Tobias Burghardt
Verschwundene Kinder tauchen
wieder auf
Die lange Suche von Juan Gelman
Immer wieder sind es die Einzelschicksale,
die das Ausmaß von Unrechtssystemen vor Augen führen. In Argentinien
lasten die dunklen Jahre der Militärdiktatur mit ihren schweren Menschenrechtsverletzungen
bis heute auf der Nation. Unter den damals Verschwundenen sind auch Schüler
der dortigen Waldorfschule.
In der letzten Ausgabe von Info3 berichtete Brigitte Espenlaub
in ihrem Beitrag Die Schreie der Welt (Feuilleton) über den
argentinisch-jüdischen Dichter und Journalisten Juan Gelman,
sein neues dreisprachiges Buch mit sephardischen Gedichten unter dem Titel
Dibaxu – Debajo – Darunter und die Suche nach seinem seit Ende 1976
in Uruguay verschwundenen Enkelkind. Bei Auslieferung jener Aprilausgabe
von Info3 überschlugen sich die neuesten Nachrichten aus Montevideo,
wo das inzwischen siebenundsechzigste von insgesamt annähernd fünfhundert
geraubten Kindern von Verschwundenen ausfindig gemacht wurde: Juan Gelman
hat sein Enkelkind in Uruguay gefunden! Seit einem Jahr hatte der argentinisch-jüdische
Dichter und Großvater auf Grund eigener gründlicher Nachforschungen
die sichere Vermutung, dass sich sein im November 1976 in Haft geborenes
Enkelkind in Uruguay befinden müsste. Jetzt ist aus dieser Vermutung
die Gewissheit geworden, dass es sich zudem um eine Enkeltochter handelt,
die seinerzeit in Montevideo zur Welt kam und wohlbehütet bei einer
uruguayischen Familie aufwuchs, bei der die heute 23 Jahre junge Frau in
Uruguay lebt.
Am 31. März 2000 traf der seit einem Monat amtierende Präsident
Uruguays, Jorge Batlle Ibáñez, spontan mit Juan Gelman
zusammen, der tags zuvor von Mexiko-Stadt, wo er heute im Exil lebt, nach
Montevideo angereist war, und tauschte mit ihm seine neuesten Kenntnisse
über das verschwundene Enkelkind des siebzigjährigen Dichters
und Großvaters aus. Eine genetische Analyse wird noch die letzte
Gewissheit ergeben, dass die ermittelte junge Frau zweifelsfrei die Enkelin
von Juan Gelman ist. Der genaue Aufenthaltsort in Montevideo und
der Name der Familie eines Kommissars, der mit seiner Ehefrau das Mädchen
Anfang Januar 1977 aufgenommen hatte, in den siebziger Jahren nicht an
der Repression beteiligt war und 1996 verstarb, soll streng anonym bleiben,
um im Schutz der Privatssphäre ihre Geschichte ungestört aufarbeiten
zu können. Bei der ersten persönlichen Begegnung der Enkelin
mit ihrem echten leiblichen Großvater, der sichtlich bewegt war,
brachte sie im Vorfeld der öffentlichen Bekanntgabe ihren Willen zum
Ausdruck, bei ihrer verwitweten Stiefmutter zu bleiben und Anonymität
zu bewahren. Für den überglücklichen Großvater hat
die Zukunft ein Gesicht und einen Namen bekommen. Doch das Schicksal seiner
verschwundenen Schwiegertochter María Claudia, der leiblichen Mutter,
die sie eigentlich »Ana« hatte nennen wollen, wenn es ein Mädchen
werden sollte, ist weiterhin unbekannt.
Ihre leiblichen Eltern hatten am 7. Juli 1976 in Buenos Aires geheiratet.
Im August 1976 wurde die neunzehnjährige María Claudia García
Irureta Goyena de Gelman, die im siebten Monat schwangere Schwiegertochter
des Dichters, und Marcelo Ariel Gelman, sein damals zwanzigjähriger
Sohn, der journalistisch tätig war, von argentinischen Militärs
in Buenos Aires entführt und im dortigen Haftzentrum »Automotores
Orletti« eingesperrt. Seine Tochter Nora wurde ebenfalls entführt,
doch bald wieder freigelassen. Während der Sohn Marcelo schwer gefoltert
und dann im Oktober 1976 durch einen Genickschuss hingerichtet wurde, verschleppte
man die hochschwangere María Claudia in einer typischen Nacht- und
Nebelaktion des repressiven »Condor-Planes« über den Río
de la Plata ins Nachbarland Uruguay. Die Leiche von Marcelo wurde in einem
200 Liter-Ölfass einbetoniert und im Flusskanal San Fernando versenkt,
wo er erst 1989 – dreizehn Jahre später – aufgefunden wurde und in
Buenos Aires beerdigt werden konnte. Die von Folter verschont gebliebene
María Claudia wurde nach ihrer Deportation in einem klandestinen
Kerker im Stadtzentrum von Montevideo gefangen gehalten. Ob die Militärs
sie aufgrund ihres uruguayisch klingenden Nachnamens oder aber wegen einer
bereits vorgesehenen Familie für das noch ungeborene Kind nach Uruguay
verbrachte, bleibt weiterhin ein Rätsel. Im November 1976 brachte
man sie zur Entbindung ins Militärkrankenhaus der uruguayischen Hauptstadt
und mit dem Neugeborenen wieder zurück in den Kerker. Mithäftlinge
waren dort Ohrenzeugen der hektischen Anweisungen zur Verlegung für
die Geburt und auch der praktischen Hilflosigkeit der wachhabenden Militärposten
bei der Zubereitung von Milchfläschchen für das Baby, was sich
dann zwei Jahrzehnte später für die Suche des Dichters nach seinem
verschwundenen Enkelkind als wesentliche Hinweise herausstellte. Ende Dezember
1976 begleiteten zwei uruguayische Militärs, der damalige Oberstleutnant
Juan
Antonio Rodríguez Buratti und der damalige Hauptmann José
Arab alias »der Türke«, die junge Mutter María
Claudia mit ihrem Säugling in einem Tragekörbchen aus dem Haftkerker
mit unbekannten Ziel. Dabei fiel ein zynischer Satz der beiden Täter,
der von einem Wachposten zu Protokoll gegeben wurde: »Manchmal muss
man unangenehme Dinge erledigen.«
Mit allen Einzelhinweisen, die Juan Gelman bei den Müttern
der Plaza de Mayo in Buenos Aires, bei ehemaligen Verhafteten und Verschwundenen
in Argentinien, aber auch in Uruguay, mühsam zusammengetragen und
geduldig zu einem Mosaik zusammengesetzt hatte, bat er am 7. Mai 1999 die
Regierung Uruguays um humanitäre Hilfe. Der uruguayische Präsident
Julio María Sanguinetti und sein Staatssekretär Elías
Bluth nahmen das Gesuch entgegen und taten stets so, als würden sie
etwas unternehmen wollen. Aber eigentlich bewahrten sie ein schwer verständliches
Stillschweigen und verstrickten sich immer mehr in widersprüchliche
Aussagen und abwegige Handlungen, die sich allein im Bereich der militärischen
Justiz als Verdunkelung und Desinformation verliefen. Sanguinetti verlor
endgültig sein Gesicht, als er zum Abschluss seiner Amtszeit Ende
Februar 2000 einerseits die Behauptung aufrecht erhielt, dass in Uruguay
kein einziges Kind verschwunden sei, wodurch er gleichzeitig den berüchtigten
und nachgewiesenen »Condor-Plan« wiederholt leugnete, und andererseits
dem Dichter vorhielt, »ein Kämpfer gegen die Demokratie«
zu sein, der eine »politische Kampagne« gegen seine Person
führe. Präsident Sanguinetti war im Sumpf der Wahlkampfparolen
versunken und wurde von der Entwicklung und den Absichten seines demokratisch
gewählten Nachfolgers Jorge Batlle Ibáñez schneller
widerlegt, als er sich ausrechnete.
Am 1. März 2000 trat Jorge Batlle Ibáñez in Montevideo
sein Präsidentenamt an und signalisierte sofort seine persönliche
Offenheit in ungeklärten Fragen der Menschenrechte und in der bislang
blockierten Verschwundenenproblematik, die er endgültig zum Wohl der
ganzen uruguayischen Gesellschaft abschließen möchte, indem
er vor allem die offizielle Verantwortung seines Landes für die staatsterroristischen
Verfehlungen Uruguays während der Diktatur öffentlich übernehmen
will. Das Auffinden der Enkelin von Juan Gelman ist ein weiteres
deutliches Zeichen dafür, dass es der Staatspräsident Jorge Batlle
Ibáñez mit seinem politischen Willen zur uruguayischen Versöhnung
und Vergangenheitsbewältigung nun wirklich ernst meint: Kindesraub
kann keine »Kriegsbeute« aus Militärdiktaturzeiten sein,
weder in Uruguay noch in Argentinien.
Im Februar 2000 wurde zuvor in Buenos Aires das sechsundsechzigste
geraubte Kind von Verschwundenen in Argentinien ausfindig gemacht. Ihre
Mutter, Gertrudis María Hlaczik, genannt Trudy, war eine ehemalige
Waldorfschülerin in Buenos Aires, verheiratet mit einem chilenischen
Dreher, José Liborio Poblete, der sieben Jahre vorher durch einen
Autounfall beide Beine verlor und sich seither für die Rechte der
Behinderten in mehreren Gruppen einsetzte, darunter »Cristianos para
la Liberación«. Sie wurden am 28. November 1978 mit ihrem
ersten Kind, Claudia Victoria Poblete, das gerade acht Monate alt war,
aus ihrer Wohnung im Stadtbezirk Guernica entführt und ins Folterlager
»El Olimpo« verschleppt. Zwei Tage danach wurde die Tochter
Claudia Victoria von den Eltern gewaltsam getrennt und einem Geheimdienstler
mit Nachnamen Landa übergeben, der das Kind als eigenes ausgab. Ihm
kamen die Mütter der Plaza de Mayo vor mehr als einem Jahr auf die
Spur, die Strafanzeige gegen das ansonsten kinderlose Ehepaar Landa stellten,
das heute in Haft sitzt und auf seine Verurteilung wartet. Die heute zweiundzwanzigjährige
Claudia Victoria Poblete erfuhr erst Mitte Februar 2000 von ihrer wahren
Identität. Trudy, ihre leibliche Mutter, die schöne lange Haare
hatte, und José, ihr leiblicher Vater, der ohne Rollstuhl völlig
hilflos war, wurden schwer gefoltert und zuletzt am 28. Januar 1979 von
ehemaligen Verhafteten gesehen. Beide gehören wie ihre Freundin Claudia
Grumberg, die am 12. Oktober 1976 im Viertel Barrancas de Belgrano entführt
wurde und nach der sie dann ihr Kind benannten, zu den insgesamt 30.000
Verschwundenen Argentiniens aus den dunklen Jahren der Militärdiktatur
von 1976 bis 1983. Die Liste unschuldiger Opfer ist endlos: Eine weitere
ehemalige argentinisch-jüdische Waldorfschülerin, die von Geburt
an blinde Mónica Brüll de Guillén, wurde am 7. Dezember
1978 auf offener Straße entführt, einige Tage später dann
ihr körperlich behinderter Ehemann Juan Agustín Guillén.
Beide wurden am 21. Dezember 1978 nach Folter und Misshandlung wieder freigelassen.
Auch sie waren enge Freunde der kleinen Familie von Trudy, José
und Claudia Victoria.
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