Postmoderne Identität? Bemerkungen zu Mario Vargas Llosa Editorische Vorbemerkung: Bei dem folgenden Text handelt es sich um einen Vortrag, den ich zuerst am 11.12.1991 an der Ludwig-Maximilians-Universität München gehalten habe. Die offensichtliche Vorläufigkeit der "Bemerkungen" ließ mich damals von einer Publikation absehen. Dichte und Umfang der aktuellen Postmoderne-Diskussion würden es auch verbieten, den Text nun nachträglich zu aktualisieren. Ich gebe ihn hiermit jenen zur Kenntnis, die mich gelegentlich gefragt haben, wo sie ihn nachlesen können. Es wurden nur die notwendigsten unter den damals erforderlichen Literaturhinweise beibehalten. Wer sich über den aktuellen Stand der Forschung zum "postmodernen" Autor Mario Vargas Llosa informieren möchte, der greife zu dem Sammelband Das literarische Werk von Mario Vargas Llosa, hg. v. José Morales Saravia, Frankfurt am Main: Vervuert 2000 (Bibliotheca Ibero-Americana, 74).
1. Zur Auffassung von Postmoderne "Es ist unmöglich, daß demselbigen dasselbe und in derselben Hinsicht zugleich zukomme und nicht zukomme. Dies ist das festeste Prinzip von allen. Denn unmöglich kann jemand annehmen, daß dasselbe sei und nicht sei. (...) Alles Wahre muß mit sich selbst nach allen Seiten in Übereinstimmung sein" (Aristoteles, 15). Was uns aus der aristotelischen Logik so vertraut ist und fraglos verbindlich erscheint, was als ein Fundament aller abendländischen Denktätigkeit gelten kann, wird von den Philosophen der Postmoderne und von der entsprechenden ästhetischen Praxis wenn nicht erschüttert, so doch skeptisch beurteilt und in paradoxe Ungewißheiten überführt. Das gilt zumindest gegenüber allen Denktraditionen, die mit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (wie er in Aristoteles' Metaphysik, G 6, 1011b, niedergelegt ist) Identitäten definieren, diese für ontologisch wahr erklären und sie mit dem Anspruch auf universelle Geltung versehen. An solchen Weltbildern (Lyotard nennt sie "Meta-Erzählungen") demaskiert die postmoderne Philosophie einen falschen Ausschließlichkeitsanspruch, der etwas Partikulares zum vermeintlich Absoluten erhebt (Welsch, 5); sie denunziert unangemessene "Totalisierungen philosophischer, ökonomischer, technologischer Art" (ebd., 79), um unterschiedlichen Formen des Denkens und Handelns jeweils gleiches Recht zuzusprechen und allenfalls in der Pluralität noch so etwas wie eine universal geltende Erfahrung zu sehen. Welsch hat das eine relativ einfache Schlüsselerfahrung genannt: "daß ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sichtweise sich völlig anders darstellen kann und daß diese andere Sichtweise doch ihrerseits keineswegs weniger 'Licht' besitzt als die erstere - nur ein anderes. Licht, so erfährt man dabei, ist immer Eigenlicht. Das alte Sonnen-Modell - die eine Sonne für alles und über allem - gilt nicht mehr, es hat sich als unzutreffend erwiesen. Wenn man diese Erfahrung nicht verdrängt, sondern wirksam werden läßt, gerät man in die 'Postmoderne'. Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural" (ebd., 5). Ich will nicht leugnen, daß dies eine sehr einfache und verkürzte
Art ist, sich der Postmoderne anzunähern. Ebensowenig will ich auf
Einzelheiten eingehen oder gar neue Aspekte zur Theorie beitragen. Mein
Ziel ist bescheidener und leicht zu umreißen: Mario Vargas Llosa
gehört nicht zu den Autoren, die in der Postmoderne-Debatte eine besondere
Rolle gespielt haben. Seine Aufnahme in das Handbuchvon McCaffery besagt
wegen dessen unspezifischen Begriffs von Postmoderne wenig. Wenn ich richtig
sehe, benutzt Vargas Llosa den Begriff selber nicht, jedenfalls nicht bezogen
auf sein eigenes Werk. Dennoch halte ich es für spannend, dem Eindruck
nachzuforschen, er sei von der Mitte der 70er Jahre an in seinem Weltbild
und in der ästhetischen Praxis von "postmodern" anmutenden Einflüssen
bestimmt. Um diese Vermutung erläutern zu können, benötige
ich zwei Vorbemerkungen. Die erste betrifft die lateinamerikanische Literatur
der Gegenwart und ihre Bedeutung für die Diskussionen um Postmoderne.
Die zweite soll Hinsichten definieren, unter denen literarische Werke auf
ihren postmodernen Charakter untersucht werden können.
1.1. Lateinamerikanischer Kontext Zunächst also Lateinamerika. Seit dem "Boom" der sechziger Jahre
fragt man sich nach dem besonderen Status dieser Literatur. Einerseits
war sie zweifellos auf westliche Modelle bezogen, sei es in Bezügen
auf einzelne Vorbilder (unter denen Flaubert, E.A. Poe, Faulkner, Kafka,
Joyce und Sartre hervorragten), sei es in der eklektischen Aneignung prominenter
Beispiele abendländischer Philosophie und Literatur (wie sie bei Borges
zu beobachten ist). Unter diesem Gesichtspunkt kann sie als Fortsetzung
westlicher Traditionen verstanden werden, die, wo immer sie aufnimmt, umwandelt,
reflektiert, parodiert oder ironisiert, am Kontext dessen teilhat, was
wir die literarische Moderne zu nennen gewöhnt sind. Andererseits
versteht sie sich selber als Ausdruck einer Identität, die von der
westlichen unterschieden ist, die sich als kontinental, regional, national
oder lokal zu definieren versteht oder versucht. Dieser Doppelcharakter
erklärt, nebenbei gesagt, einen Teil des Erfolges lateinamerikanischer
Literatur in Europa: Das Eigene kommt in verwandelter Form zu uns zurück,
und es bringt uns das Andere gleich mit. Dabei rezipieren wir die Werke
häufig und wohl zwangsläufig mit unseren, aus dem Entwicklungsstand
der bürgerlichen Gesellschaft resultierenden Maßstäben,
d.h. als Kunstwerke im Sinne der von Peter Bürger (1974) so genannten
"Institution Kunst", also als zunächst von der Lebenspraxis abgehobene
und von unmittelbaren gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen freigesetzte
Werke (vgl. hierzu u.a. Bürger 1979). Denkt man von einem lateinamerikanischen
Standpunkt aus, so wird man den Status jeglicher Kunst schon aus Gründen
der gesellschaftlichen Entwicklung anders bestimmen müssen. Im selben
Maße, wie Strukturen einer bürgerlichen Gesellschaft dort als
rudimentär, die liberal-kapitalistischen Wirtschaftsformen als "verwildert"
erscheinen, haben Prozesse der Autonomisierung von Kunst nicht oder nicht
mit gleicher Konsequenz stattgefunden. Insofern "erscheint die Kultur in
Lateinamerika nicht als eine außerhalb der lebenspraktischen, politischen
und historischen Konflikte existierende Oase" (Rincón 1991, 249).
Sie hat vielmehr teil an einer gesellschaftlichen Situation, die von der
Koexistenz heterogener und widersprüchlicher Entwicklungszustände
gekennzeichnet ist. Unter diesen Bedingungen, die man zutreffend als "zugespitzte
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" (Herlinghaus, 355) bezeichnet hat,
gewinnt neben einem hohen Bedürfnis nach unmittelbarer lebenspraktischer
Wirkung von Kunst und neben dem aus einem Bewußtsein von Unterentwicklung
entstehenden Streben nach Aneignung "hochentwickelter" Kultur vor allem
eine Aufgabe Dringlichkeit: die intellektuelle und künstlerische Arbeit
an der Ausbildung einer eigenen Identität. Ich brauche hier nicht
auf die Geschichte und die Erscheinungsformen der lateinamerikanischen
Identitätsdebatte einzugehen. Es sei aber darauf hingewiesen, daß
gerade auch die Literatur des "Boom" die Frage nach der Identität
stellt und zugleich aufgrund ihrer aufsehenerregenden Eigenschaften und
ihres weltweiten Erfolges als Ausweis einer (zumindest auf ästhetischem
Gebiet) bereits gewonnenen Identität verstanden wird. Es ist keine
geringe Ironie der Geistesgeschichte, daß lateinamerikanische Intellektuelle
bei ihrem Versuch, durch gesellschaftliches Engagement und literarische
Aneignung von Vorbildern den Anschluß an die Moderne westeuropäisch-nordamerikanischen
Zuschnitts zu finden und damit ihre Identität zu definieren, sogleich
schon als nicht mehr nur modern empfunden wurden. Sie waren in der Einschätzung
der anderen zunächst "paramodern" (Sommer / Yudice, 189), dann gerieten
sie in die Mühlen der Postmoderne-Diskussion. Sie haben weder zur
Begrifflichkeit noch zu der Sache etwas beitragen wollen und sind doch
heute neben nordamerikanischen Beispielen zu den Vertretern der Postmoderne
par excellence geworden. Jorge Luis Borges gilt längst als Urvater
der Postmoderne (vgl. Herlinghaus 1991, Rincón 1991 und die dort
angegebene Literatur). Gabriel García Márquez, der doch von
ihm so unterschiedene, muß ihm diesen Rang nur aus chronologischen,
nicht aus sachlichen Gründen überlassen. Dazu Julio Cortázar,
Carlos Fuentes, José Lezama Lima, Alejo Carpentier, Manuel Puig:
In Lateinamerika wimmelt es von Postmodernen.
1.2. Formale und inhaltliche Kriterien An welchen Eigenschaften man sie denn nun erkenne - diese Frage ist
Gegenstand der zweiten angekündigten Vorbemerkung. Selbst wenn wir
uns auf die Literatur (und in ihr auf erzählende Werke) beschränken,
ist die Antwort schwierig, weil oft uneindeutig. Es hat nicht an klassifizierenden
Schemata gefehlt, die "Moderne" und "Postmoderne" einander gegenüberstellen
(vgl. u.a. Hassan 1982, 267 f.; Hoffmann u.a. 1977). Im Bereich der literarischen
Analyse rate ich aus zwei Gründen zur Vorsicht mit solchen Begriffsrastern.
Zum einen ist "Postmoderne" in der Philosophie gewiß wohldurchdacht
und begründbar, in der Architektur vielleicht am greifbarsten materialisiert
und am anschaulichsten. Literatur aber hat immer schon von Grenzüberschreitungen
gelebt, hat es verstanden (und war dazu da) das Gegebene, Geglaubte, Gebotene
in Frage zu stellen, es zu transzendieren, zu parodieren oder doch zumindest
im Modus der Fiktion fragend zu begleiten. Zudem konnte Literatur seit
jeher mit ihren eigenen Mitteln spielen, konnte sich selbst bespiegeln,
ironisch oder augenzwinkernd unschuldig sein, ohne daß man ihr deswegen
gleich ein neues ästhetisches Etikett hätte verpassen müssen.
Deswegen sollte man nicht einzelne Merkmale formaler Art zum Anlaß
nehmen, um gleich "postmodern" zu rufen. Denn nach solchen Maßstäben,
da gebe ich Umberto Eco recht, hätte jede Epoche ihre Postmoderne
und man käme bei der Suche nach Vorläufern sehr bald bei Homer
an (Eco, 77). Eine zweite Vorsichtsmaßnahme hat wieder mit der Identitätsfrage
zu tun, denn diese ist ja nicht allein "modern", sie ist eine Konstante
des abendländischen Denkens. Zweifel an Identität, an Wahrheit
und totaler Geltung gehören sozusagen zur Grundausstattung des abendländischen
Menschen. Eine in Frage gestellte Identität, eine bezweifelte Wahrheit
sind noch keine Ausweise postmoderner Befindlichkeit. Postmodernes Denken
beginnt erst dort, wo Identität und Nicht-Identität zusammen
gedacht und gestaltet werden können. Wo also die Identität durch
Anzweifeln zwar ihres universalen Geltungsanspruches beraubt, aber nicht
als Identität aufgehoben werden kann; wo andererseits das Differente
nicht mehr nur als Abfallprodukt eines Bemühens um Identität
aufgefaßt, sondern als der Identität gleichwertiges Anderes
verstanden werden kann. Als logische Übung scheint uns dies unmöglich
zu sein. Nehmen wir aber als ein immer wieder zitiertes Beispiel die Erzählung
Pierre Menard, autor del Quijote von Borges: Ein Autor des frühen
20. Jahrhunderts nimmt sich vor, Cervantes' Don Quijote neu zu schreiben,
alle Erfahrungen und alles Wissen, die seit dem Goldenen Zeitalter gewonnen
wurden, mitzuberücksichtigen, hineinzuschreiben. Das Ergebnis sind
ein paar Seiten, die Wort für Wort mit Cervantes' Original identisch
und doch, da mehr als drei Jahrhunderte später und notwendigerweise
in einem ganz anderen Prozeß entstanden, unterschieden sind. Borges
demonstriert mit dieser Erzählung, daß etwas, das uns logisch
unmöglich zu sein scheint, sprachlich verwirklicht werden kann: Es
ist möglich, den Unterschied zwischen Identität und Nicht-Identität
aufzuheben und zu zeigen, daß Identität und Nicht-Identität
gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander existieren können
(vgl. Gumbrecht, in Gumbrecht / Weimann, 67). Das ist eine Grunderfahrung
postmodernen Denkens; und nur dort, wo wir diese Erfahrung oder von ihr
abgeleitete oder ihr entsprechende auffinden können (und zwar im gedanklichen
Kern und nicht allein an der formalen Oberfläche) sind wir berechtigt,
von postmoderner Literatur zu sprechen. Alles Weitere läßt sich
leicht von diesem Kern aus entfalten (wobei ich im folgenden immer nur
Tendenzen nenne): Wo modernes Denken zielgerichtet und zweckgeleitet erscheint,
da tendiert postmodernes dazu, die Ziele und Zwecke selber zum Gegenstand
zu machen, ohne sich von je einem leiten zu lassen. Wo die Moderne nach
Werken strebt, nach Kunstwerken von eigenem Status, mit "Sinn", "Gehalt"
und fertiger Form, da präsentiert die Postmoderne Vorgänge, Prozesse,
die zwischen verschiedenen Sinnaussagen ablaufen und die keine abgeschlossene
Form finden. Und wo moderne Literatur Elemente der Wirklichkeit auswählt,
determiniert und auf einen einheitlichen Sinn hin deutet, da kombiniert
postmoderne Literatur solche Elemente, multipliziert sie und verweigert
eine letztgültige Interpretation. Man beobachtet dabei eine vielfältige
Aufhebung von Grenzen: Der Ordnung steht die Unordnung nicht mehr gegenüber,
sondern beide existieren mit- und ineinander. Geschichte ist Fortschritt
und Rückschritt, Aufklärung ist auch ein Aberglaube, Schönheit
ist Harmonie und Disharmonie, Kunst mischt Vollkommenes und Unfertiges
usw. Die Unterscheidung zwischen Kunstliteratur und Massenliteratur ist
ebenso hinfällig wie die zwischen Realität und Fiktion, zwischen
den Gattungen, den Stilen, den formalen Einzelelementen literarischer Gestaltung.
2. Allgemeines zu Vargas Llosa Zu Beginn dieses Abschnitts werden Sie sagen: Jetzt kommt er endlich zum Thema. Mario Vargas Llosa, unzweifelhaft ein Autor des lateinamerikanischen "Booms", war mit seinen ersten drei Romanen (Die Stadt und die Hunde, Das Grüne Haus, Gespräch in der Kathedrale) zwar ein eigenwilliger und engagierter, auch in Maßen experimenteller Erzähler, aber man hatte keinen Anlaß, ihn als "para-" oder "postmodern" zu beurteilen. In seiner bitteren Kritik peruanischer Zustände waren die Ziele und Zwecke eindeutig zu erkennen. Zwar handelte es sich nicht um Thesenliteratur, denn wie jeder guter Autor verweigerte er eine ausdrückliche "Moral von der Geschicht'", doch waren die Angriffe auf gesellschaftliche Mißstände bruchlos aus seiner öffentlich vertretenen sozialistischen Position zu erklären und standen ohne Zweifel in deren Diensten. Keine Schwierigkeit also, Vargas Llosa als einen Autor der Moderne zu beschreiben: Kritisch im Dienste des Fortschritts, aufklärerisch, engagiert und einer einheitlichen ideologischen Position verpflichtet. Um die spätere Entwicklung akzentuieren zu können, greife ich zwei Romane heraus: La guerra del fin del mundo (1981) und El hablador (1987). Ich verzichte dabei auf die Erläuterung einer Übergangsphase, in der Pantaleón y las visitadoras (1973) und La tía Julia y el escribidor (1977) entstanden - beides Romane, an denen man beobachten kann, wie zumindest die Darstellungsweise und möglicherweise auch das Weltbild des Autors sich zum Postmodernen hin wandelt. 2.1. La guerra del fin del mundo Der Krieg am Ende der Welt gehört einem besonderen Typus des historischen
Romans an (zum Werk insgesamt vgl. Scheerer 1992). Er folgt keiner geschichtsphilosophischen
These, ordnet die historischen Abläufe nicht nach einem einheitlichen
Erklärungsmuster, verleiht ihnen keinerlei ontologischen Sinn. Stattdessen
prallen Ideen und Handlungen der widersprüchlichsten Art so aufeinander,
daß alle Protagonisten Recht und Unrecht zugleich haben. Erzählt
wird eine Episode der brasilianischen Geschichte des späten 19. Jahrhunderts.
Im Jahre 1897 haben Truppen der jungen Republik eine religiöse Sammlungsbewegung
um den Prediger Antônio Conselheiro niedergeschlagen, indem sie die
Siedlung Canudos im Nordosten des Bundesstaates Bahía dem Erdboden
gleichmachten und dabei Tausende von Menschen töteten. Vargas Llosa
rekonstruiert die Vorgänge im Sinne einer "intrahistoria", das heißt
er schreibt Geschichte als ein Netz von Beziehungen zwischen unterschiedlichen
Weltbildern und Handlungsweisen. Alle diese Partikularitäten verstehen
sich selber aber als Totalitäten, als wahre und gültige Erklärungen
der Welt. Es sind "Meta-Erzählungen" im Sinne Lyotards, Weltbilder
mit universalem Geltungsanspruch, Ideologien mit der ihnen eigenen Behauptung
exklusiver Wahrheit. Alle Protagonisten halten ihre jeweilige Fiktion -
die aus einem Anteil an zutreffender Realitätsanalyse, aber auch aus
Unwissenheit, Irrtümern, Lügen und Fanatismus besteht - für
die einzig gültige Erklärung der Welt. Neben solchen Fiktionen
verarbeitet Vargas Llosa eine bereits vorliegende Darstellung des Geschehens:
das Buch Os Sertôes von Euclides da Cunha. Er verwertet nicht nur
dessen Material, sondern entwirft eine Romanfigur, die den Autor Euclides
da Cunha in das geschilderte Geschehen zurückstellt und ihn dabei
in eine tragikomische Parodie verwandelt: in jenen kurzsichtigen Journalisten,
der als korrupter Lohnschreiber beginnt, dann mitten in die Schlacht gerät,
als einer der wenigen überlebt und viel später ohne großen
Erfolg nachforscht, was denn nun tatsächlich geschehen, was die eigentlichen
Motive der Handelnden und was der Sinn der Geschichte gewesen sei. Daß
Vargas Llosa seine Fiktion als Reflexion über Fiktionen konstruiert,
macht den Roman zur "historiographischen Metafiktion" (Hutcheon, 5) - zu
einer prominenten Form postmoderner Geschichtsauseinandersetzung. Deren
Ziel ist nicht die Herstellung eines Konsenses (eines Sinngehalts der Geschichte
und einer allgemein akzeptierten Geschichtsdeutung), sondern die kritische
Befragung der Möglichkeit von Konsens als solchem. "Postmodernism
works to show that all repairs are human constructs, but that, from that
very fact, they derive their value as well as their limitation. All repairs
are both comforting and illusory. Postmodernist interrogations of humanist
certainties live within this kind of contradiction" (ebd., 7 f.). Es ist
demnach nicht Aufgabe des Romanciers, der Vielfalt geschichtlicher Kräfte,
individueller Ansprüche oder ideologischer Entwürfe ein neues
Element hinzuzufügen oder auch nur der Vielfalt als solcher einer
transzendente Begründung zu verschaffen. Seine Aufgabe ist allein
eine "interne (...) Analyse und Erhellung dieser Konstellation" (Welsch,
182). Also doch ein oberflächlich-fatalistisches "Anything goes"?
Bedeutet eine solche Haltung nicht eine leichtfertige Hinnahme des Gewesenen
und Gegebenen, und allenfalls einen in moralischer Indifferenz aus dem
historischen Chaos gezogenen, ausschließlich ästhetischen Gewinn?
So einfach darf man weder die Haltung Vargas Llosas noch die Leistung des
Romans abtun, denn wenn in seinem Geschichtsbild "zwischen den heterogenen
Ansprüchen keine rechtlich begründete Entscheidung mehr getroffen
werden kann" (Welsch 1983), dann bedeutet das noch nicht die Beliebigkeit
der Form, in der diese Ansprüche artikuliert werden dürfen und
in der ihre Verwirklichung praktisch in Angriff genommen zu werden hat.
Mit "Form" sind hier soziale Regeln gemeint, rechtlich und institutionell
gesicherte Verhaltensnormen für Konkurrenz unterschiedlicher ideologischer
wie politischer Projekte. Es bedarf keiner großen Anstrengung, um
festzustellen, daß Vargas Llosa, sieht man sein Geschichtsbild auf
diese Weise, in einen zentralen Bezirk der Moderne zurückführt:
In die Garantie des "pursuit of happiness", der persönlichen und politischen
Rechte, der Gewaltenteilung, der Herrschaft der Mehrheit unter Wahrung
des Rechts der Minderheit usw. Wenn postmodernes Denken für sich in
Anspruch nimmt, die Demokratie als "eine Organisationsform (...) für
den Dissens von Ansprüchen und Rechten" (ebd.) allererst ernst zu
nehmen, dann wäre Vargas Llosa ein postmoderner Autor. Er ist es aber
nur im präzisen Sinne jener Variante postmodernen Denkens, die keinem
Bruch mit der Moderne und schon gar nicht ihrer Ablösung durch eine
Folge-Epoche das Wort redet, sondern vielmehr uneingelöste Ansprüche
der Moderne wiederaufnimmt, ihre fruchtlose Routine aufbricht und ihre
bis in extreme Unmenschlichkeit vorangetriebenen Irrwege aufzeichnet. Insofern
wäre "Postmoderne" nicht viel anderes als die Verpflichtung der Moderne
auf ihre grundlegenden Ideen und ihre zentralen Ansprüche. Diese werden
neu gedacht und mit neuer Hoffnung belegt: Es gilt, die radikale Pluralität
als einen notwendigen und positiven Zustand zu denken und die Sicherung
ihrer Praxis als lohnenswerte Aufgabe zu verstehen. Ohne Schwierigkeiten
kann man aus diesem Roman denn auch ein implizit "modernes" Weltbild und
ebensolche politische Ziele herauslesen. Auseinandersetzungen um Staats-
und Regierungsformen sind so alt wie die Staaten Lateinamerikas. Sie hatten
sich seit der Mitte der 70er Jahre (als der Autor an dem Roman zu arbeiten
begann) auf eine Alternative zugespitzt, deren nationale Konkretisationen
man beispielsweise in Chile (mit seiner reaktionären Diktatur) und
auf der anderen Seite in Kuba (mit seiner sozialistischen Revolution) vor
Augen hatte. "Modern" und "fortschrittlich" zu sein, nahmen beide Lager
für sich in Anspruch. Keine Diktatur, die nicht das Land modernisieren
wollte (und wenn sie darunter nur militärische Aufrüstung und
Teilhabe der Oligarchie am Wohlstand des Westens verstand); keine Revolution,
die nicht auf Fortschritt zielte (auch wenn sie diesen mit internationaler
Isolation und ökonomischem Mangel bezahlen mußte). Vargas Llosa
ist in seiner Haltung zu diesen Extremen einen langen Weg gegangen und
überraschte mit Seitenwechseln: Anfangs vertrat er vehement die kubanische
Revolution, von der er sich 1971 lossagte; er befürwortete dann kurz
die linksrevolutionäre Militärregierung Velasco Alvarado in Peru,
wandelte sich zum Anhänger einer Sozialdemokratie europäischen
Zuschnitts, um später (lange nach diesem Roman) ein liberal-konservatives
Gesellschaftsmodell für die Länder des Subkontinents zu empfehlen.
La Guerra del fin del mundo ist in dieser Entwicklung als Absage an die
"Meta-Erzählung" der sozialistischen Revolution und als Plädoyer
für eine demokratisch verfaßte Möglichkeit des Ausgleichs
zwischen konkurrierenden Interessen und Diskursen zu verstehen. Wo immer
sein Geschichtsbild und seine Darstellungsweise "postmodern" anmuten, stehen
sie doch im Dienste eines zutiefst der Moderne verpflichteten Projekts.
2.2. El hablador Diese Eindeutigkeit ändert sich ausgerechnet mit Der Geschichtenerzähler. Ich sage "ausgerechnet", weil dieser Roman einer Gattung angehört, die in Lateinamerika von jeher benutzt wurde, um Thesen zur gesellschaftlichen Entwicklung zu gestalten und Fragen der Identität aufzuwerfen. Es handelt sich um ein Beispiel der "indigenistischen", dem Problem der Ureinwohner und ihrer Lage gewidmeten Romanliteratur. Es sei im folgenden gezeigt, daß das Werk in seiner Konstruktion und in seinen Aussagen einen qualitativen Sprung hin zu "mehr Postmoderne", aber auch eine Abkehr von der eben skizzierten "modernen Postmoderne" bedeutet. Zunächst zur Konstruktion des Romans. Man findet mindestens fünf Diskurse, die auf formal sehr einfache Art in eine Konstellation zueinander gebracht werden: Da ist erstens ein autobiographischer Erzählstrang, dem man, was die Daten und Umstände betrifft, durchaus vertrauen kann. Ein dem realen Autor entsprechendes Ich berichtet in der Rahmenerzählung von der überraschenden Begegnung mit einem Photo. In Florenz, weit entfernt von Peru, findet er in einer Galerie eine Ausstellung von Bildern aus dem Amazonasgebiet. Darunter ist ein Photo, das um einen Geschichtenerzähler gescharte Eingeborene zeigt. Dieses Bild ist der Anlaß für Erinnerungen an des Erzählers eigene Begegnungen mit Indios und dem Indio-Problem. Zweitens findet man einen mythographischen Diskurs: Jedes zweite Kapitel hat von einem Geschichtenerzähler wiedergegebene Mythen des Eingeborenenvolks der Machiguenga zum Inhalt. Das erzählende Ich ist zunächst weitgehend undefiniert: Es erzählt, was es weiß, weil man es ihm erzählt hat. Daß die wiedergegebenen Mythen nach dem Maß des Möglichen authentisch sind, verbürgt der Autor durch Nennung schriftlicher Quellen, die er ausgewertet hat. Der mythographische Diskurs beruht also auf einer doppelten Transposition: Was andere bereits aus der Oralität in die Schriftlichkeit transponiert haben, wird in eine Fiktion von Oralität zurückübersetzt. Drittens ist in den autobiographischen ein essayistischer Diskurs hineingefügt: Diskussionen über das Indio-Problem, die schon der Schüler Vargas Llosa geführt hat, dann der Student, der Journalist und der recherchierende Autor literarischer Werke. Viertens geht aus der Autobiographie ein fiktiver Diskurs hervor: Die Geschichte des Schulfreundes Mascarita, eines Aussenseiters, der glühend die Sache der Indios vertritt, der seine Spuren in der Gesellschaft von Lima verwischt, um - was erst am Ende deutlich wird - zu den Machiguenga zu gehen und dort zwanzig Jahre lang die Rolle des Mythenerzählers auszufüllen, womit er dem Volk einerseits hilft, seine Identität aufrechtzuerhalten, andererseits selber die alte westliche Identität zugunsten einer indianischen aufgibt. Und fünftens schließlich findet man eine metaliterarische Diskursebene, die ganz unterschiedliche Elemente vereint: Mascarita erzählt den Machiguenga in der Form ihres Stammesmythos auch zwei Geschichten der abendländischen Tradition, nämlich die von Jehova und dem auserwählten Volk und die von Gregor Samsa, der Figur aus Kafkas Erzählung Die Verwandlung. Er zitiert Geschichten westlicher Herkunft im Gewande eines Ureinwohnermythos. Der andere Erzähler - Vargas Llosas Ich - tut etwas Ähnliches: Er beginnt seinen Roman als Pastiche zweier literarischer Modelle, nämlich des Abenteuerromans im Stile des 19. Jahrhunderts und der philosophisch-phantastischen Erzählung im Stile des Jorge Luis Borges. Forscht man nun der Konstellation der Diskurse und den von ihnen repräsentierten Welten nach, so ergibt sich ein scharfer Kulturkontrast: Auf der einen Seite der kosmopolitisch orientierte Erfolgsautor (Vargas Llosa auf Bildungsreise in Florenz) und die westliche Welt. Zur letztgenannten gehören auch die wissenschaftlichen und politischen Diskussionen um die Indiofrage, die Exkursionen der Studenten in das Amazonasgebiet, die dort tätigen nordamerikanischen Linguisten und Missionare; die Dominikanerpriester in Madrid (bei denen Vargas Llosa nachforscht); dann die Serie von Fernsehreportagen, die ihn wieder zu den Amazonasindianern führt usw. Eine überaus aktive, wissensdurstige und problembewußte Welt, deren wissenschaftlicher, missionarischer und politischer Eifer sich auch der Indiofrage bemächtigt hat. Auf der anderen Seite die Welt der Ureinwohner, soweit wir sie erkennen können: Ein Mythos, der die Einheit von Mensch, Tier und Natur darstellt; der die Existenz von Gut und Böse erläutert und der, weil er ein Wandermythos ist, dem Volk erklärt, daß und warum es beständig weiterziehen muß, um den Bedrohungen durch die Natur und die Nachbarvölker zu entgehen. In diesem Mythos, so wird deutlich, werden alle Lebensumstände des Volkes in einer einheitlichen sprachlichen Form erklärt und bewältigt. Alte und neue Erfahrungen sind wahr und gültig, sobald der Geschichtenerzähler sie in die Form des einen, allen bekannten Mythos gebracht hat. Durch das Erzählen allein konstituiert sich diese Welt, im Erzählen wird sie erklärt, verändert, bewältigt. Der Kontrast zwischen den beiden Welten könnte krasser nicht sein: Wo die Ureinwohner durch ein einziges Medium und einen einzigen Akt (das freilich unablässig wiederholte Erzählen) nur eines erklären und vollständig verstehen, nämlich sich selber; da braucht die westliche Zivilisation viele Medien, viele Theorien und die verschiedensten Anstrengungen, um sich etwas Fremdem, nämlich der Kultur der Indios, zu nähern, ohne es freilich je ganz zu verstehen. Die Indios, könnte man sagen, sind völlig mit sich identisch; die westliche Kultur ist weder mit sich identisch, noch kann sie das Differente am Fremden genau bestimmen. Der Roman ist weit davon entfernt, eine These zur Indiofrage zu formulieren oder sogar Lösungen vorzuschlagen. Er konfrontiert die extrem unterschiedlichen Welten und zeichnet Bedeutungslinien, Problemhintergründe und Handlungsmuster nach. Es gibt in ihm keine verbindliche Wirklichkeit, oder anders gesagt: Die Wirklichkeit besteht aus vielen Wirklichkeiten, aus Auffassungen, Hypothesen, Überzeugungen, so daß eine letztgültige Erkenntnis unmöglich ist. An die Stelle der Ermittlung einer Wahrheit tritt die Spekulation über Bedingungen und Folgen einzelner Wahrheiten, so daß die Diskurskonkurrenz zwischen den Wahrheiten unterschiedlicher Kulturen deutlich wird. Selbst die Imagination reicht nicht aus (oder ist nicht dazu bestimmt), einen wie auch immer gedachten ontologischen oder transzendenten "Sinn" des Geschehens oder der Verhältnisse zu entwerfen. El hablador ist weniger ein Roman, als ein Roman über die Unmöglichkeit, einen Roman über das Thema zu schreiben (vgl. Scheerer 1991, 154). Die literarische Schöpfung führt zu keiner Idealität, sondern zur selbstreflektierten Dekonstruktion realer, konkreter, manchmal auch banaler Erkenntnisbemühungen. In den erfolglosen Recherchen des Erzählers spiegelt sich die Negation der Erkennbarkeit der Welt. Weder die westliche Zivilisation mit ihren intellektuellen Traditionen, technischen Mitteln und praktischen Bemühungen noch ein sonst erfolgreicher Künstler sind in der Lage, sichere Erkenntnisse über das zu erkennende Subjekt zu gewinnen. Im Unterschied zum Krieg am Ende der Welt läßt sich keine Rückbindung der gestalteten Pluralität an Ideale der Moderne erkennen. Insofern ist Der Geschichtenerzähler nach Konstruktion und Weltbild "postmoderner" als der vorgenannte Roman. Er stellt eine Pluralität dar, die es als Pluralität anzuerkennen gilt, als Koexistenz simultaner, rivalisierender, interagierender Diskurse, Erklärungsmuster, Lebensweisen. Das bedeutet auch eine Stellungnahme in der lateinamerikanischen Identitätsfrage, denn Identität im herkömmlichen Sinne findet sich nur als archaischer Rest, als die zeitlosen, selbstbezogenen Mythen des Ureinwohnervolks. Die Machiguenga sind zwar faktisch nicht unangefochten - sie werden von Missionaren und Forschern heimgesucht, schließlich sogar von einem Photographen -, doch von ihrem Selbstverständnis her sind sie völlig mit sich identisch. Schwierigkeiten mit der Selbstdefinition, der Erklärung der Welt und der Bestimmung des richtigen Handelns hat nur die "westliche" und "zivilisierte" Welt. Man mag darüber streiten, ob Vargas Llosa mit dieser Sicht der Dinge ein reales gesellschaftliches Problem zu ästhetischen und kommerziellen Zwecken ausbeutet, oder ob es ihm gelingt, jenen "Freiheitsgewinn" (Welsch, 7) plausibel zu machen, den man postmoderner Ankerkennung von Pluralität zuspricht. Die Autorfigur im Roman stellt sich jedenfalls weniger als befreit, denn als bedrückt dar. Das Ich ist ein elegischer, resignativer und sentimentaler Denker. Man versteht sehr gut, warum die Institution des Geschichtenerzählers ihn so sehr fasziniert, daß er sich mit Hilfe des imaginierten "alter ego" Mascarito in sie hineinphantasiert: In der archaischen Gesellschaft hat auch der Erzähler einen festen Platz, ja er ist sogar der Hauptverantwortliche für die Realisierung der Identität, für die Entfaltung des einen, identitätssichernden Mythos. An dem nostalgischen Ich, das eine solche Rolle in der gegenwärtigen westlichen Welt nie erreichen könnte, liest man ab, daß der mögliche Freiheitsgewinn postmoderner Pluralitätserfahrung auch seinen Preis hat, nämlich eine "neue Sensibilität für Problemlagen" und damit "eine Verschärfung von Problemlasten" (Welsch, 7). Allerdings muß man Vargas Llosa nach diesen Befunden nicht zum fraglos postmodernen Autor erklären. In den beiden besprochenen Romanen ist auch ein Leiden an den scharf erkannten Problemen zu spüren. Und kann ebenso gut gelten, was François Lyotard einmal festgestellt hat: Daß nämlich die Trauer über den Verlust des einheitlichen Sinns der Welt eine Haltung ist, die noch der Moderne angehört.
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