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Christoph Martin Wieland

W i e   m a n   l i e ß t
 
EINE ANEKDOTE


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Es würde wenig helfen, dem Publico eine Confidenz von meinen eigenen Erfahrungen, wie man gelesen wird, zu machen; viele davon würden hinlänglich seyn, den entschlossensten und harthäutigsten Autor auf ewig abzuschrecken - »Und haben euch gleichwohl nicht abgeschreckt« grinßt mir ein Satiro maligno zu. - Ich bekenne gerne, daß ich ihm lieber nichts antworten als die Schuld auf das Schicksal schieben will. Aber dieser Tage las ich in einem französischem Buche eine Anekdote diesen Artikel betreffend, womit ich - wie sich alles Gute gerne mittheilt - meine Leser, zu eignem beliebigen Nachdenken, regalieren will. Facta sind immer lehrreicher als Declamationen. Der Autor - sein Name thut nichts zur Sache, aber er ist, in meinem Sinne, noch einer von den besten, die sich izt zu Paris von der Bücherfabrik nähren - spricht von den manchfaltigen Ungemach, dem die Schriftsteller ausgesetzt sind, bis der Tod ihrem Leiden ein Ende macht, und die Zeit ihre Werke entweder in den Abgrund der Vergessenheit gestürzt, oder, zu spät für den armen Autor! mit Preis und Unsterblichkeit krönt. Das Unglük, obenhin, unverständig, ohne Geschmak, ohne Gefühl, mit Vorurtheilen, oder gar mit Schalksaugen und bösem Willen gelesen zu werden - oder, wie die meisten Leser, die nur zum Zeitvertreib in ein Buch gucken - oder zur Unzeit, wenn der Leser übel geschlafen, übel verdaut, oder unglüklich gespielt, oder sonst ein Mangel an Lebensgeistern hat - oder gelesen zu werden, wenn gerade dieses Buch, diese Art von Lectüre unter allen möglichen sich am wenigsten für ihn schikt, und seine Sinnesart, Stimmung, Laune, mit des Autors seiner den vollkommensten Contrast macht - das Unglük, so gelesen zu werden, ist nach der Meynung des besagten Autors, keines von den geringsten, welchen ein Schriftsteller (zumal in Zeiten, wie die unsrige, wo Lesen und Bücherschreiben einen Hauptartikel des National-Luxus ausmacht) sich und die armen ausgesezten Kinder seines Geistes täglich und unvermeidlich bloßgestellt sehen muß. Unter hundert Lesern kann man sicher rechnen von achtzig so gelesen zu werden; und man hat noch von Glük zu sagen, wenn unter den Zwanzig übrigen etwan Einer ganz in der Verfassung ist, welche schlechterdings dazu gehört, um dem Werke das man ließt (und wenn's auch nur ein Madrigal wäre) sein völliges Recht anzuthun. Was Wunder also, wenn den besten Werken in ihrer Art, und in einer sehr guten Art, oft so übel mitgespielt wird? Was Wunder, wenn die Leute in einem Buche finden was gar nicht drinn ist; oder Aergernis an Dingen nehmen, die, gleich einem gesunden Getränke in einem verdorbenen Gefäße, bloß dadurch ärgerlich werden, weil sie in dem schiefen Kopf oder der verdorbnen Einbildung des Lesers dazu gemacht werden? Was Wunder, wenn der Geist eines Werkes den Meisten so lange, und fast immer unsichtbar bleibt? Was Wunder, wenn dem Verfasser oft Absichten, Grundsätzen und Gesinnungen angedichtet werden, die er nicht hat, die er, vermöge seines Charakters, seiner ganzen Art zu existiren, gar nicht einmal haben kann? Die Art, wie die Meisten lesen, ist der Schlüssel zu allen diesen Ereignissen, die in der litterarischen Welt so gewöhnlich sind. Wer darauf acht zu geben Lust oder innern Beruf hat, erlebt die erstaunlichsten Dinge in dieser Art. Die ungerechtesten Urtheile, die widersinnigsten Präventionen, die oft für eine lange Zeit zur gemeinen Sage werden, und zuletzt, ohne weitere Untersuchung, für eine abgeurtheilte Sache passiren, wiewohl kein Mensch jemals daran gedacht hatte, die Sache gründlich und unpartheiisch zu untersuchen - haben oft keine andre Quelle als diese. Der Autor und sein Buch werden, mit Urtheil und Recht, aber nach eben so feinen Grundsätzen, nach einer eben so tumultuarischen und albernen Art von Inquisition, kurz mit eben der Iniquität oder Sancta Simplicitas verdammt, wie ehemals in ganz Europa, und noch heutigs Tages in einigen hellen Gegenden unsers lieben teutschen Vaterlandes - die Hexen verbrannt werden. Hier ist das Exempelchen, womit wir diese kleine vorläufige und vergebliche Betrachtung krönen wollen.
Rousseaus Neue Heloise war vor kurzem ans Licht getreten. In einer großen Gesellschaft behauptete Jemand, Jean-Jacques hätte in diesem Buche den Selbstmord gepredigt. Man hohlte das Buch herbey; man laß den Brief vom St. Preux wo die Rede davon ist. Alle Anwesenden schrien überlaut, man sollte ein solches Buch durch den Henker verbrennen lassen; und den Autor - es fehlte wenig, daß sie nicht auch den mit ins Feuer geworfen hätten. Indessen, da J. J. Rousseau gleichwohl für einen großen Mann passirt, so fanden sich einige, denen es billig dünken wollte, ehe man zur Execution schritte, die Sache näher zu untersuchen. Sie lasen den vorgehenden Brief, und dann den folgenden: und da fand sich, daß gerade dieser Brief ganz entscheidende Gründe gegen den Selbstmord gab, und daß J. J. Rousseau über diesen Punct ganz gesunde Begriffe hatte. Aber die Sage des Gegentheils hatte nun einmal überhand genommen; die Gansköpfe hielten fest, und fuhren fort mit ihrer eignen Dummdreistigkeit zu versichern, Jean-Jacques predige auf der und der Seite seines Buchs den Selbstmord, wiewohl er auf der und der Seite just das Gegentheil that.
»Was ist nun mit solchen Leuten anzufangen?«  Nichts.
»Was soll ein Schriftsteller, der das Unglük hat in einen solchen Fall zu kommen, zu Rettung seiner Unschuld und Ehre sagen?«  Nichts.
»Was hätte ihn davor bewahren können?« Nichts.
»Sollte denn kein Mittelseyn?« O ja, ich besinne mich - er hätte selbst ein Ganskopf seyn - oder auch gar nichts schreiben - oder, was das sicherste gewesen wäre, beym ersten Hineingucken in die Welt den Kopf gleich wieder zurükziehen und hingehen sollen woher er gekommen war -
»Das sind Extrema -«  So denk ich auch.

    Ja, freylich ist der Menschen kurzes Leben
    Mit Noth beschwert, wie Avicenna spricht.

Mit den Autoren ist kein Mitleiden zu haben - und den Lesern ist nicht zu helfen. Aber gleichwohl wäre zu wünschen, daß die Leute besser lesen lernten.


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