen „ideologischer Differenzen" liquidiert worden wäre. Doch bis auf einen Zwischenfall, meint Gelman und lacht verlegen, sei ihm nichts passiert: „Einmal, in Paris, kamen zwei finstere Gestalten an meinen Tisch, wo ich Kaffee trank. Sie rammten mir von beiden Seiten einen harten Gegenstand, den sie in ihrem Regenmantel versteckt hatten, in den Rücken. ,Raus’, befahlen sie. ,Ihr seid verrückt’, sagte ich und rief den Kellner: ,S’il vous plaît‘. Und der begleitete sie vor die Tür."

1983 kehrten die argentinischen Militärs in ihre Kasernen zurück. Raúl Alfonsín trat die Regierung an und stellte die Junta-Kommandanten vor Gericht. Sie wurden zu hohen Strafen verurteilt, Jahre später begnadigt. Juan Gelman konnte nicht zurückkehren. Gegen ihn bestand immer noch der alte Haftbefehl aus seiner Zeit als Montonero. „Journalisten fragten Alfonsín wiederholt, wann ich in meine Heimat zurück dürfe. Aber er antwortete immer, der ,Fall Gelman’ sei wie der ,Fall Astiz’. Der Folterer Alfredo Astiz sei ein Terrorist in Marine-Uniform, ich von der anderen Seite." 1989 wurde Gelman von Alfonsíns Nachfolger begnadigt – zusammen mit einer Handvoll linker Guerilleros und zahlreichen Offizieren, denen wegen Folter und Mord der Prozess gemacht werden sollte. Der Dichter kehrte in seine Heimat zurück. Dort hatte er vor allem eines im Sinne. Er wollte herausfinden, was mit seinem Sohn Marcelo und seiner Schwiegertochter Claudia passiert war. Die beiden waren drei Monate nach dem Putsch festgenommen worden.

„Sie waren von Soldaten verschleppt und in das Folterzentrum ,Orletti’ gebracht worden. Von Claudia fehlt seitdem jede Spur. Die Leiche meines Sohnes wurde dreizehn Jahre später auf dem Friedhof in San Fernando entdeckt. Anhand der Friedhofsbücher konnten wir rekonstruieren, wie sie dorthin gekommen waren. Im Morgengrauen des 14. Oktober 1976, also zwei Monate nach seiner Verschleppung, hatte ein Marine-Offizier beobachtet, wie aus einem Lastwagen Kisten in einen Kanal geworfen wurden. Er glaubte, dass Subversive am Werk seien und alarmierte die Polizei. Die Kisten wurden mit Kränen geborgen und geöffnet. In ihnen lagen Körperteile, vermischt mit Zement und Sand. Die Polizei ließ sie als ,NN’, als Namenlose, auf dem Friedhof von San Fernando verscharren. Den Totengräbern war das unheimlich. Sie waren davon überzeugt, dass eines Tages jemand auftauchen und nach diesen Toten suchen würde. Sie ignorierten die Vorschrift, alle fünf Jahre die namenlosen Gebeine in Massengräbern unterzubringen, um Platz zu schaffen. Sie ließen sie stattdessen in ihren ,NN’-Gräbern, bis sie 1989 von Menschenrechtsgruppen aufgespürt und exhumiert wurden. Marcelo war mit einem Genickschuss ermordet worden."

Um die Leiche seines Sohnes, dreizehn Jahre nach seinem gewaltsamen Tod, identifizieren zu können, stellte Gelman Blutproben zur Verfügung. Und damit schaffte er sich nicht nur Freunde. Die argentinische Menschenrechtsbewegung ist gespalten. Die Mütter von der Plaza de Mayo zum Beispiel lehnen Exhumierungen strikt ab. Ihre Parole lautet: „Ihr habt unsere Kinder lebend genommen, wir wollen unsere Kinder lebend zurück." Sie haben sich auch dagegen ausgesprochen, dass die Familienangehörigen der Verschwundenen die staatlichen Entschädigungen akzeptieren. Dieses Geld sei schmutzig, argumentieren sie, es soll Schweigen erkaufen. Und jeder, der es akzeptiere, sei ein Verräter. Auch Juan Gelman, der einst von den Militärs und dann von den Montoneros zum Tode verurteilt worden war, wurde nun von den Maiplatz-Müttern als „Verräter" beschimpft. Das tat ihm damals weh, sagt er, sehr weh. Denn er habe die „Madres" einmal bewundert, sie waren die einzigen, die während der Diktatur öffentlich gegen die Morde der Generäle protestiert hatten. Inzwischen aber nimmt Gelman ihre Kritik gelassen hin, er interpretiert sie: „Keine politische Partei setzt sich nachdrücklich für die Menschenrechte ein, und deshalb blieben die Menschenrechtsgruppen isoliert. 

„Geräusche"1

Diese Schritte, suchen sie ihn?
Dieses Auto, hält es vor seiner Tür?
Diese Männer in der Straße, lauern sie?
Verschiedene Geräusche gibt es in der Nacht.

Darüber erhebt sich der Tag:
Niemand verhaftet die Sonne.
Niemand verhaftet den krähenden Hahn.
Niemand verhaftet den Tag.

Es wird Nächte und Tage geben, 
auch wenn er sie nicht sieht.
Niemand verhaftet die Revolution,
nichts verhaftet die Revolution.
Verschiedene Geräusche gibt es in der Nacht.

Diese Schritte, suchen sie ihn?
Dieses Auto, hält es vor seiner Tür?
Diese Männer in der Straße, lauern sie?
Verschiedene Geräusche gibt es in der Nacht.

Darüber erhebt sich der Tag:
Niemand verhaftet den Tag.
Niemand verhaftet die Sonne.
Niemand verhaftet den krähenden Hahn.

Jeder arbeitet vor sich hin und versucht, sein Territorium abzustecken: die Madres von der Plaza de Mayo, die ,Gründerinnen’-Linie der Madres, die Großmütter, die Kinder und Enkelkinder der Verschwundenen, die Angehörigen und so weiter. Aus der Bewegung für die Menschenrechte wurde ein Sektenwesen. Das ist wie mit dem Vatikan und dem Glauben. Der Vatikan, die Institution, isoliert sich, kapselt sich ab. Der Glauben hingegen öffnet sich. Ich lehne die Auffassungen der Madres ab, etwa ihre Aufforderung an die Familienangehörigen der Verschwundenen, die staatlichen Entschädigungen zurückzuweisen. Es geht um sechsstellige Dollar-Beträge und mit diesem Geld können die Witwen und Waisen ein eigenes Dach über dem Kopf kaufen! Die Madres sehen darin den Verkauf des Blutes ihrer Angehörigen. Ich sehe darin vor allem die Tatsache, dass der Staat damit seine Verantwortung an der Ermordung dieser Menschen anerkennt. Die Madres lehnen auch die Exhumierung der Leichen ab. Für mich bedeutet ,Exhumierung’ die Wiedereingliederung der Verschwundenen in die Kultur. Ich ließ die Identität meines Sohnes feststellen und erlangte damit Gewissheit über sein Schicksal. Danach ging es mir viel besser. Wichtig ist nicht die Zeremonie, der Platz auf dem Friedhof, wo man einen Blumenstrauß hinstellen kann. Wichtig ist, unsere Lieben wieder in unsere Kultur und in unser Leben aufzunehmen. Mein Sohn hat heute einen Namen und ein Leben, wenn auch ein kurzes Leben. Wenn ich ihn nicht gefunden hätte, wäre er anonym geblieben. Auch wenn mich die Madres dafür verleumdet haben: Ich habe meinen Sohn auf dem jüdischen Friedhof beerdigt, in der Nähe des Grabes meiner Eltern. Auf seinem Grabstein steht: ,gerettet aus der Nacht und dem Nebel der Völkermörder’."

Sein Sohn und seine Schwiegertochter waren keine politischen Aktivisten. Gelman glaubt, dass die Militärs sie ermordeten, weil sie an ihn, den militanten Montonero, nicht herankamen. In seiner Verzweiflung, etwas über den Verbleib von Marcelo und Claudia herauszubekommen, setzte er Gott und die Welt in Bewegung. Er wusste, dass seine Schwiegertochter hochschwanger war. Gelman lebte damals in Rom im Exil und in seiner Not bat er den Vatikan um Hilfe. Und eines Tages, wenige Wochen nach ihrer Verschleppung, erhielt er einen Anruf aus dem Heiligen Stuhl. Jemand sagte ihm, auf englisch: „A child was born", ein Kind wurde geboren. „Die Leiche meiner Schwiegertochter tauchte nie auf. Zeugen haben später ausgesagt, dass sie im Folterzentrum ,Orletti’ gewesen ist. Sie war im achten Monat und soll nicht gefoltert worden sein. Die Militärs eigneten sich die in den Folterzentren auf die Welt gekommenen Babies systematisch an: Sie waren ,Kinder von Löwen’, wie es ein General einmal ausgedrückt hat, Kinder von Guerilleros. Sie ließen die Gefangenen gefesselt, mit verbundenen Augen gebären. Sie adoptierten diese Kinder, weil sie oder ihre Ehefrauen unfruchtbar waren und um sie vor der ,marxistischen Vergiftung’ zu retten."

„Aufgaben"1

Die mühsamste Aufgabe der Liebenden
besteht nicht darin, sich zu lieben, sondern
die Liebe zu entzweien im ungewissen
Licht der Morgenfrühe, des Tagesanbruchs, des Alltags.

Erkennt man sie wieder, wenn sie über die Straße gehen,
schutzlos allein, seit sie
Bett und Stunde der Gemeinsamkeit verließen,
und wie zerbrochen, zerrissen dahingehen.

Fühlen sie die schnelle Kälte von
soviel Anwesenheit anderer und einer
einzigen Abwesenheit, soviel
Anwesenheit anderer und einer einzigen Abwesenheit.

Soviel Anwesenheit und eine einzige
Abwesenheit und soviel
Anwesenheit und eine einzige Abwesenheit im
Eisen des Alltags.

Im letzten Jahr fand Gelman heraus, dass das Folterzentrum Orletti einem General Eduardo Cabanillas unterstanden hatte, was dieser zunächst – auch seinen Vorgesetzten gegenüber – bestritt. Schließlich musste er es doch zugeben. Cabanillas wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. „Das war das erste Mal, dass ein Dichter einen General zu Fall gebracht hat", titelte eine argentinische Tageszeitung, normalerweise sei es umgekehrt. Doch Gelmans Enkel blieb „verschwunden". Der Dichter suchte weiter. Er erfuhr, dass das Neugeborene wahrscheinlich auf der anderen Seite des Rio de la Plata, in Uruguay, zur Adoption freigegeben worden sei, und bat die Regierung in Montevideo um Mithilfe. Er sprach im Präsidentenpalast vor und der konservative Staatschef sicherte ihm Unterstützung zu. Doch nichts geschah, die Politiker unterließen Nachforschungen, um die Militärs nicht zu reizen. Der „Fall Gelman" wurde zum Wahlkampfthema. Die Linke versprach, im Fall ihres Sieges nach seinem Enkelkind zu suchen und schloss strafrechtliche Schritte nicht aus. Denn Kindesentführung ist von den Amnestie-Gesetzen nicht gedeckt. Künstler aus aller Welt schrieben offene Briefe an die uruguayische Regierung, die Nobelpreisträger José Saramago, Dario Fo und Adolfo Pérez Esquivel. Doch an den Urnen gewannen die Konservativen. Das Thema Menschenrechte verschwand von einem Tag auf den anderen aus den Schlagzeilen. Gelmans Enkelkind bleibt „verschwunden". In diesem Jahr wird es 24 Jahre alt. 

1) Übersetzung aus: Juan Gelman, So arbeitet die Hoffnung, Übersetzung Wolfgang Heuer und Miguel Salí, Oberbaumverlag, Berlin, 1978, ISBN 3-87628-142-3
2) Diese Lieder stammen von der CD: Dina Rot, „una manu tumó l’otra", sie singt Gedichte von Juan Gelman in SefardÌ. Madrid 1997, ISBN 84-89156-12-1, Übersetzung ins Deutsche auf der Basis der spanischen Übersetzung: Gaby Weber
3) „Exilio", Juan Gelman und Osvaldo Bayer, Madrid 1984, ISBN 950-600-030-1, Übersetzung: Gaby Weber
4) aus: Juan Gelman, Gedichtsammlung, ausgewählt von Horacio Salas, Buenos Aires 1998, ISBN 950-9807-31-1, Übersetzung: Gaby Weber

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