|
Nachrichten von Thümmels
Leben.
In dieser kurzen Biographie
soll weniger auf die einzelnen Umstände seines im Ganzen einfachen
und wenig bewegten Lebens Rücksicht genommen, als vielmehr die Entstehung
seiner Schriften besprochen werden, welche den Verfasser als einen der
geistreichsten Menschen bezeichnen und der deutschen Literatur zur größten
Ehren gereichen.
Der vorliegende Text folgt den Kriterien, die
für das Gesamtwerk angegeben wurden.
|
Moritz August von Thümmel wurde
den 27. Mai 1738 zu Schönfeld, einem Rittergute bei Leipzig, geboren.
Sein Vater, Carl Heinrich, war Chursächsischer Landkammerrath und
seine Mutter eine geborene v. Böhlau aus dem Hause Wünschendorf.
Er war unter vierzehn Geschwistern der zweite Sohn. Seine Eltern waren
im schlesischen Krieg um einen großen Theil ihres Vermögens
gekommen; trotz dem blieb gute Erziehung ihrer Kinder ihre eifrigste Sorge,
und wenn der Unterricht hie und da mangelhaft war, so lag dieß nicht
an ihnen. Schon im zwölften Jahre gab unser Thümmel einen Beweis
von seltener Geisteslebendigkeit. Sein Hauslehrer, der sich um eine Pfarre
beworben, hatte eine Probepredigt ausgearbeitet. Sie wurde, bevor sie auswendig
gelernt war, unglücklicherweise von einem Raben, der Thümmeln
und seinen Geschwistern als Spielzeug diente, in tausend Stücke zerrissen.
Der gute Candidat war zu beschränkt, als daß er in der kurzen
Frist das mühsame Werk hätte wiederherstellen können; da
half ihm der junge Moritz aus der Verlegenheit; er verfertigte schnell
eine Predigt, die der geängstigte Lehrer hielt und womit er die Pfarre
errang. Es war dieß wohl Thümmels erste Arbeit.
Im Jahr 1754 kam Thümmel auf die Schule
zu Roßleben in Thüringen. Er widmete sich mit Fleiß und
Erfolg den Wissenschaften; die Lehrer gewannen ihn und er die Lehrer lieb.
Hier besang er 1755 den Geburtstag seiner Mutter; diese und in den folgenden
Jahren bei ähnlichen Anlässen geschriebenen Verse bewahrte er
sehr sorgfältig auf; in die Sammlung seiner Gedichte ist aber nichts
davon übergegangen. — Im Jahr 1756 bezog er unter dem Waffenlärme
des siebenjährigen Kriegs die Universität Leipzig und wurde von
Gottsched
immatrikulirt. Er sollte Rechtswissenschaft studiren, aber bei seinem Hange
zu den schönen Wissenschaften wurde bald Gellert sein Hauptlehrer.
Voltaire war schon damals sein Lieblingsschriftsteller, und mit Zittern
bot er einst in einer Versteigerung auf die Werke desselben, fürchtend,
der Preis möchte die Kräfte seiner Kasse übersteigen. Vom
glücklichsten Einfluß auf seine Bildung waren die Freundschaftsbande,
die er in Leipzig mit Kleist, Rabener, Gellert, v.
Bose und Weisse schloß. Der Letzte namentlich blieb das
ganze Leben hindurch sein vertrautester Freund, Korrespondent und literarischer
Rathgeber. Weisse hat in jeder Hinsicht den größten Einfluß
auf Thümmels Leben und Bildung gehabt. Weisse hat ihn beim Publikum
als Schriftsteller eingeführt; ohne seinen Rath, ohne sein Gutheißen
ließ Thümmel nichts drucken, und in keinem Lebensverhältnisse
hatte er ein Geheimniß vor ihm. Ihr Briefwechsel dauert von 1760
bis zu Weisses Tode im Jahr 1804 fort. — Gellert behielt bis zu seinem
Tode für Thümmel die herzlichste Freundschaft und Theilnahme
an seinen Schicksalen.
Im Jahr 1761 trat Thümmel in Sachsen=Coburgsche
Dienste als Kammerjunker beim Erbprinzen, nachmaligem Herzog Ernst Friderich.
Er sah sich hier in jeder Beziehung in den angenehmsten Verhältnissen,
wenn er sich auch in die Hofsitten, welche er in seinen Schriften vielfältig
so vortrefflich zeichnet, nicht sogleich zu finden wußte. Er gesteht
in seinen Briefen an Weisse, daß er einige Jahre gebraucht habe,
um in der Quintessenz der Hofmannswissenschaft, in der Kunst, einem unbefangen
ins Gesicht zu lügen, recht fest zu werden. — Seit seinem Aufenthalt
in Coburg arbeitete Thümmel an der von seinem Freund Weisse herausgegebenen
Bibliothek der schönen Wissenschaften mit; dort recensirte er unter
Anderem Zachariäs Gedichte, C. F. v. Mosers „Herrn und
Diener, Daniel in der Löwengrube u.s.w." Bald aber sollte er mit einem
selbstständigen Werke auftreten, das die Blicke des ganzen literarischen
Deutschlands auf ihn lenkte. Er führte häufig mit seinem Universitätsfreunde
v.
Bose, Coburgschem Regierungsrath, einem sehr talentvollen und unterrichteten
Manne, Gespäche über Literatur und Kunst, und so stritten sie
einmal im Jahr 1762 über den Werth der poetischen Prosa. Bose erkannte
hierin der französischen Literatur unbedingt den Vorrang zu und erklärte
Fenelons Telemach für ein unerreichtes Muster. Thümmel vindicirte
unserer Sprache das Vermögen, sich so kräftig und gewandt in
poetischer Prosa auszudrücken, als die französische, und machte
sich anheischig, selbst den Beweis dafür zu liefern.
So entstand in wenigen Wochen die Wilhelmine,
jenes liebenswürdige schalkhafte Gedicht, das, wie sich auch der Geschmack
in unserer Literatur verändern möge, immer als ein Muster der
Darstellung hochgeachtet werden wird. Boses Entzücken über dieses
geniale Produkt weckte im jungen Dichter natürlich den Wunsch, dasselbe
gedruckt zu sehen; zuvor aber appellirte er an seinen Weisse. Dieser machte
seine Ausstellungen und Thümmel gab nach, wo er sich von der Richtigkeit
derselben überzeugte; in anderen Fällen aber blieb er fest bei
seiner Ansicht und wollte überhaupt, daß es seine eigene Arbeit
bleibe. Weisse besorgte den Druck; Thümmel hatte dem Verleger das
Manuscript zum Geschenk gemacht und sich nur zehn Exemplare ausbedungen,
und so kam denn „Willhelmine oder der vermählte Pedant, ein
prosaisch=komisches Gedicht," (Nur die erste Ausgabe trägt diesen
Titel, die folgenden sind bloß „Wilhelmine" überschrieben.)
aus der Presse.
Der eigenthümlichen Bangigkeit eines
jungen Autors, der unbekannt und doch auch bekannt seyn möchte, wie
sie auch Thümmel befiel, machte bald der allgemeine Beifall ein Ende,
der sich erfreulich in kritischen Blättern, in freundschaftlichen
Briefen, in Gesellschaften und an Höfen kund that. Das sicherste Zeichen
der allgemeinen Theilnahme war aber der schnelle Absatz der ersten Auflage.
Für die zweite wurde das Gedicht einer strengen Durchsicht unterworfen;
die vornehmste Veränderung besteht aber darin, daß im Traume,
den Pastor Sebaldus über seine künftige Verbindung hat,
Doktor Luther seine Rolle an Amor abtreten mußte. Hiezu
wurde Thümmel namentlich durch Zachariä´s und Utzens ausdrücklichen
Wunsch veranlaßt; er gab aber wohl nur ungerne nach, und ästhetisch
war jener Tausch gewiß keine Verbesserung. Der Schatten Luthers konnte
durch den Auftrag des Dichters in keiner Weise beleidigt werden, und sein
Auftreten war in der Seele des träumenden Pedanten weit natürlicher,
als das des Liebesgottes, dessen Rede auch in dem nun vorliegenden Texte
weit weniger ansprechend ist, als die des Reformators in der ersten Ausgabe.
Diese ist ohne Zweifel so ziemlich ganz verschwunden; wir citiren daher
hier aus derselben die betreffende, auf Luthern bezügliche Stelle
und setzen den Leser in Stand, selbst zu vergleichen und zu urtheilen.
Wenn siebter Band Seite 137 der vorliegenden Ausgabe [gemeint ist die Ausgabe
von 1839] Gott Amor dem Selbaldus erscheint und ihm Rathschläge gibt,
so heißt es statt dessen in der ersten Ausgabe, wie folgt:
„Da erschien dem eingeschlummerten Dorfpfarrer
jener große Verfolger des Papsts, der herzhafte Doktor Martinus;
lebhaft erschien er ihm, wie ihn für alle künftigen Zeiten Lucas
Kranach gemalt hat. Sein alter getreuer Mantel, wie ihn die Schloßkirche
zu Wittenberg sehen läßt, hing ihm über die Schultern;
aber er floß nicht mehr, wie ehemals, ehrwürdig den Rücken
hinab; eben der Aberglaube hatte davon mehr Stücke zerrissen, als
die Alles verderbende Zeit und die Zähne der Motten: und noch vor
Kurzem raubte ein unternehmender Schulmeister den halben Kragen des Mantels.
In enthusiastischem Hochmuthe glaubte er schon die Kräfte seiner Eroberung,
den Zuwachs neuer Verdienste, und den Antheil an Luthers unerschrockenem
Geiste zu fühlen; freudig und dumm geht er zurück in sein Dorf,
schimpft ungerochen den Papst, und nun versucht er es auch zuversichtlich
an seinem Gerichtsherrn. Doch siehe da! der arme Betrogene wird bald von
seinem eigenen Gevatter, dem Schützen, ins Trillhaus geführt,
von allen den jauchzenden Jungen geführt, die nun Feiertage auf eine
ganze Woche bekommen. — Und der Schatten sprach also zu dem träumenden
Magister: „Lieber Herr Amtsbruder, oft habe ich mit deinen Thränen
meine besten Schriften befleckt gesehen und deine verliebten Seufzer gehört,
wenn dein Fleiß bald eine Stelle der Erbauung aus meinen Briefen,
bald aus meinen Tischreden eine lustige Geschichte ausschrieb, womit du
die gähnenden Bauern zu rechter Zeit wieder erwecktest. Warum erröthest
du? O schäme dich nicht, mir deine keusche Liebe zu gestehen! War´
ich nicht selbst der erste unter den Priestern, der es auf Paulus Verantwortung
wagte, ein zärtliches Weib zu nehmen? Sollte einem Kenner der Kirchengeschichte,
sollte dir unbekannt seyn, wie ich einst dem neidischen Kloster das schönste
Fräulein entriß? Ach Katharina, Katharina von Bora! wie sehr
beglückte deine Liebe mein einsames Leben! und du — du verzagst, dem
Hofe ein Mädchen zu entziehen, das von keiner eisernen Thüre
verschlossen, von keiner Aebtissin bewacht, und von dem Klostergelübde
weit entfernt ist, eine ewige Jungfer zu bleiben? Höre meinen liebreichen
Rath u.s.w."
Dem Verfasser der Wilhelmine wurden auch bald
vielfach die Ehre des Nachdrucks und der Uebersetzung zu Theil. Raubgedruckt
wurde das Gedicht sogleich zu Erfurt, später zu Wien und Prag; der
rechtmäßige Verleger ließ es fünfmal, worunter dreimal
mit Kupfern von Oeser, Geyser und Stock auflegen. Uebersetzt wurde es ins
Holländische mehrmals (Amsterdam 1769, 1775 und 1776); ins Französische
von Huber (Leipzig 1769); ins Italienische von Stockmar (Coburg 1784);
ins Russische von Kosodawlew (1783). — Nicht weniger mußte es Thümmeln
schmeicheln, daß Nicolai in seinem bekannten Roman: Sebaldus
Nothanker, eine Fortsetzung der Wilhelmine herausgab.
Im Jahr 1765 legte Thümmel seinem Fürsten
einen Plan zu einer Steinmühle vor, welche den armen Unterthanen buchstäblich
aus Steinen Brod schaffen sollte. Das Unternehmen kam auch wirklich anderthalb
Stunden von Coburg beim Kammergut Oeslau zu Stande. Auf dieser Mühle
wurden jährlich über eine Million kleiner Steinkugeln von verschiedener
Größe verfertigt, und zwar besonders aus einem marmorähnlichen
Kalkstein, der in kleinen Brocken ringsum die Felder bedeckt, von den Bauern
gesammelt, im Winter zu viereckigen Stücken zugehauen und zur Mühle
geführt wurde. Der arme Landmann gewann dadurch Winters einen Taglohn,
während seine Felder vom Gestein gereinigt wurden. Da es die herzogliche
Kammer im Jahr 1771 vortheilhafter fand, diese Mühle zu verkaufen,
brachte sie Thümmel an sich, verkaufte sie aber 1805 wieder an den
Herzog.
Thümmel wurde nach dem Tod des regierenden
Herzogs von Coburg, Franz Josias, zum geheimen Hofrath und Hofmeister,
und 1768 zum wirklichen Geheimerath und Minister befördert. Die glücklichsten
Jahre seiner Jugend fallen in diese Zeit bis zum Jahr 1771, die er am Hofe
zu Coburg ruhig im Kreise geistreicher Freunde und liebenswürdiger
Frauen verlebte. Zu den vornehmsten Vergnügungen dieser jungen schönen
Welt gehörte das Schauspiel; auf dem artigen Privattheater wurden
von der fürstlichen Familie und dem Adel die damals neuen Stücke
von Lessing, Weisse, Brandes, Airenhoff u.A.m. aufgeführt. Thümmel
selbst war ein sehr guter Schauspieler, und Rollen, wie der Wachtmeister
in Lessings Minna von Barnhelm, spielte er zur völligen Befriedigung
der Kenner. Der in seine Werke aufgenommene Prolog wurde auf dieser Bühne
vom Erbprinzen von Coburg gesprochen.
In diesem heitern Leben schrieb Thümmel
seine Inoculation der Liebe. Auch diese poetische Erzählung unterwarf
er vor dem Druck Weisses Kritik, und verbesserte auch Manches nach seinen
Ausstellungen, aber eine Stelle ließ er sich vom Kunstrichter nicht
anfechten. Gegen die Stelle nämlich:
Manch Mädchen lief herbei,
und hatte zwar den Willen,
Allein sonst nichts, das Kind
zu stillen:
Der Himmel mag Vergelter seyn!
bemerkte Weisse pedantisch, die Mädchen stillten ja nicht. Diese
Stelle ist eine der naivsten im Gedicht, an sich deutlich und durch die
dritte Zeile hinlänglich erklärt. Der Dichter that wohl, daß
er sie sich nicht nehmen ließ.
Die Kritik erkannte fast allgemein in diesem
artigen, geistreichen Werke eine Bereicherung unserer Literatur. Manche
Beurteiler wollten im ungenannten Dichter Wieland erkennen, und
dies war keine geringe Schmeichelei für Thümmel, da Wieland damals
in der öffentlichen Meinung so sehr hoch stand. Wieland selbst wünschte
in einem Brief an den Verleger Reich, das Gedicht gemacht zu haben: es
seyen Schönheiten darin, die dem größten Dichter Ehre machen
würden, und im Ganzen herrsche eine Eleganz, eine Leichtigkeit, ein
guter Ton, die bei deutschen Dichtern selten gefunden werden.
Um diese Zeit beschäftigte sich Thümmel
auch mit einer Oper, die er: der Guckkasten betitelt hatte. Er ließ
aber, zumal ihm Weisse von der Sache abrieth, den Versuch fallen und entriß
dem Ganzen nur eine Romanze der Vergessenheit, die in seine Werke aufgenommen
wurde. (Romanze im Namen eines reisenden Jägers etc.)
Nachdem er im Jahr 1771 in Angelegenheiten
seines Hofs in Wien gewesen war, begannen mit dem Jahr 1772, seine größeren
Reisen, meist in Gesellschaft seines jüngern Bruders und der Gemahlin
desselben. Letztere war früher an den Oberkammerherrn v. Wangenheim
verheiratet
gewesen, der ihr nach einer Ehe von wenigen Wochen ein bedeutendes Vermögen
an Gütern im Gotha´schen und in Surinam hinterlassen hatte.
Das Paar ging 1772 in ostindischen Erbschaftsangelegenheiten nach Holland
und Paris, und unser Thümmel begleitete sie.
Der Gedanke, seine Reisen zu beschreiben,
scheint frühe in ihm rege geworden zu seyn; er war aber zweifelhaft,
in welcher Manier er schreiben sollte. Er schwankte zwischen einer Reisebeschreibung
in Sternes und einer in Chapelles Manier; aber während
seiner ganzen Reiseperiode kam nichts zu Stande, und erst nach zwanzig
Jahren sollte der völlig gereifte Kopf den eigenthümlichen Weg
betreten, auf dem er so Großes, ja Einziges geleistet. Weisse ermunterte
den Freund häufig, seine Reisebeobachtungen nicht verloren gehen zu
lassen, sondern dieselben durch seine mächtige Phantasie und seinen
tiefen Blick ins menschliche Herz zu gestalten. Thümmel fürchtete
immer das Lächerliche, in das so viele Nachahmer von Sternes berühmter
Reise verfallen; er mochte überhaupt kein Nachahmer seyn, und wollte
darum auch die Fußstapfen der geistreichen Franzosen Bachamont und
Chapelle vermeiden. Weisse meinte, ein Mann wie er, qui
mores hominum multorum vidit et urbes, werde wohl auch etwas
Neues erfinden können, und er verlangte von ihm einen Reiseroman,
so nationell, wie die Wilhelmine in ihrer Art gewesen. Aber eben die Manier
war es, worüber Thümmel so lange nicht mit sich einig werden
konnte, und was sich seiner Phantasie erst so spät darbot.
Im August 1772 kamen die Reisenden in Paris
an, und im Dezember desselben Jahres war Thümmel wieder in Coburg.
Im Jahr 1774 unternahm er schon wieder in derselben Gesellschaft eine Reise
nach Holland und Frankreich, und namentlich in die Provence. Er kam auf
der Ueberfahrt von Antibes nach Livorno durch einen Sturm in die größte
Lebensgefahr und mußte in Porto fino einlaufen. Seine Briefe aus
diesen Jahren, die theils an Weisse, theils an Verwandte zu Hause gerichtet
sind, und die sein Biograph Gruner im Auszug hat abdrucken lassen,
schildern einfach und flüchtig manches in Avignon, Nismes, Toulouse
u.s.w. Erlebte, das er später in seinem Reiseroman als Substrat seiner
orginellen Bilder benützt hat. Den Sommer und Winter des Jahres 1776
brachten die Reisenden in Tours zu, und im Februar 1777 verließ Thümmel
daselbst Bruder und Schwägerin. Er mußte vor dem Domstift zu
Naumburg erscheinen, um als oberster Expectant zu einer Minorpräbende
zu gelangen. Auf dem Weg von Paris nach Straßburg übersetzte
er die Oper Zemire und Azor. Er kam darüber mit Weisse in einen
Streit, der ihm am Ende geradezu sagte: er könne nicht begreifen,
wie sich der Verfasser einer Wilhelmine mit etwas befassen möge, worin
es ihm jeder kleine Versemacher so ziemlich gleichzuthun im Stande wäre.
Nun ließ Thümmel die Oper fallen, und nahm sie auch nicht in
seine Werke auf; sie ist indessen doch gedruck und auch auf einige Bühnen
gebracht worden.
Hier muß auch eines Umstandes erwähnt
werden, der Thümmeln von Jugend auf zu schaffen gemacht. Schon frühe
klagt er, daß bei seiner ersten Erziehung der Unterricht im Französischen
vernachlässigt worden sey; dies wurde zwar nachgeholt, aber noch nach
seinem Eintritt in die Welt muß es ihm sehr schwer gefallen seyn,
sich in dieser nothwendigen Sprache geläufig auszudrücken. Seine
Klagen darüber wiederholen sich noch während seiner großen
französischen Reise. So schreibt er im Jahr 1774 an Weisse: „Ich habe
nicht das geringste Talent zu Sprachen. Wie viel Mühe habe ich mir
nicht schon gegeben, es im Französischen zu einiger Vollkommenheit
zu bringen, aber umsonst. Ich nehme in jeder Stadt, wo ich hinkomme, einen
neuen Sprachmeister an; ich bin deswegen nach Paris gereist, und ich kann
doch noch so wenig plaudern als ehemals." — Daß Thümmel dabei
das Französische als Schriftsprache vollkommen inne hatte, versteht
sich von selbst, ja er übersetzte deutsche Epigramme ins Französische,
welche La Harpe in den französischen Merkur aufnahm; aber jene
Schwerfälligkeit im Sprechen ist bei Thümmels sonstiger Persönlichkeit,
namentlich bei der Lebhaftigkeit seiner Phantasie, sehr auffallend und
psychologisch merkwürdig, es müsste denn seyn, daß er in
dieser Beziehung gar zu große Ansprüche an sich selbst machte.
Thümmel trat nach seinen Reisen zu Coburg
in seinen alten Geschäftskreis und in die frühern gesellschaftlichen
Verhältnisse zurück, und die nächsten Jahre wurden für
ihn durch mehrere erfreuliche und traurige Ereignisse bezeichnet. Ein alter
Jurist, Namens Balz, der ihn schon in Leipzig während seiner
Studien sehr lieb gewonnen hatte, setzte ihn 1776 zum Universalerben seines
Nachlasses von 24,000 Thalern ein. Im Jahr 1778 starb sein Bruder, und
am 18. Oktober 1779 reichte er der Wittwe desselben die Hand. Er machte
fortan zu Coburg das angenehmste Haus für Einheimische und Fremde.
So kam unter Andern Nicolai, als er 1781 seine große Reise
antrat, über Coburg, und in seiner Reise gedenkt er dankbar der schönen
Stunden, die er im Thümmelschen Hause zugebracht. Aber im Jahr 1783
zerriß Thümmel plötzlich die Bande, welche ihn bisher an
Coburg gefesselt. Er glaubte sich in mehreren wichtigen Sachen von seinen
Collegen übergangen, und dadurch in der Achtung des Publikums herabgesetzt.
Trotz alles Beruhigens und Zuredens seiner Freunde verlangte er seinen
Abschied; er erhielt ihn endlich, und zog nun mit seiner Familie nach Gotha,
wo er theils in der Stadt, theils auf seinem Gute Sonnenborn lebte. Er
richtete sich aufs Angenehmste und Kostbarste ein, wie denn ein gewisser
Hang zum Luxus ihm immer eigen gewesen war, und er keineswegs die Grundsätze
befolgte, welche er in seiner Reise nach Frankreich einen Landjunker so
kräftig und überzeugend predigen läßt.
Trotz seiner sorgenfreien Lage, trotz der
angenehmsten Verhältnisse, einem gefälligen Hof, lieben Verwandten
und vielen gebildeten Menschen gegenüber, scheint er den Schritt,
der ihn von Coburg weggeführt, bald bereut zu haben. Er wollte wieder
in Staatsdienste treten, er that zu wiederholten Malen Schritte zu diesem
Zwek und wollte zu Zeiten deshalb sein Gut verkaufen. Besonders träumte
er sich in einem der Striche Polens, welche kürzlich an die Kronen
Rußland, Preußen und Oestreich gekommen, einen großartigen
Schauplatz nützlicher Thätigkeit. Er schreibt unter Anderm an
Weisse: „Rußland und Preußen haben ihre Staaten so vergrößert,
daß es ihnen nach meiner Rechnung an Menschen fehlen muß, die
sie als Pfropfreiser zur Veredlung jener wilden Stämme benützen
können. Katharina kann wohl noch in diesem oder jenem Fach einen thätigen
Kopf brauchen, und ihr würde ich am Liebsten angehören, weil
ich nun einmal ein entschiedenes Tendre für diese in allem Betracht
große und konsequente Regentin habe. Wenn es ihr gelingt, die rohe
Menschenmasse, die sie eroberte, in ein klügeres und glücklicheres
Volk umzubilden, welcher Philosoph dürfte es mißbilligen, daß
sie sich ihrer annahm, und welcher thätige Mann sollte nicht wünschen,
nach seinen Kräften zu einem so guten Zwek mitzuwirken, wäre
es auch nur als ein Stift in dem ungeheuren Uhrwerk, dessen Seele sie ist."
— Seine Freunde Weisse und Garve riethen ihm aufs Dringendste ab; indessen
beschäftigen ihn diese Plane, die übrigens nie zur Ausführung
kamen, viele Jahre lang. Sie trugen wohl auch viel dazu bei, daß
er sich so lange Zeit der schriftstellerischen Thätigkeit völlig
entzog.
Von 1771 bis 1791, also zwanzig Jahre lang,
hatte Thümmel nichts mehr producirt; als er sich aber endlich wieder
dazu entschloß, brauchte er gleichsam nur die Schleußen seines
reichen Geistes aufzuziehen. Er hatte sich auf seinen Reisen, im Umgang
mit Menschen aller Art einen Schatz von Menschenkenntnis gesammelt; er
hatte namentlich Frankreich von allen Seiten kennen gelernt und die Farben
zu Schilderung der Natur wie der Sitten sorgfältig gesammelt; ja er
hatte sicher längst in seiner mächtigen Phantasie eine Menge
Bilder, gemischt aus Dichtung und Wirklichkeit, halb und ganz fertig gemalt.
Wie schon oben bemerkt, zeigen seine während der Reise geschriebenen
vertrauten Briefe an zahlreichen Stellen den Stoff, den er endlich so unnachahmlich
poetisch verarbeitet, und sehr oft sind eigene Begebenheiten in das große
Sittengemälde verflochten.
Der Zufall, den Thümmel in einem
seiner Gedichte so schön besungen, scheint auch auf die Entstehung
seines Hauptwerkes, der Reise in das mittägliche Frankreich,
von großem Einfluß gewesen zu seyn. Er hatte durch den Krieg
sehr bedeutende Verluste erlitten, dazu kamen traurige Familienereignisse;
seine Stimmung litt durch dieses Alles sehr, und er griff zur poetischen
Thätigkeit, wie nach einem Heilmittel. Auf seinem Landgute Sonnenborn
besonders überließ er sich wieder dem Spiele der Phantasie und
schrieb mit oft jahrelangen Unterbrechungen jene berühmte Reise, eines
der originellsten, geistreichsten Werke unserer Literatur.
Der erste Band erschien im Jahre 1791 bei
Göschen
in Leipzig, der zehnte und letzte 1805; das Werk wurde also im dreiundfünfzigsten
Jahre des Dichters begonnen und in seinem siebenundsechzigsten vollendet.
Auch dieß ist eine literarische Merkwürdigkeit, und die Zeitgenossen,
welche die übersprudelnde Geisteslebendigkeit und die unendliche Fülle
der Phantasie in diesem Werke entzückte, hatten nicht Unrecht, wenn
die Einen den Dichter für viel jünger hielten, während Andere,
denen Thümmels Alter bekannt war, nimmermehr glauben wollten, daß
er der Verfasser sey. Thümmel wollte auch unerkannt bleiben und setzte
daher den Zeitpunt der Reise zehn Jahre später an, als er wirklich
in Frankreich gewesen war. Aus demselben Grunde machte er den Reisenden
zu einem Berliner, ob er gleich Berlin selbst noch gar nicht gesehen hatte
und diese Stadt erst im Jahre 1807 kennen lernte.
Der Beifall, den dieses Werk fand, war allgemein
und außerordentlich, und das Publikum sah immer dem Erscheinen eines
neuen Bandes mit der größten Ungeduld entgegen. Das Buch war
immer längst gelesen und vom Leser gepriesen, wenn die Kritik hinterher
kam und das Lob bestätigte. Thümmel, der in seinem ganzen Leben
für Lob und Anerkennung sehr empfänglich war, fühlte sich
sehr glücklich durch den Enthusiasmus, den sein Werk erregte; am meisten
schmeichelte ihm aber der begeisterte Beifall dreier Männer, und diese
waren Lichtenberg in Göttingen, Klinger in Petersburg,
und Jakobs in Gotha. Die beiden ersten waren Thümmeln ganz
unbekannt. Wir geben im Folgenden Einiges von den Urtheilen dieser seiner
geistreichen Zeitgenossen.
Lichtenberg schreibt 1791 an Sömmering:
„Ich müßte mich sehr irren, oder Einiges im Buche, zumal unter
den Versen, läßt sich schlechterdings nicht besser machen. Noch
besser wäre vermuthlich nicht mehr für uns. Als ich es las, wußte
ich vom Verfasser nichts, und da wünschte ich Deutschland sehr, daß
es ein noch unbekannter seyn möchte. Welcher Ausflug, so auszufliegen!
So ist es aber eine vielleicht zum letztenmal zurückkehrende Taube,
die dieses Blättchen mitbrachte, das allemal ein Land der Verheißung
nahe hoffen läßt. Ich habe manche Verse sechs=, siebenmal gelesen,
blos die Applicatur zu bewundern, mit der er sich gleichsam vorsätzlich
durch Parenthesen den Weg zu versetzen scheint, um hernach wie die glätteste
Schlange durchzuglitschen, ohne auch die kleinsten Faser von Sinn und Reim
hinter sich zu lassen. Man sagt, Boileau haben seinen zweiten Vers immer
zuerst gemacht; Thümmel ist weiter gegangen: er machte erst den dritten,
dann den zweiten, und dann den fünften, oder er hat sie, welches mir
wahrscheinlicher ist, wie ein Schöpfer, alle zugleich gemacht."
Klinger nennt Thümmels Reisen
„ein Buch, wie wir noch keines in Deutschland haben, voll Geist, Jovialität,
Genialität, neuer Ansichten, Menschen= und Weltkenntniß, und
dieses Alles mit einem so leichten, und wo es nöthig ist, mit einem
so feurigen Colorit dargestellt, wovon wir wenige Beispiele haben." — Anderswo
sagt Klinger: „Müßte ich einst meinen Ueberfluß von Büchern
abschaffen, so habe ich mich, was die sogenannte schöne deutsche Literatur
betrifft, im Voraus eingerichtet. Ich werde Lessings Nathan, Wielands Musarion
und Oberon, Goethens Götz, Tasso und Iphigenia, Schillers Don Carlos,
Vossens Louise und Thümmels Reise ins südliche Frankreich auswählen."
— Klinger hatte Thümmeln für fünfzigjährig gehalten;
als er sein wahres Alter erfuhr, schrieb er: „ Als ich die fünfzig
niederschrieb, zählte dieser nie alternde, immer blühende Dämon
siebenundsechzig, wie ich nachher erfuhr, und da ich also in meinem Irrthum
nach den gewöhnlichen Zeugungskräften des menschlichen Geistes
rechnete, so machte nun mein belehrter Irrtum das Wunder erst recht zum
Wunder."
Jakobs Beurteilung der Wilhelmine und
der Reise ins südliche Frankreich ist dieser schönen Werke vollkommen
würdig, und wir glauben den Leser zu verbinden, indem wir dieselbe
hersetzen:
„Wenige Schriftsteller haben von ihrer ersten
Erscheinung an eine lange Reihe von Jahren hindurch die Gunst des gebildeten
Publikums so entschieden genossen, als der Verfasser der Wilhelmine, der
Inoculation der Liebe und der Reise ins südliche Frankreich. Wenn
man diese Werke nennt, so ruft man jedem ihrer Leser aus alter und neuer
Zeit einige der genußreichsten Stunden zurück, und bezeichnet
zugleich einige merkwürdige Stationen der deutschen Bildung auf einem
neuen Gebiete. Die Poesie, welche für die höhern Stände
lange nur eine Art von gefälliger Freundin war, die für ihre
Unterhaltungen eben nicht geliebt, aber belohnt wurde, und, wenn sie nicht
feil werden wollte, sich gern, um alle Verwechslung unmöglich zu machen,
in den cynischen Mantel einer spröden Tugend einhüllte, trat
durch Thümmel in dem Glanze edler Würde und schönen Anstandes
auf, ohne Steifigkeit und höfische Leerheit, und mit allen Grazien
zarter Leichtigkeit, zierlichen Witzes, unschuldiger Schalkheit, und reizender
Tändelei umgeben, die der Weltgebrauch zwar nicht schafft, aber erzieht.
Zum erstenmale erschien in der Wilhelmine die Hofwelt selbst, von
der sichern Hand eines Kenners croquirt, ohne Uebertreibung und dennoch
komisch, wie leere Larven, die sich in geistreich gruppirten Arabesken
um die Idylle einer ächt deutschen Magisterliebe ziehen. Wie die Heldin
des Gedichts, so erschien das Gedicht selbst, ein Kind deutscher Natur
und Sitte, durch Weltgebrauch gebildet, durch Erfahrung gewitzigt, eine
verschönerte Blüthe, welche die Luft des Hofes aufgehaucht, aber
nicht vergiftet hat, reizend durch natürliche Anmuth und gesundes
Gefühl, durch leichten Witz und gebildete Sprache. Diese schönen
Eigenthümlichkeiten, die ihm alle Stimmen gewannen und seinen Ruf
auch zu den Fremden brachten, denen es aber selbst bei einer vollkommenen
Dollmetschung dennoch in seiner ächten Nationalität fast ein
Räthsel bleiben mußte, wiederholten sich in größerer
Vollkommenheit, als nach einem dreißigjährigen nur selten unterbrochenen
Stillschweigen die befreundete Stimme von Neuem tönte, und der geistreiche,
vielgebildete, tieffühlende Reisende das Tagebuch seiner absichtlichen
Wanderungen und unabsichtlichen Irren vor den Augen des Publikums aufschlug.
Hier nun erscheint jede Seite mit gewählten, schimmernden Farben bedeckt,
und von den Orangenwäldern der Provence zieht sich der strahlenreiche
Irisbogen mit allen seinen magischen, Phantasie und Gefühl fesselnden
Bändern nach Deutschland herüber, die Königin des Tags in
Millionen Tropfen spiegelnd, und durch den tiefen Grund des dunklen Gewölbes
erhöht, das seinen Teppich hinter ihm aufgerollt hat. Wie das Land,
das mit seinen sonnigen Fluren die schönsten und rührendsten
Scenen dieses Gedichts, wie ein magischer Schauplatz umringt, ist das Gedicht
selbst mit zarten und duftreichen Blüthen bestreut, die in der Tiefe
ihrer Kronen herrliche Früchte bergen, und wenn der schimmernde, spielende
Frühling vorüber ist, dem innern Auge ein neues, goldenes Hesperien
zurücklassen. Auch hier werden, wie dort, seidene Fäden — vielleicht
nur bisweilen etwas zu lang gesponnen, und in dem zarten, weichen Gespinnst
liegt Psyches Ebenbild, das die eigennützige Lüsternheit bloß
neugieriger Leser tödtet, die Neugierde der sinnigen und gemüthvollen
aber zum frischen Leben erweckt. Wie sich in dem ganzen Werke die wundersamste
und gediegenste Prosa mit dem inhaltreichsten und sinnvollsten Versen durchflicht,
und Beredsamkeit und Poesie, wie Liber und Libera, einen gemeinsamen, herrlichen
Triumphzug feiern, so ist auch in ihm Alles, was aus Phantasie und Gemüth
aufblüht, Ernst und Scherz, tiefe Empfindsamkeit, lebendige Sinnlichkeit,
anmuthiger Spott, zarte Liebe, begeisterte Freundschaft, anspruchslose
Weisheit und unschuldige Thorheit in einem dichten, duft= und blumenreichen
Kranz verschlungen. Indem der kranke, verstimmte, menschenscheue Reisende
seine Gesundheit wieder sucht, findet er zuerst sich selbst in seinem Herzen
wieder, indem sich sein inneres Wesen, von dem schönsten Himmel und
der anmuthigsten Natur berührt, und wohlwollenden und unschuldigen
Menschen entfaltet, und die aufgehobene sittliche Harmonie — wie die irdische
in freier Luft — wieder zurückkehrt. Die interessante Entwicklung
der Persönlichkeit des Reisenden macht den Mittelpunkt des Werkes
aus; aber in dem Umkreise desselben schwingen und drängen sich die
mannigfaltigsten Gedanken, die reichsten Scenen und eine Fülle unschätzbarer
Zugaben, die in seinen freundschaftlichen Ergießungen, ihm fast unbewußt,
aus dem überströmenden Herzen fallen. Eine bunte Welt von Menschen
aller Art und aller Stände, jeder mit den Farben der Wahrheit bekleidet,
zieht vor unsern bezauberten Blicken vorüber; eine reiche Gallerie,
die das einfache Kind der Natur und Unschuld, und alle Arten und Stufen
der Bildung und Verbildung mit gleicher Treue und Lebendigkeit aufstellt.
Nicht minder mannigfaltig sind die Begebenheiten, die Situationen und Gruppen,
und wenn in diesem Zaubergarten der interessantesten Erscheinungen etwas
einförmig erscheinen könnte, so wäre es das kunstvolle Verstecken
des Ausgangs, der labyrinthischen Pfade, und die Ueberraschungen, die uns
am Ende eines jeden Belvedere erwarten. Da geschieht es denn, daß,
indem man gewöhnt wird, die Erwartung selbst zu erwarten, der beste
Genuß, wie ein leichter Glimmer, auf dem Wege abgewischt und verloren
wird. Es ist indeß immer weit gefahrloser, nach dem System des Marquis
von St. Sauveur, mit dem folgsamen Leser, als wie Jener mit dem spröden
Leben zu spielen, und der Reisende ist ein so geistreicher und gefühlvoller
Begleiter, daß wir an seiner Seite leicht den eben gespielten Betrug
vergessen und uns mit der vorigen Unbefangenheit seinen Launen zu neuen
Täuschungen hingeben."
Dem flüchtigsten Leser dieses trefflichen
Werks kann es nicht entgehen, daß der Dichter dabei eine höhere
Absicht hatte, als nur Unterhaltung und Zeitvertreib; es erfordert übrigens,
auch von Seiten des minder tiefen Lesers, besondere Aufmerksamkeit, wenn
er sich nicht selbst um einen großen Theil des Genusses bringen will.
— Hier stehe noch Einiges, was Thümmel selbst über sein Buch
geäußert. Er schreibt an Weisse: „Da sie mein erster Leser sind,
lasse ich auch die Bitte, die ich gern an alle meine Leser thun möchte,
zuerst an Sie ergehen: das Werk mit einigem Bedacht zu lesen, weil ich
glaube, daß es sonst leicht geschehen kann, daß man eine Kleinigkeit
oft übersieht, die doch zum Zusammenhang mit dem Folgenden nöthig
ist, und Dunkelheiten findet, die nicht allemal in der Flüchtigkeit
des Verfassers, sondern des Lesers liegen." — Ferner im Februar 1794: „Es
ist mir sehr daran gelegen, daß der fünfte Theil die beiden
vorhergehenden begleite, damit der Gedanke, den ich bis dahin ausgesponnen
habe, nicht unterbrochen bleibt, — daß nämlich aus Aberglauben
Verderbniß der Sitten, und daraus Umsturz des Staates erfolge, um
einer andern Generation möglich zu machen, der Natur wieder zu ihren
Rechten zu verhelfen. Die Gräuel, die sich kürzlich in Avignon
ereignet haben, kommen meinem Text gar sehr zu Hülfe und geben meiner
Prophezeiung vom Jahr 1786, womit ich diesen Theil endige, ein gewissen
Ansehen, ob ich sie gleich nach Art der Propheten erst hinterher gemacht
habe."
Nur die Engländer wagten sich an eine
Uebersetzung der Reise, und nicht ohne Glück; nur ließ der Uebersetzer
alle Verse weg, wodurch nicht nur der Genuß des Lesers geschmälert,
sondern auch manches unverständlich werden mußte.
Ueber Thümmels Schicksale vom Wiedererwachen
seiner Produktionskraft bis an seinen Tod können wir rasch weggehen.
— Er lebte in diesem Zeitraum abwechselnd in Gotha, auf seinem Gut Sonnenborn,
bei seinem Bruder in Altenburg und in Thüringen bei seiner daselbst
verheiratheten Tochter. Auch nach Coburg, auf den Schauplatz seines jugendlichen
Glücks, zog es ihn zu wiederholten Malen zurück, und er starb
auch auf einem Besuche daselbst. Im Jahr 1799 wurde sein schönes häusliches
Glück durch den Tod seiner Gattin erschüttert; sie hatte ihm
zwei Söhne und eine Tochter gegeben. — Im Jahr 1803 unternahm er abermals
eine Reise nach Holland und Frankreich, um wegen der von seiner Frau ererbten
Surinamschen Besitzung Erkundigungen einzuziehen; aber seine Hoffnung auf
Erfreuliches schlug fehl. — Im Jahr 1807 besuchter er zum erstenmal Berlin
und wurde von den dortigen Celebritäten, die er größtentheils
jetzt erst kennen lernte, Johannes Müller, Iffland,
Nicolai,
Humbold,
Göking,
Wolff,
Biester
u.s.w mit Zeichen der Hochachtung überhäuft. Ums Jahr 1807 kam
Thümmel in Briefwechsel mit Klinger, den er sehr hoch achtete.
Neben Kunst und Wissenschaft war die Befreiung der Menschheit vom Joche,
das damals auf ihr lastete, Hauptgegenstand ihrer beiderseitigen Mittheilungen,
und die ersehnte Befreiung führte sie immer auch auf Rußlands
Alexander. Thümmel baute auf die Persönlichkeit dieses Monarchen
die höchsten Hoffnungen, und es sollte ihm auch zu Theil werden, am
späten Ende seiner Tage die nahe Aussicht auf die Erfüllung derselben
zu erleben.
In den Jahren 1811 und 1812 beschäftigte
ihn vornemlich die Herausgabe seiner sämmtlichen Werke, die bei Göschen
in sechs Bänden erschienen. Was vor dieser Zeit von ihm gedichtet,
aber in die Sammlung nicht aufgenommen worden, erkannte er nicht als das
Seinige an, und die vorliegende Ausgabe gibt alle diese poetischen und
prosaischen Werke vollständig wieder.
Eine im Jahr 1814, also im sechs und siebenzigsten
Jahr überstandene gefährliche Krankheit ließ ihm ein solches
Wohlbehagen zurück, daß er sich selbst äußerte, sein
erschlaffter Körper und Geiste haben sich so erholt, daß er
glaube, er hätte wieder Laune genug, um noch eine Wilhelmine zu dichten.
Dazu kam es nun zwar nicht, aber der Greis bethätigte seine ungemeine
Geisteskraft bis an sein Lebensende in zahlreichen, meist Damen zugeeigneten
Gelegenheitsgedichten voll Leben, Witz und Schalkheit.
Im Sommer 1817 führte ihn die Vermählung
des Prinzen Ernst von Coburg mit der Prinzessin Louise von Gotha zum letztenmale
in sein altes Coburg. Der bejahrte Freund wurde von Jedermann aufgesucht;
er hatte vier Regierungsveränderungen erlebt, die Höfe waren
während seiner Laufbahn mehr als einmal ausgestorben; er, der an so
Vieles erinnern konnte, stand noch allein da und konnte mit seinem Beispiel
die Jüngern lehren, daß weise Freude sich bis ins höchste
Alter frisch und kräftig erhält. Wie viele Bilder aus seiner
alten ausgestorbenen Welt mögen sich da in seinem Gemüthe gedrängt
haben! So Manches von dem, was er gebaut und eingerichtet, hatte sich erhalten
oder war freudig emporgewachsen, Anderes war spurlos verschwunden; die
meisten seiner Freunde waren heimgegangen, dagegen füllten Kinder
und Kindeskinder den Schauplatz. Alles predigte ihm den großen, unvermeidlichen
Wechsel aller menschlichen Dinge; aber der weise, von der Welt vielfach
geprüfte Mann freute sich des Bestandenen und stand bewegt, aber ohne
bitteres Gefühl, beim Vorübergegangenen.
Unter den Hochzeitsfeierlichkeiten befiel
ihn seine letzte Krankheit. Wohl bemerkte er die rasche Abnahme seiner
Kräfte und verhehlte sich nicht, daß seine körperliche
Natur in ihrem letzten Kampfe liege. Aber wie er dem Leben immer die freundliche
Seite abzugewinnen wußte, so verließ ihn diese Kunst auch da
nicht, als er im Begriffe stand, wie er es selbst nennt, seinen Staubmantel
abzuwerfen. Er unterhielt noch die Umstehenden durch muntere Anekdoten
und schalkhafte Bemerkungen. Er ersuchte seinen Sohn Moritz, ihm aus La
Bruyère das Kapitel über die Freigeister vorzulesen. Bewegt
von den Gedanken des Philosophen, unterbrach Thümmel den Vorleser
und rief: „Bin ich gegen dieses große All mehr als eines der Thierchen,
dem sein ganzes Daseyn nur für wenige Stunden gefristet wird! Und
doch erhebe ich mich durch den Gedanken!" Er erinnerte sich hiebei wohl
auch seiner Hymne an die Sonne, deren Werth er bei aller ihrer Pracht doch
unter den Menschen setzte, da nur dieser seiner selbst bewußt,
frei und unsterblich sei. — Wenige Tage vor seinem Tode sagte er unter
Anderm: „Es ist doch eine eigene Sache mit dem Menschen: da wird er hieher
geschickt, und er muß erst diese Erde bereisen, um dann in eine andere
Welt überzugehen; es verlangt mich doch recht sehr, zu erfahren, wie
es drüben ist." — Am 16. Oktober 1817 verschied er still und ruhig.
Zur Charakterisirung Thümmels als Schriftsteller
und Mensch mögen noch die folgenden Notizen dienen.
Sein kräftiger Körper war von mittlerer
Größe, und sein anziehendes Aeußere wurde besonders durch
das sprechende Auge ausgezeichnet. — Seine Kenntnisse waren sehr manigfaltig,
wenn auch nicht immer erschöpfend. Von Sprachen besaß er nur
das Lateinische und Französische, diese aber vollkommen; sie dienten
ihm, zu den Schätzen der alten und neuen Literaturen zu dringen, deren
Sprachen ihm unbekannt geblieben waren. Er studirte mit Liebe die Naturgeschichte
und hatte sich bedeutende Sammlungen angelegt; er war ein anerkannter Kunstkenner,
besonders in Gemälden und Kupferstichen. Er scheute das ernste Studium
der alten und neuen Geschichte und guten Reisebeschreibungen nicht, um
sich mit dem bekannt zu machen, was ihn vornämlich interessirte, mit
den Verfassungen der Länder, mit den Sitten, Gebräuchen, Religionen
der Völker; kurz, seine Bildung reichte vollkommen zu dem hin, wozu
er sie brauchte; zum Umgang in der Welt und zur geistreichen Unterhaltung
in seinen Schriften. — Wenn er in letzteren nicht selten der Systeme der
Metaphysik spottet, so versteht es sich von selbst, daß der geniale
Kopf, der in seinen Schriften so die Tiefen der Menschennatur erschloß,
keineswegs ein Verächter der wahren Philosophie war. Sein Freund Garve
sagt von ihm: „Ich lerne mehr, wenn mir ein Mann von Genie die geheimen
Kreuze des unheiligen Klärchens aufdeckt, als wenn ein gemeiner Kopf
die Wissenschaften der Moral und Politik vorträgt."
Thümmel hatte viele und treue Freunde
unter den besten, geistreichsten der Zeitgenossen, und auch unter den Fürsten.
Auch im Umgang mit diesen verläugnete er nie seinen geraden Charakter;
er schmeichelte nicht, und je mehr ihm ein Fürst Vertrauen und Achtung
schenkte, desto mehr hielt er sich verbunden, diese durch Offenheit zu
verdienen; davon, daß er sich je eine Demüthigung hätte
gefallen lassen, war ohnehin keine Rede. Nie ist ihm ein Orden oder ein
Jahrgehalt von einem Fürsten zu Theil geworden; aber der Herzog von
Gotha unterstützte den oft mit großer Geldverlegenheit kämpfenden
Dichter in seiner letzten Lebenszeit aufs Edelmüthigste und Zartsinnigste.
Diese, immerhin auffallende Vernachlässigung von Seiten der Mächtigen
hatte keinen Einfluß auf seine politischen Grundsätze: er hielt
fortwährend die Monarchie für die beste Regierungsform, ohne
im Geringsten die Andersdenkenden anzufeinden.
Thümmel, der Denker und geschmackvolle
Schriftsteller, war auch ein geschmackvoller Freund aller Lebensgenüsse.
Er liebte den Luxus in Kleidung und Einrichtung, und dieser Hang führte
ihn zuweilen zu weit. Er war auch ein Feinschmecker, aber im edelsten,
geistigen Sinn. Er wußte den Genuß und die Freude immer in
sittlichen Schranken zu halten und den Vorwurf des gemeinen Epikuräismus
von sich abzuhalten. Wenn er die Geschichte seiner selteneren Gerichte
erzählte, wenn er das Alter seiner Weine, ihre Herkunft, die feinen
Unterschiede derselben mit der Gelehrsamkeit des Kenners und der Gemüthlichkeit
des Liebhabers angab, dabei auf politische und moralische Verhältnisse
überging, und auf diese Weise seine Gäste in alle Welttheile
führte, Gedanken weckte und dem Geistigen den Sieg über den Sinnesgenuß
verschaffte, so fühlte jeder mit Entzücken, daß er an der
Tafel des wahren Welt= und Lebemanns saß.
Thümmel arbeitete keineswegs weder leicht,
noch leichtsinnig, und er hat dieß mit der Mehrzahl großer
Schriftsteller gemein. Kein einziges seiner Werke ist nach dem ersten Entwurf
abgedruckt, und selbst Briefe concipirte und arbeitete er um, wie Leibnitz
gethan. Aber durch kleine Sprachbedenklichkeiten ließ er sich nicht
aufhalten; die Interpunktion, den Casus u.s.w. zu berichtigen, überließ
er seinem Weisse oder einem gewandten Corrector. — Sein Hauptwerk ist voll
von literarischen Citaten und von Anspielungen auf historische Momente;
dergleichen führte ihm nun zwar sein Gedächtniß im Feuer
des Producirens zu, aber sehr häufig bedurfte es dabei näherer
Nachweisung und Verificirung. Da verdarb er sich nun die poetische Laune
selten mit Nachschlagen, sondern überließ meist die weitere
Nachforschung Weissen. Nur ein Beispiel dieser seiner Methode:
Sein Reisender, der ein so großer Freund
und Sammler von beschriebenen Glasscheiben war, spielt bei einer Scheibe,
welch die Masque de fer
beschrieben haben soll, sehr sinnreich auf die Menechem des Plautus an.
Er schrieb hierüber an Weisse: „Bei meiner Scheibensammlung spreche
ich von einer, die ich der Masque
de fer unterschiebe. Diese soll darauf anspielen, daß
der Gefangene ein Bruder Ludwigs XIV. war, und dieß dient zur Einleitung
dessen, was ich weiterhin von dem Vater dieser beiden Zwillingsbrüder
zu sagen vorhabe. Ich habe mich auf eine Stelle aus den Menechem des Plautus
berufen, sie aber um deßwillen nicht angeführt, weil ich keine
wußte und selbst keinen Plautus in meiner Bibliothek habe. Hinterher
bin ich sogar ungewiß geworden, ob selbst Plautus eine solche Komödie
geschrieben hat, in der unter demselben Titel ein paar Zwillingsbrüder
vorkommen. Geben Sie mir darüber Aufschluß. Könnten Sie
mir gar einen Vers aus ihm oder aus jedem andern Autor angeben, der meinen
geheimen Gedanken deutlich durchschimmern ließe, so wäre es
desto besser; denn ich kann ja noch mit der Scheibe machen, was ich will."
— Weisse wußte sehr glücklich Thümmels ersten Einfall,
die Anspielung auf die Menechem, aufrecht zu erhalten. Und wie ihm von
Weisse über die eiserne Maske, über die Briefe der Königin
Anna und die Vaterschaft Ludwigs XIII. sein historisches Gewissen geschärft
wurde, antwortete er: „Die Auskunft, die ich über die Masque
de fer gegeben, ist freilich nur Hypothese von meiner Erfindung,
und die Briefe der Königin Anna sind freilich nur aus meinem Gehirn;
ich dachte aber, bei einer so veralteten Geschichte wäre es in einem
Roman wohl erlaubt, das politische Räthsel nach Gefallen zu behandeln.
Sollte die Maske auch kein Sohn des Herrn Fiacre seyn, so bin ich überzeugt,
daß er Vater von Ludwig XIV. war, und die eiserne Maske ein Bruder
vom Letzteren, ob ein Zwillings= oder auch Halbbruder, ist freilich ungewiß."
Die feinen Anspielungen, die sich in der Reise
finden, verlangen allerdings oft für einen großen Theil der
Leser eine nähere Erklärung. Thümmel sträubte sich
Anfangs gegen Anmerkungen, als zu pedantisch, er ließ sich aber von
Weisse´s Gründen überzeugen und bat diesen selbst für
manche Stellen seiner Reise um erläuternde Anmerkungen. So sind die
selbst witzigen Anmerkungen bei der Mamsell Cadière und dem Pater
Girard, bei der schönen Jo Carls III., bei der Nymphe Clitoris, bei
Newton u.s.w. entstanden.
Was seine Verse betrifft, so haben wohl wenige
Dichter so viel Ausdauer im Feilen besessen. Nicht nur betrachtete er selbst
zu wiederholten Malen jedes Gedicht genau, bevor er es dem Druck übergab;
er legte auch Alles erprobten Kennern und Freunden vor. Die Mühe,
ein Gedicht mehrmals abzuschreiben, benahm im keineswegs die Freude an
demselben. Aus diesem rastlosen Bessern und Umschmelzen erklärt sich
auch, daß manche in die Reise eingeflochtenen Gedichte allerdings
an Dunkelheit leiden. Er scheint bisweilen bei dem ersten Entwurf
das, was er darstellen wollte, mehr gefühlt als gedacht zu haben.
Bei der Ueberarbeitung wollte er dem abhelfen, und corrigirte sicher durch
das viele Feilen und Abschreiben erst manche Dunkelheit hinein, die im
Entwurf nicht war.
Thümmel verdiente als Mensch, als Gatte und
Vater die höchste Achtung, und dieß macht den Eindruck, den
uns dieser große und schöne Geist gibt, zu einem völlig
harmonischen. Seinen Werken bleibt ein ehrenvoller Rang in unserer Literatur
gesichert, und sie können desto weniger veralten, je vielseitiger
der originelle Kopf war, der sie hervorbrachte, und je seltener sich Witz,
Laune, Scharfsinn und Gemüth in einer Persönlichkeit vereinigen.
...
|