Johann Daniel Falk:
Die Reisen des Scaramuz u.a. Schriften.

Einen seiner Texte kennt jeder, zumindest als | Lied |. - Ansonsten ist unser Autor aus dem Gedächtnis der Literaturgeschichte verschwunden. (fast!)
1768     28.10. : in Danzig als Sohn eines Perückenmachers geboren.
             Elementarschule, Gymnasium, Studium.
1795     Beginn der Schriftstellerexistenz.
1797     Heirat (Caroline Rosenfeld) und Umzug nach Weimar.
1813     verstärktes pädagogisches Wirken.
1826     14.2. : Falk stirbt.
*   Bibliographie der Primärliteratur
*   Stimmen: Chr. M. Wieland, J. G. Seume
*   Eine Würdigung des Lebenswerkes
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1.  Nachschr. a.d. geneigten u. ungen. Leser   7.  Über die Systemsucht der Teutschen
2.  Reise zu Wasser und zu Lande von Scaramuz   8.  Herder
3.  Von der Erziehung und von Kinderschriften   9.  Herders letzte Lebensstunden
4.  An Pestalozzi, den 4. Februar 1819 10.  Über Lichtenbergs Leben und Schriften
5.  Reflexionen unter einem alten Birnbaum 11.  Kotzebue
6.  Aus Paris vom 27. Januar 12.  Anmerkungen


Nachschrift an den geneigten und ungeneigten Leser

Ich finde die Sitte der deutschen Verleger, den Geist ihrer Verlagsartikel in einer lobpreisenden Inhaltsanzeige dem Publikum, noch vor dem Abdrucke des Buches selbst, vorzulegen, ebenso erlaubt und löblich als die Gewohnheit Picinis *), der auch, bevor die Haupt- und Staatsaktion in seiner Bretterbude selbst anhebt, mittlerweile einen großen Affen an das Fenster oder vor die Tür hinstellt, der ein respektives Publikum durch kurzweilige Kapriolen herbeilocken soll, indes die Trompeter sich heiser blasen und Bajazzo den Vorübergehenden unaufhörlich in die Ohren schreit: „Allons, meine Herren! immer herein! Lustig, lustig. Der große Bärentanz soll alleweile anheben!“ (Ist gleich keine Menschenseele drinnen.) – Ein nicht minder preiswürdiges Herkommen in der Gelehrtenwelt sind die Rezensionen des Buchs, wenn es nun selbst erschienen ist. Denn so, wie oft in jenen Haupt- und Staatsaktionen der Jahrmärkte der große Affe, welcher sozusagen den Prologus vor der Haustür hält, im Stücke selbst gleichfalls eine Hauptrolle spielt, ebenso trifft es sich oft in Deutschland, daß der Affe, welcher ein Buch jahrelang vorher ausposaunt, und der, welcher es schreibt und kritisiert, eine und die nämliche Person sind. Ebendeshalb trug der Verfasser gegenwärtigen Taschenbuches Bedenken, von einer so allgemein beliebten Mode ohne Not abzuweichen. Hier folgt eine eigne Rezension, die an Gründlichkeit und Tiefe mancher andern in den berühmtesten kritischen Journalen Deutschlands zuverlässig nicht nachsteht.
     Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire. Herausgegeben von J. D. Falk. Mit Kurfürstl. Sächs. Privilegio. Leipzig, in der Sommerschen Buchhandlung 1797. (Preis: 1 Taler.)
     Rezensent muß offenherzig gestehen, daß ihm schon der bloße Titel dieser elenden Scharteke höchst anstößig, ja ärgerlich gewesen ist, weil er in zwei Worten ebensoviel Absurditäten enthält. – Wozu erstlich das Beiwort „satirisches“, da, nach der festen Überzeugung des Rezensenten, das, was man gewöhnlich mit dem Namen Satire bezeichnet, durchaus keine Satire ist? Und angenommen, daß es eine Satire gäbe, so hat dieselbe es doch durchaus nur mit der Zukunft und Vergangenheit, nie aber mit der Gegenwart zu tun. **) Zweitens, wozu ein neues Taschenbuch? Und dies zu einer Zeit, da die Taschen unsrer feinen Herren von Forst- und Jagdalmanachen, von musikalischen Blumensträußen, juristischen, medizinischen, statistischen, theologischen, genealogischen, dramatischen, historischen und politischen Taschenbüchern so vollgepackt sind, daß, sollte etwa die Tyrannei der Mode die Rocktaschen noch mehr verengen, als wie es bisher geschehen ist, selbst für die wesentlichern Bestandteile eines Cicisbeo, ich meine für Taschenspiegel und Lorgnette, kaum Platz genug erübrigt werden dürfte. Über den Inhalt selbst, der unter aller Kritik ist, erlauben wir uns nur ein paar flüchtige Bemerkungen. Eh und bevor es sich Herr Falk wieder beikommen läßt, seinen faden, abgeschmackten Witz über einige Mißbräuche der kritischen Philosophie (wie er es zu nennen beliebt) auszulassen, so wollen wir ihm wohlmeinend anraten, doch ja vorher ein zehn Jahr auf die Enträtselung jener mystischen, einen hohen Sinn in sich verschließender Terminologien, die nur Aberwitz und Unwissenheit verspotten kann, zu verwenden. Sonst wird er sich selbst dem unausbleiblichen Gelächter in den Augen aller derjenigen preisgeben, die jene erhabnen Schulformen mit unsäglicher Anstrengung in ihren Kollegienheften nachgeschrieben und in aller ihrer Reinheit aufgefaßt haben. – So wie seine Urteile höchst unreif sind, so ist auch sein Witz entweder gemein oder gesucht; es fehlt ihm schlechterdings an aller Welt- und Menschenkenntnis. Seine Verse sind holpericht; seine Einfälle Platitüden; alles ist planlos und ohne Ordnung durcheinander geworfen. Bei dem allen ist es um desto unbegreiflicher, wie ein so seichter Kopf sich erfrechen kann, die würdigsten Männer unserer Nation, einen Rehberg, Lavater, de Marees, Hermes, Schirach, Schikaneder, Hoffmann, Hofstäter, Fontenelle, Oswald usw. zu begeifern. Rezensent läßt sich verleumderische Angriffe auf die Ehre eines rechtschaffenen Gelehrten gefallen, wenn es unter Beobachtung des gehörigen Anstandes, d.h. in einer anonymischen Rezension, geschieht (wie es Herr Rehberg öfters in der Allg.d.L. getan hat) oder auch, wenn man sich dergleichen etwa in einem glehrten Klub in die Ohren flüstert; aber vor dem ganzen Publikum mit aufgezogenem Visier in die Schranken zu treten, seine Angriffe mit Stellen aus dem angegriffnen Autor, ja mit seiner eignen Namensunterschrift zu belegen: dazu gehört, unsers Bedünkens, die eiserne Stirn eines Pasquillenschreibers.
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*) Ein Mann, der auf den Jahrmärkten Löwen Tiger, Panther usw. vorzeigt.
**) Viele meiner lieben Zeitgenossen stehen in diesem Wahne. Über die Barbarei unsrer Vorfahren und die Zügellosigkeit unsrer Nachkommen wird von allen Dächern mit Beifall gepredigt. Verleumdet, wie die elenden Wiener Exjesuiten Friedrich den Großen! Eure Zeitgenossen schweigen: Aber versucht euch in einer Satire über den kleinen H..m.s, und ich wette darauf, es gibt Narren genug, die sich seiner mit Wärme annehmen. – Und doch ist dieser ehrwürdige Prälat so allgemein wegen seiner Gewissenstyrannei verhaßt, daß, wenn ihr schwieget, sich vielleicht die Steine selbst gegen ihn erheben würden;  wie es denn verlauten will, als hätte sich dergleichen auf einer berühmten Universität wirklich einmal ereignet. Wir sind uneigennützig genug, die gesamte Vorwelt, das heißt unsre Väter, Groß- und Urgroßväter, dem Satiriker auf Gnade und Ungnade und als ein Pack von nichtswürdigen, bigotten Narren, Dummköpfen, Schurken und Bösewichtern preiszugeben: Aber dagegen besteht denn auch die gegenwärtige Generation, wie billig, aus lauter aufgeklärten Menschenfreunden und unbestochnen Patrioten. Sind unsre Abkömmlinge, diesen Grundsätzen getreu, nur halb so billig und zärtlich gegen uns gesinnt als wir gegen unsre Groß- und Urgroßväter, so gerate ich doch beinahe in die Versuchung zu glauben, daß die Satire auch der Gegenwart angehöre.


Reisen zu Wasser und zu Lande des Scaramuz

ERSTE ABTEILUNG,
WELCHE DIE REISEN ZU LANDE ENTHÄLT

Geneigter Leser! Daß du hier nicht zugleich die Reisen zu Wasser erhältst, geschieht aus dem einfachen Grunde, weil sie der Autor selbst zur Zeit noch nicht angestellt hat. Ich verweise dich also, falls ich nicht unterdes im großen Weltmeer ertrunken bin, so Gott will, auf den künftigen Jahrgang dieses Taschenbuchs!
 

Erste Abteilung


ERSTES KAPITEL

Scaramuz tanzt auf seiner Eltern Hochzeit

Ich erblickte das Licht der Welt in demjenigen Teile von Polen, der, nach den neuern Landkarten, jetzt Südpreußen genannt wird. Meine Schwester ward sehr früh, in ihrem funfzehnten Jahre, nach Warschau verheiratet. Da auch der Notarius einmal da war, so stipulierten meine geliebte Eltern, die nun auch des ledigen Standes nachgerade herzlich überdrüssig wurden, zugleich und zur nämlichen Zeit ihren eignen Ehekontrakt.
     Es war ein herrlicher, unvergeßlicher Tag! So eine Liebe, so eine Eintracht! Wir Kinder waren alle ein Herz und eine Seele und tanzten zusammen auf unsrer Eltern Hochzeit. Mutter forderte Kasimir auf – so hieß mein ältester Bruder – , eine Menuett à la Reine mit ihr zu tanzen, das er ihr auch nicht abschlug, obgleich die ganze Nachbarschaft wußte, daß sie weder stifts- noch turnierfähig sei. – Acht Tage darauf gab´s ein großes Vogelschießen auf unsers Vaters Schloßhof. Das war eine Lust! Vaters Schloß war eins der angesehensten in der ganzen Provinz; denn es hatte zwei ganze Fenstererker – wiewohl der linke durch das Vogelschießen seitdem ein wenig von den Bolzen gelitten hat. – Mama galt in der ganzen umliegenden Gegend für eine erzgelehrte Dame; denn sie las fertig weg, ohne eben viel zu buchstabieren. Das verdankte sie denn alles unserm seligen Hofkaplan, der, Gott tröste seine Seele! ein Herr von absonderlichen Einsichten war. Und mäßig, mäßig dabei! – Oh! Kein Mensch wird es glauben, aber, Ehre, sag ich, dem Ehre gebühret! In der ganzen Woiwodschaft war er unter allen seinen Herrn Amtsbrüdern es allein, den die Bauern von den Gevatterschmäusen nicht nach Hause – tragen durften.
 

ZWEITES KAPITEL

Ein reisender Virtuose, ein polnisches Fräulein,
ein Marktschreier und ein Jahrmarktsaffe

Als die Festins vorbei waren, tat mein Vater mich auf das Gymnasium zu Danzig.
     Ich fuhr auf dem Postwagen. Meine Reisegesellschaft bestand aus einem reisenden Virtuosen, einem schönen polnischen Fräulein, einem trunknen Marktschreier und einem großen Jahrmarktsaffen.
     Der Marktschreier brach sich gleich auf der ersten Station den Hals. Auf der zweiten Station wollt ich eben aufsteigen, als die Nachricht einlief, der reisende Virtuose sei mit dem Fräulein ganz in der Stille, und ohne die Zeche zu bezahlen, abgereist. Wäre nicht der Postillion noch gewesen, ich glaube, Gott verzeih mir's! ich und der Jahrmarktsalfe wären allein nur nach Danzig gekommen.
 

DRITTES KAPITEL

Enthält tiefe Reflexionen
über die Nützlichkeit der Stockschläge
und den Unterschied der Stände

Der Professor des dortigen akademischen Gymnasii, bei dem ich mein Absteigequartier nahm, galt für einen Mann von unermeßlicher Gelehrsamkeit und noch unermeßlicherer Gravität. Seine Untergebenen nannten ihn Sr. Exzellenz. So hießen in Danzig die Professoren, so wie die Schöppenherren Ihro Herrlichkeit. Den Morgen nach meiner Ankunft ward ich in dem Kreuzgange von Graumünchen introduziert; das heißt, ein Haufe künftiger Mitschüler zog mich gewaltsam an einen Kirchenpfeiler, wo ich unter frohlockendem Geschrei der Umstehenden ein höchst schmerzhaftes Produkt von zwanzig Streichen mit kleinen knotigen Bambusstöcken empfing. Nach geendigter Exekution trat ein junger Patrizier an mich, der selbst bei dieser tragikomischen Farce eine Hauptrolle gespielt hatte. "Gratulieren Sie sich!" hub der junge Herr in einem höchst leutseligen Tone an, "Sie sind mit der Hälfte abgekommen, weil Sie von Adel sind. Wären Sie bürgerlicher Extraktion, so zählten wir Ihnen zweiundvierzig netto zu, von wegen des vorausgesetzten stärkern Knochensystems." Ich dankte pflichtschuldigst für die ungemein ehrenvolle Distinktion und ging sogleich nach Hause, um mir Spannadern und Rückgrat mit Seifenspiritus einzureiben. Es war ein höllischer Schmerz, und ich hatte unterdes die schönste Gelegenheit, über den Unterschied der Stände und ihre Nützlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft die tiefsten Reflexionen anzustellen.
 

VIERTES KAPITEL

Fünfundsechzig Definitionen von der Glückseligkeit
und ein einäugiger Kriminalrat

Alles dies war mir nur halb recht. Doch versprach ich mir in einer anhaltenden Beschäftigung mit den Wissenschaften einige Schadloshaltung. Ich hatte immer gehört, die Weltweisheit sei der einzig mögliche Weg zur wahren Glückseligkeit, und glückselig wollt ich nun einmal durchaus werden. Deshalb kauft ich alles zusammen, was ich nur von philosophischen Kompendien, Wegweisern und Wörterbüchern aufzutreiben vermochte. – Es gab damals gerade nicht mehr als fünfundsechzig einander schnurstracks entgegengesetzte Definitionen von dem Ausdruck Glückseligkeit. Jegliche derselben mit deutscher Gründlichkeit aufzufassen ward zum wenigsten ein Jahr erfordert. Da nun aber unser Leben, wenn's hoch kommt, siebzig währt und, wenn's köstlich gewesen ist, achtzig, so sah ich gar bald ein, daß mir wenig Zeit übrigbleiben dürfte, glückselig zu sein, wenn ich so viel darauf verwendete, es erst zu werden. Alle drei Wochen sah ich an den Kirchentüren Theses angeschlagen, die in dies Kapitel einschlugen. Drüber stand gewöhnlich mit Unzialbuchstaben: Ad majorem Dei gloriam! Der Tag erschien. Voll gespannter Erwartung betrat, ich das Auditorium, und ich hatte drei bis vier Stunden, ad majorem Dei gloriam, bis zum Sterben Langeweile. Überhaupt ließt ich es mir gern einmal erklären, warum so ziemlich alles, was man zu Ehren Gottes in der Welt unternimmt, so schlecht ausfällt, das Latein in diesen Disputationen selbst nicht ausgenommen.
     Nebenan dem Hause Sr. Exzellenz, des Herrn Professor X., wohnte ein alter einäugiger Kriminalrat, der unter der hochnotpeinlichen Halsgerichtsordnung grau geworden war. Dieser heiratete, als ein Greis von fünfundsiebzig Jahren, eine reizende Brünette in der Blüte ihrer Jugend, mit welcher er keine Kinder zeugte, vermutlich, weil er es gegen seine Amtspflicht hielt, irgend jemand das Leben – zu schenken.
     Der Kriminalrat hatte, wie gesagt, nur ein Auge; Amalie war feurig und eben achtzehn Sommer alt; ich neunzehn. Der geneigte Leser wird bemerken, daß in diesem Umstande die Hauptingredienzien zu einem ganzen bändereichen Romane enthalten sind.
     Und so ging es denn auch. Eines Tages fanden wir uns in einer Auktion von Kupferstichen zusammen. Amalie hatte soeben ein schönes Blatt erstanden. Es war schwarze Kunst mythologischen Inhalts und stellte den hundertäugigen Argus, den eifersüchtigen Wächter der Jo, vor, wie ihn Merkur durch seine Flöte soeben einschläferte. Ich ergriff einen Bleistift und schrieb folgendes Imprornptu flüchtig unter den weißen Rand:
             Schau hin, Amalie! – Gelang es einst Merkur,
          Trotz hundert Augen, doch den Argus zu berücken:
          O warum zauderst du, mich Armen zu beglücken?
          Grausame! Uns bewacht ein einzig Aug ja nur.
     Sie errötete sittsam und schob das Blatt unvermerkt unter die andern. Aber bald darauf lächelte sie mir freundlich zu. Ich faßte Mut. Die Gelegenheit ward günstig und schien sich von selbst einzuleiten. Hatte der verhaßte Graukopf von Kriminalrat indes von meinen nächtlichen Besuchen etwas gemerkt oder nicht: genug, er brachte mehrere Nächte schlaflos zu, kaufte doppelte Vorhängeschlösser und hielt von Stund an einen getreuen Kettenhund. Amalie geriet in Verzweiflung. Was zu tun? - Über den Hof mußt ich nun einmal! und Cerberus, o das war das wachsamste Tier auf zehn Meilen in die Runde, das auf den kleinsten Laut anschlug und alle Fremden anbellte, außer seinen ehemaligen Herrn, und der war –  – ich. Süßes Andenken zu schnell entflohner Jugendlust! Ich lag in ihren Armen, die Sterne schienen freundlich, und alle fünfundsechzig Definitionen von Glückseligkeit waren rein vergessen.
 

FÜNFTES KAPITEL

Ein Leichenbegängnis und eine Relegation cum infamia

     Noch eine Begebenheit darf ich hier nicht mit Stillschweigen übergehen, weil sie von zu wichtigem Einfluß auf mein übriges Leben war. Sr. Exzellenz, der Herr Professor, gingen eines Tages mit mir zusammen auf einen Leichenschmaus. Der Zug ging die Langasse auf, über den langen Markt, nach der Marienkirche. Wohlseliger ließen sich dort, nach der Sitte ihrer glorreichen Älterväter, nachdem sie so ein sechzig Jahre von fetten Deputaten gezehrt und quomodo conviva fatur von dem großen Gastmahle dieses Lebens ihren Abtritt genommen hatten,

          Aus Marmor eine Ruhstatt bauen,
          Die lange Mahlzeit zu verdauen.

     Nach dem Leichenbegängnisse ward weidlich pokuliert, also daß der Professor beim Nachhausefahren fest im Wagen einschlief. Anstatt ihn aufzuwecken, war ich boshaft genug, allein auszusteigen und ganz los und leise den Wagenschlag wieder zuzuschließen. Der arglose Mietkutscher fuhr fort. Die Mitternacht begünstigte die Ausführung meines Plans. Gegen zwei Uhr erhob sich ein gewaltiges Gepolter in der Wagenremise. Der Stallknecht eilt erschrocken mit Licht herbei, und siehe da! Sr. Exzellenz, der Herr Professor X., der, im völligen Trauerornat, soeben vom Schlafe erwacht und aus dem Kutschkasten hervorkriecht. Der Vorfall, wie vorauszusehen war, blieb nicht verschwiegen, und ein hochlöbliches, akademisches Gericht trug für mich auf Relegation cum infamia an. Man denke sich mein Erstaunen, als mir von Sr. Magnifizenz, dem Herrn Doktor ..., angedeutet wurde, das Territorium der Republik Danzig innerhalb vierundzwanzig Stunden zu räumen. Wer die damalige Lage der Sachen nicht kennt, dem könnte dieser Beschluß vielleicht zu peremptorisch und der anberaumte Zeitraum zu kurz erscheinen. Allein der geneigte Leser wird bedenken, daß Sr. Königl. Majestät von Preußen es mir durch ihre von Zeit zu Zeit vorwärts poussierten Vedetten und Schlagbäume ungemein erleichtert, ja es mir sogar möglich gemacht hatten, solchem Petito innerhalb drei Viertelstunden auf das vollkommenste zu gehorsamen.
 

SECHSTES KAPITEL

Etwas über die deutsche Reichspost
und den deutschen Reichstag

Als die Extrapost im hohen Wasser anhielt, warf ich noch einmal einen Blick voll unnennbarer Sehnsucht auf die allmählich zurücktretenden Türme und Paläste. Gleich einem Träumenden, und wie verloren in das süße Andenken einer Nacht in den Armen Amaliens, stand ich da in der romantisch wilden Landschaft, vor mir die brausende Ostsee, mit ihren weißen Segeln und hervorspringenden Masten, und hinter mir das dumpfe und allmählich verstummende Getöse der Stadt und der Schiffsreede.
     Ich streckte die Arme aus und rief: "Amalie!" Süßer Name! Die Echo hatte ihn nicht vergessen. – Von Berg und Tal, in Fels und Gesträuch hallt' es wider: Amalie! Wer könnte dich auch vergessen, Amalie! Hier blies der Postillion. Ich trocknete ein paar flüchtige Tränen auf. Der Wagen flog davon. –  –  – 
     Flog? Das nun wohl nicht. Indessen wer deutsche Poesie und deutsches Postfuhrwesen kennt, weiß ja ohnehin, wie er dergleichen zu verstehen hat. - Die Postpferde nehmen von euern poetischen Deskriptionen, und dem "Cito" auf euern Briefcouverten gerade gleich viel Notiz.
     Keine Mißverständnisse, bitt ich! Überall schätz und lieb ich, was Deutsch heißt; vor allem die deutsche Reichspost und den deutschen Reichstag. Nein, nein! ich sag es keck heraus, es gibt keine schönere Gegenstücke.

              Das Heil'ge, Römische, Deutsche Reich
           Der deutschen Reichspost ist gar gleich.
           Nur vorwärts, Schwager! Glück zur Fahrt, 
          Was auch die alte Achse knarrt! 
          Ihr leiert fort bei Tag und Nacht, 
          Obgleich im Posthaus niemand wacht. 
          Ja schnarcht auch selbst der Postillion, 
          Doch kommt er auf die Poststation, 
          Er hält er nur durch Peitschenschlag 
          Im Schlaf sein Zug- und Lastvieh wach. 
          Das Zug- und Lastvieh im Staate sind wir, 
          Ihr Herrn und Fraun, nach Standsgebühr.

     Der Reichstag war eben dazumal in der verwickelten Untersuchung begriffen, ob gegenwärtiger Krieg wie der von Kaiser Karl 1519, gegen Franz und Heinrich von Navarra, oder wie der von Anno 1618, gegen Ludwig den XIII. und den Kardinal Richelieu, zu führen sei. Mittlerweile, und eh das Konklusum noch zur Reichsdiktatur gebracht wurde, hatten die Franzosenn gerade 125 Dörfer in Brand gesteckt, 95 Städte geplündert, 100 Flecken gebrandschatzt und drangen, gleich einem unaufhaltsamen Strome, durch die vorliegenden Reichskreise in das Herz von Deutschland. Die Verwirrung war allgemein, und selbst das mächtige Östreich unterlag am Ende seinen großmütigen Aufopferungen. Ob übrigens gegenwärtiger Krieg wie der von Anno 1519 oder wie der von Anno 1618 zu führen sei, laß ich anheimgestellt. Ich bin viel zu wenig mit den Reichstagsgrundstaatsgesetzen bekannt. Soviel indes stände unsern Nachkommen unmaßgeblich zu raten, ihre Kriege gegen den Reichsfeind zu führen, wie sie immerhin wollten, nur ja nicht so wie Anno 1796. 
 

SIEBENTES KAPITEL

Die Teilung von Polen, virginischer Knaster, das Sittengesetz
und ein preußischer Zollvisitator

Mein Vater hatte mir ein vorteilhaftes Empfehlungsschreiben an einen der ersten preußischen Minister ausgewirkt. Gerade den Tag nach meiner Ankunft ging eine sehr anständige Zivilbedienung auf. Ich meldete mich dazu. Sr. Exzellenz drückten mir höchst menschenfreundlich die Hand und versprachen, ihr Möglichstes zu tun. Wer war froher als ich! Den Abend vor der Besetzung aß ich beim Minister. Das Gespräch fiel auf Polen. Sr. Exzellenz fragten mich, ob ich nicht ganz unparteiisch bekennen müßte, daß mein Vaterland durch die neue, vorhabende Teilung ungemein gewinne. Ich schwieg. Er drang in mich, und ich – erzogen in den strengen Prinzipien der Kantischen Moral, die auch die kleinste Notlüge für unerlaubt hält – gestand ihm geradheraus das Gegenteil. Alle Anwesenden zuckten die Achsel. Der Assessor N., mein Mitbewerber, ergoß sich in einen Strom von Schmähungen gegen Polen und die Verfügungen des Warschauer Reichstags. Den Morgen darauf ward dem wegen seiner patriotischen Gesinnungen rühmlichst bekannten Assessor N. durch ein allerhöchstes Kabinettsschreiben der erledigte Zivilposten erteilt. Ein für mich höchst unangenehmer Vorfall! Zur Zerstreuung unternahm ich eine kleine Lustreise. "Was Akzisbares?" rief der Visitator am Brandenburger Stadttor, als ich nach Verlauf von vierzehn Tagen mit acht bis neun Pfund virginischem Knaster im Wagenkasten wieder zurückkehrte. Wie nun? Nach den ewig gültigen Forderungen des Kantischen Sittengesetzes mußt ich diese Frage schlechterdings mit ja beantworten; nach meinen gemachten Erfahrungen von der Ungültigkeit der Kantischen Philosophie im preußischen Regierungssystern schlechterdings mit – Nein! – Also nein!
     "Mein Herr, belieben Sie auszusteigen!"
     Mir klopfte das Herz. Mein Wagen ward durchsucht, mein Tobak gefunden und ich selbst von zwei Mann Wache nach dem neuen Packhof eskortiert. "Aber, meine Herren", hub ich in dem leutseligsten Tone von der Welt an, indem ich meine ganze Barschaft an Gold und Silber auf das Schreibepult des Obereinnehmers ausschüttete, "sagen Sie mir, weshalb in aller Welt denn bin ich strafbar?"
     "Wegen Contraband, Verheimlichung und Lügen." 
     "Lügen? – Aber, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, es ist dies die offenbarste Inkonsequenz!" 
     "Wie verstehen Sie das?"
     "Es erklärt sich von selbst."
     "Kant lehrt auf einer preußischen Universität. Gut! Sie bekennen sich zu seinem System. Ich habe nichts dagegen."
     "Ewr. Wohlgeboren halten die Notlüge für unerlaubt; ich auch. Aber nun sagen Sie mir, wie geht das zu?
     Vor acht Tagen komm ich kraft eines allerhöchsten Kabinettsbefehls um eine gewisse Exspektanz. Warum? Weil ich nicht lügen will. Heute, kraft des königlichpreußischen Zolltarifs, um meine Geldbörse. Und warum? Weil ich es will." Hier brach der Obereinnehmer in ein lautes Gelächter aus, und ich verließ unter tausend Verwünschungen den Packhof.
 

ACHTES KAPITEL

Die goldne Uhr

Unzufrieden mit Kant, dem preußischen Zolltarif und der Teilung von Polen, wandelte ich den Tiergarten auf, und ab und überließ mich den schwermütigsten Betrachtungen.
     Plötzlich ward ich durch das Rauschen eines seidnen Gewandes am niedrigen Tannengebüsch aus meiner Einsamkeit aufgestört. "Verzeihen Sie", rief ein holseliges Geschöpf, das plötzlich ins Dickicht trat und ebensoschnell wieder zurückfloh. Ich folgte ihr. Wir gingen die einsamsten Schattengänge des Tiergartens entlang. Unsre Herzen schlossen sich einander auf. Es war etwas auf ihrem Antlitz, das mir wohltat, ein Zug von stiller Teilnahme und Schwermut. Sie gewann bald mein Zutrauen. Ich erzählte ihr einen Teil meiner unglücklichen Geschichte. Tränen glänzten in ihrem schönen Auge.
     "Sie haben Aufheiterung nötig, mein Lieber. Es ist Sonnabend und heut eben ein großes Privatkonzert. Folgen Sie mir dorthin!" Ich entschuldigte mich mit der Nachlässigkeit meines Anzuges. "Das tut nichts", fuhr sie mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Herzensgüte fort, der im Innersten meiner Seele widerklang, indem sie ihre Hand sanft auf die meinige legte, "das tut nichts! der Salon hat Logen, Sie sind dort ungestört und, wenn Sie wollen, allein."
     Somit bot ich ihr meinen Arm. Wir gingen durchs Brandenburger Tor herein, gerade die Linden hinauf und, dann seitwärts ab durch ein paar Querstraßen. Die Dämmerung hatte zugenommen. Vor der Türe unterschied ich mehrere Equipagen. Bediente empfingen uns mit Licht. Eine Seitenloge ward aufgeschlossen.
     Bei dem blaßgelben, zitternden Schein von Girandolen und einem von der Kuppel des Tempels herabschwebenden Kronleuchter von Kristall waren die Gegenstände ringsum weniger als halb sichtbar. Ein klagendes Adagio tönte verloren aus einer Art von Nische im Hintergrunde hervor. Blaue Weihrauchwolken dampften aus Silberkapseln und schwebten, liebliche Wohlgerüche verbreitend, auf und ab die Rotunde.
     Still und gedankenvoll saßen wir einander gegenüber. Die rottaffetnen Vorhänge meiner Loge warfen einen roten, magischen Widerschein auf das weiße Gewand meiner schönen Unbekannten. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mich ihrem holden Angesicht nahte. Ein unsichtbarer Zauber umfloß mich. Alle Sinne waren mir vergangen. Ich fühlte den leisen, warmen Anhauch ihres Atems, und in dem überirdischen Lichte, worin sich alle ihre Gesichtszüge, je länger ich sie ansah, meiner trunknen Einbildungskraft verklärten, glaubte ich meine Amalie, meine ewig geliebte Amalie, wiederzuerkennen.
     Und als wir nun vollends nicht mehr still und gedankenvoll einander gegenübersaßen, als unsre Lippen sich wechselweis in glühenden Küssen begegneten, die –  –  –  –  –  – 

Hiatus in manuscripto.


Nachschrift des Herausgebers
zu diesem Kapitel

Glücklicherweise stößt hier die vermeinte Amalie mit ihrem schönen Ellbogen ganz unwillkürlich an die halb aufgezognen, rottaffetnen Logenvorhänge, Sie sinken herunter, und nichts in der Welt soll meine keusche Muse bewegen, sie im Angesicht eines respektiven deutschen Publikums wieder aufzuziehen. –  – 
Genug, unter dem heiligen Siegel einer ewigen und unverbrüchlichen Verschwiegenheit werden dem guten, arglosen Scaramuz Gunstbezeigungen zugestanden, die er nur mit dem höchsten Widerwillen tages darauf dem Herrn Polizeidirektor Eisenberg anvertraut. Ich weiß, meine schöne Damen, daß dieser Meineid auf seiner Seite sich durchaus nicht ganz entschuldigen läßt; allein haben Sie die Geneigtheit zu bedenken, daß es denn doch auch für einen armen Teufel wie Scaramuz keine Kleinigkeit ist, zugleich an einem Nachmittage sein Herz und seine – Uhr zu verlieren.
 

NEUNTES KAPITFL

Der Gendarmturm, Totengespräch,
Trenck und Charon

Ich schrieb Posttag für Posttag an meinen Vater, aber erhielt keine Antwort. Dadurch geriet ich denn sehr bald in eine höchst bedenkliche Situation. Aus Unmut und Verzweifelung ergriff ich die Feder.
     Hatte der große Rousseau Noten kopiert, warum sollte Scaramuz nicht Akten kopieren? So sprach ich zu mir selbst und ließ mich bei der hiesigen Stadtkanzelei als Supernumerairkopist anstellen. Aber dazu hatt ich nun einmal zuviel Originalität. In vierzehn Tagen war ich des Dinges herzlich überdrüssig und beschloß, mich bei irgendeiner deutschen Romanfabrik zu verdingen. In der Tat fand ich auch bald genug, daß der Übergang von einem Kopisten zu einem modernen Autor viel leichter ist als von einem Autor zum Kopisten. Beide treffen in einem Hauptpunkt zusammen – im Abschreiben. Dies veranlaßte folgendes Sinngedicht, das durch die boshafte Vermittelung meiner Feinde in die "Spenersche Zeitung" eingerückt ward.

                                             An Sc.
          Was in der Kanzelei du einst gewesen bist,
          Das bist du immer noch als Autor - ein Kopist.
          Man sagt von dir sogar - was sagt man nicht! - du schriebest 
          Dich selbst oft ab, damit du nur in - Übung bliebest.

     Unglücklicherweise hatte ich zur nämlichen Zeit ein Totengespräch zwischen Charon und dem Baron von Trenck verfaßt:
     "Tretick bestand darauf, sich in die Barke einzuschiffen, und Charon auf die Erlegung eines Obolus. Trenck gab ihm einen preußischeu Böhmen *), und Charon rief verdrüßlich: "Beim Styx! Sieh mir eins den Maulaffen! Was soll ich denn in der Unterwelt mit der lumpichten Kupfermünze anfangen, da sie sich kaum auf der Oberwelt mit Not und Jammer in Cours erhält?"
     Das Münzdirektorium nahm diese Freimütigkeit etwas krumm und Untersagte mir den Verkauf meines Wochenblatts. Was zu tun? Glücklicherweise hatte ich Talent zur Zeichenkunst. Ich beschloß, die prächtigsten Gebäude Berlins im Grundriß aufzunehmen. Das Werk sollte heftweis erscheinen. Mit dem neuerbauten Turm auf dem Gendarmplatz hub ich an. Bis auf die Kuppel stand er fix und fertig. Aber Unglück über Unglück! Kaum trat ich mit meinem Reißzeuge vor dies herrliche Monument moderner Kunst und Art, als es, Gott weiß wie, zusammenfiel. Dadurch verging mir denn alle Lust, weiterzuzeichnen; denn ich sah ein, daß bei unsrer gegenwärtigen Bauart diese Unternehmung höchst tollkühn sei. Einige Zeit lang lebte ich von dem Ertrag meiner Pränumerationsgelder und was mir etwa beiher die Verfertigung von Bittschriften abwarf. Unter der Berliner Bürgerschaft ging dazumal das Gerücht, die Regierung sei soeben mit der Auffindung von Maßregeln beschäftigt, dem immer mehr einreißenden Laster der Trunkenheit zu steuern, und schon sei zur Schließung der vielfachen Destillateurladen ausdrücklich ein Kabinettsbefehl erteilt.
     Die Bestürzung unter derjenigen Einwohnern, die diese Verfügung unmittelbar traf, war unaussprechlich, die Gärung unter der ihnen anhängenden Volksklasse bedenklich. In diesen merkwürdigen Zeitraum fiel die Verfertigung meiner Bittschrift. Sie hat alle jene Besorgnisse auf das glücklichste gehoben und die Einstellung aller weitern Untersuchungen über diesen Gegenstand veranlaßt. Hier ist sie, bis auf einige unbedeutende Abänderungen ...
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*) Preußischer Böhme, preußisches Düttchen, gilt bloß in einem Teil der Provinz; in der Hauptstadt nimmt es niemand..
 

ZEHNTES KAPITEL

Bittschrift der Berliner Destillateure

"Übelgesinnte Mitbürger haben einem hohen Generaldirektorio durch die gehässigste Vorspiegelung einen der ergiebigsten Handlungszweige der Mark Brandenburg verdächtig gemacht. Unstreitig aber gehören die Destillieröfen unter die wohltätigsten Erfindungen neuerer Zeit, und ihr unmittelbarer Einfluß
     1) auf den Handel,
     2) auf die Bevölkerung,
     3) auf die Taktik,
     4) auf die Gewerbe der Untertanen ist wohl unleugbar.

Handel

Was diesen Punkt betrifft, so sind alle Politiker über folgenden Grundsatz einverstanden. Je größer die Konsumption in einem Lande ist, um so ausgebreiteter ist sein Kommerz. Nun aber läßt es sich nachweisen, daß Monat für Monat eine Quantität von 300 Wimpeln Roggen allein für die berlinischen Destillierkolben geschroten wird. Ja, ein einzelner Mensch, leert er täglich eine Flasche von diesem Getränk aus – ein Fall, der unter uns, Gott sei es gedankt! noch nicht so gar selten geworden ist –, verbraucht eo ipso einen fünffach größern Anteil von Brotkorn zu seiner Mundprovision. 
     Nach einer keinem Zweifel unterworfenen Bilanz verschafft also der Trunk, im Vergleiche mit der Nüchternheit, dem Handel einen fünffachen Vorteil. Auch dient die Verteurung der Lebensmittel erster Gattung nicht allein zur Bereicherung unsrer Kornjuden und Erhöhung der Getreidepreise, sondern auch zur Vermeidung aller Folgen einer gehässigen Konkurrenz in Kauf und Verkauf.

Bevölkerung

Auch dies zweite Hauptstück meiner Einteilung ist einer aufmerksamen Betrachtung nicht unwert.
     Wie nachteilig die Bevölkerung einem Lande von kleinem Flächeninhalt werden kann, hat unlängst ein deutscher Autor im "Merkur" mit Scharfsinn erörtert. Sie erzeugt Teuerung, Verzweifelung, und in dieser Stufenfolge schlummert der Keim zu allen Revolutionen. Wie ist diesem Unglück vorzubeugen? Die Aufgabe gehört zu den verwickeltsten in der Politik; die Geneigtheit der untern Volksklasse zur Propagation ist grenzenlos; verschiedne Staaten ergriffen die verschiedensten Maßregeln. Zu Amsterdam, Paris und Lyon sind es Guillotinen und Findelhäuser; in Berlin und Potsdam Charite und Destillateurladen, wodurch man der Bevölkerung kräftig entgegenarbeitet.
     Von 5 989 Kindern starben zu Paris vor dem fünften Jahre 5105; also von 100 immer 87. Dies erhellt unumstößlich aus den Sterbelisten jener menschenfreundlichen Anstalt.
     Im Hospitale zu Lyon waren nach Ablauf dieses Jahres von 800 750 daraufgegangen.
     Zu Amsterdarn wurden von 1761 bis 1770 Findlinge aufgenommen - 205. Davon waren den 31. Dezember 178o noch am Leben 36. Also fiel dem Findelhause, von 100, immer nur die Erziehung des Zehnten zur Last.
     In Ermangelung gleichförmiger Entvölkerungsinstitute sehen wir uns in Berlin bloß auf Charite und Destillateurladen eingeschränkt. In der Charité sterben jährlich von 6 000 Personen circiter 3 000, und der Branntwein rafft nach Percival *) jährlich mehr Europäer hin als Krieg, Pest und alle ansteckende Seuchen zusammen. **)
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*) Siehe Percival, System einer vollständigen medizinischen Polizei, z. B. S. 435.
**) Die so höchst ekelhafte Verunreinigung der Spree verdient, unter den besten Mitteln zur Entvölkerung der Residenz, nur einer flüchtigen Erwähnung. - Es gibt ein Geschirr, zu dessen Bezeichnung, wie sich einer unsrer witzigsten Köpfe darüber ausdrückt, wir der Göttin der Nacht ihren Namen abzuborgen pflegen. Die Ausleerung desselben in einen Strom, aus dem man zugleich kocht, trinkt und braut, mag immer die Berliner Mortalitätslisten Jahr für Jahr mit ein paar hundert Toten mehr bereichern. Dies hat schon der selige Büsching in. seinen "Wöchentlichen Nachrichten" 1783 bemerkt. Allein, was kommt das in einer so volkreichen Hauptstadt in Anschlag?

Taktik

Der unleugbare Ein fluß dieses Getränks auf die Evolutionen der modernen Taktik verdient ein ganz besonderes Augenmerk. Werfen wir zuerst einen aufmerksamen, forschenden Blick auf die mit Rekruten angefüllten Werbhäuser, an allen preußischen Grenzörtern, von Duisburg am Rhein bis nach Warschau - so werden wir bald finden, daß von 85 Blauröcken immer 55 im Rausch angeworben sind. Deshalb pflegen sie auch gemeinhin, sobald sie wieder nüchtern werden, auszutreten. Gleiche Bewandtnis hat es mit den Siegen der Republikaner und den häufigen Niederlagen der Alliierten. Wir alle wissen es ja aus den deutschen Hofzeitungen und dem vortrefflichen politischen Journale befriedigend genug, daß jene glänzen den Eroberungen nicht dein glühenden Enthusiasmus der Nation für Freiheit und Menschenrechte, nicht der römischen Standhaftigkeit ihrer Kohorten, nicht dem Heldenmut der Pichegru und Buonaparte, sondern lediglich der berauschenden Kraft – der Destillierkolben zuzuschreiben sind.

Gewerbe

Durch den Vertrieb der Liköre werden der Gewerbsklasse immer neue Nahrungszweige eröffnet.
     Wie viele Werkstätten beschäftigt nicht schon die bloße Verfertigung und Ausbesserung der Kessel, Retorten und Destillieröfen?
     Wo sonst finden die Glasfabriken ihren stärksten Absatz als dort, wo man, in den rohen Ausbrüchen der Trunkenheit, sich beinahe täglich die Trinkgläser und Flaschen zu ganzen Dutzenden an die Köpfe wirft? der zerbrochenen Tobakspfeifen, Schenktische, Schemelbeine nicht einmal zu gedenken. Welche Kontusionen aber sind unheilbarer als die von Schemelbeinen? Welche Wunden gefahrvoller als die von Glasscherben? Welche Kriminalhändel erklecklicher als die von Destillateurladen?
Ach! – und jene armen hülflosen Geschöpfe, welche die "Stadt Belgrad" und "Speyer" *), "Gibraltar" und "Köln am Rhein", "Der hölzerne Schlafrock" und "Der schwarze Kater" aus ihren verborgensten Schlupfwinkeln, in der einsamen Stunde der Mitternacht, über entfernte Schloßbrücken und unbehorchte Kirchhöfe aussenden! Sie, deren Eroberungspläne an so vielen grausamen Männerherzen scheitern; wo anders als in dem zauberischen Zwielicht eines Destillateurladens öffnet sich ihren verfallenen Reizungen eine einladende Freistatt? – Wo bin ich? Welch ein herzerschütterndes Schauspiel! Wohin ich schaue, was erblick ich? – Rotgeweinte Augen – abgehärmte Wangen – gesenkte Häupter! Wer sind sie, diese ewig bedauernswerten Opfer einer treulosen Politik, die in einem unabsehlich langen Trauerzuge vor meine geängstete Einbildungskraft treten? – Oh, ihr armen unglücklichen Kupferschmiede, Kesselflicker, Glasschleifer, Glaser, Tischler, Häscher, Schergen, Chirurgen, Feldscherer und Apotheker der Mark Brandenburg, Kleve, Jülich und Berg, ihr seid es! Ach! Was ist aus euch geworden!
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*) Alles sogenannte stille und laute Wirtschaften für die niedre Volksklasse.

Allein, erhebet eure Häupter! Noch ist nicht alles verloren! Wünscht euch Glück, unter einer Regierung geboren zu sein, die euch selbst noch in der Tiefe eures Jammers eine trostreiche Aussicht eröffnet! Darum mutig, mutig ihr Lieben, Gott die Zukunft, die Gegenwart eurem König überlassen! Wie sollt er nicht einem Landesedikt seine Beistimmung versagen, das seinen verwerflichen Endzweck so unverkennbar an der Stirne trägt, einem Landesedikt, das eine politische Schwarzkünstelei ganz dazu ausgeklügelt zu haben scheint, die Taktik zu zerstören, alle Werbung zu unterbrechen, alle Tapferkeit zu lähmen, die blühendsten Gewerbe zu untergraben, Handel und Wandel in seiner Grundverfassung zu zerrütten und die furchtbarste aller Revolutionen über Europa herabzurufen! – Wir ersterben" usw.
     Die Bittschrift gefiel ungemein. Ein glänzendes Gastmahl ward mir zu Ehren von der Bürgerschaft veranstaltet. Als ich nach Hause ging, war es schon tief um Mitternacht. Der Mond schien nicht, man sah kaum die Hand vor Augen. Unglücklicherweise war gerade die Berliner Laternenpracht mit dem letzten April zu Ende gegangen, und die Straßen wurden nun eher nicht als mit dem Anfang des Septembers erleuchtet. Doch hatt ich mich glücklich bis in die Gegend der Totenstraße fortgetappt. Aber hier strauchelte ich und brach ein Bein. Es war unweit den zwei Armenhäusern für achtzehn alte Weiber, wo dieses Unglück mir zustieß. Ich erhub ein so unbarmherziges Geschrei, daß alle achtzehn Matronen aus dem Spittel herbeiliefen, obgleich fünf darunter stocktaub sind. Wie man mich darauf zum Armenchirurgus und von dort zur Charité gebracht, übergeh ich mit Stillschweigen.
     Man erlaube mir nur ein paar Worte über diese letzte, ihrem Zwecke nach so heilsame Anstalt!
     Sie liegt sehr gesund, mitten unter Wiesen, die jeden Frühling – überschwemmt sind. Die kranken Personen haben mit den genesenden ein Wohnzimmer gemein, so daß die Unterhaltung nie ausgehen kann. Der dirigierende Arzt kommt zweimal die Woche hinaus. *) Doch ist man auch in der Zwischenzeit, unter der Aufsicht junger Doktoren und Chirurgen, die hier aus allen Gegenden Deutschlands herzuströmen, sehr wohl aufgehoben. Diese liegen ihren Übungsversuchen mit der sorgsamsten Gewissenhaftigkeit ob, und nicht leicht wird irgendein Patient, ist er einmal unter ihre Hände gefallen, aufstehen, sich über sie zu beklagen.
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*) Der vortreffliche Selle.

     Eben fing ich wieder an, mit ein Paar Krücken zwischen Tisch und Stühlen fortzurutschen, als ein epidemisches Lazarettfieber *) ausbrach. Die Leichen wurden zu Hunderten hinausgetragen; alle Kommunikation zwischen Berlin und der Charité war gleichsam abgeschnitten, die Sterblichkeit unter den Offizianten und Aufwärtern ungeheuer. Nach einer Abwesenheit von wenigen Tagen ging es zwischen dem Türpförtner und dem dirigierenden Arzt nie ohne Schwierigkeit ab, bevor jener ihn einließ.
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*) Dies geschieht beinahe jährlich.

     Solche kleinen Unannehmlichkeiten, wie die Verunreinigung der engen Wohnstuben, die von lauwarmen Pestdampf geschwängerte Atmosphäre und die durch Ausdünstungen aller Art herbeigeführten Fieber und Seuchen sind beinahe von allen Armenanstalten unzertrennbar. Davon also kein Wort! Durch Erweiterung des Gebäudes, die, wie man versichert, im Werk ist, wird dem allen in Zukunft vorgebeugt. – Wieviel aber die leidende Menschheit von dieser vorhabenden Reform erwarten darf, ist jedem einleuchtend, der die unendlich prachtvolle Ecole vétérinaire mit ihren kostbaren Dampfbädern und angestellten Professoren für kranke – Perde und Schoßhunde in Augenschein genommen hat.
     Nennt immerhin Wohltun Verschwendung! Selbst die Ecole vétérinaire ist mir ehrwürdig. Wer mag einem großen Herzen so rauh und unfreundlich jede Wohltat nachrechnen! Ist die Absicht gut, liebevoll, so schweigt!
     Diese mißverstandne Sparsamkeit hat uns schon so viele Tugenden hinweggegrübelt und Mitleid und Menschlichkeit auf die fünf Rechnungsspezies zurückgesetzt. – Viel geklügelt, wenig gehandelt! die alte Losung!
     Ein Mißgriff auf der Tonleiter unsrer Gefühle ist so verzeihlich. Wer ließ ihn sich nicht einmal zuschulden kommen! die Hand aufs Herz, lieber Leser!
     Nur einen Menschen kenn ich, den ich freisprechen darf, aber wer spricht gern von einem Ungeheuer! Die gefühlloseste Barbarei beschönigt er mit dem Deckmantel der Scheinheiligkeit; Almosen betrachtet er als frevelhafte Eingriffe in die unerforschlichen Ratschläge der Weltregierung, und die bleichen Söhne der Armut überläßt er Gottes unmittlebarer Vorsehung, das heißt ihrem Elend, ihrem Jammer, ihren Tränen und ihrer Verzweifelung.
 

Zweite Abteilung

ELFTES KAPITEL

Der kategorische Imperativ

 – Desunt nonnulla –  – 
Der glückliche Erfolg meiner Freimütigkeit, im Betreff der Berliner Charité, bestätigte mich mehr als jemals in den Grundsätzen der neusten Philosophie. Dem kategorischen Imperativ zufolge hielt ich demnach nicht nur jedwede Lüge für unerlaubt, sondern ging auch noch einen Schritt weiter. Ich beschloß nämlich, die Welt zu durchreisen und allen Potentaten und Großen der Erde die Wahrheit ohne Rückhalt gerad ins Gesicht zu sagen.  –  Mein erster Ausflug führte mich nach ......t.
 

ZWÖLFTES KAPITEL

Der kategorische Imperativ muß über die Grenze

"Meine Herren!" sagte ich zu den Friedensgesandten der deutschen Reichsstände, die eben dort versammelt waren, "als die Stellvertreter einer großen Nation sind Sie uns auch ein großes Beispiel schuldig! Geben Sie uns dies dadurch, daß Sie den Geist der Kleinigkeit, der den Deutschen in den Augen andrer Völker herabsetzt, aus ihren Verhandlungen entfernen! Was ist aus uns geworden! Fast schäm ich mich, es zu sagen.  –  Während andre Nationen um uns herum Heldentaten verrichten, rosten unsre Schwerter, und wir sind zufrieden damit, unsrer Sprache einen Vers angeeignet zu haben, der zum  –  Heldengedichte der passendste ist; während zahlreiche Flotten die Meere bedecken und ebenso plötzlich wieder verschwinden, untersuchen wir mit der größten Kaltblütigkeit, ob im Homerischen Schiffskatalogus Archilochus oder Arthelochus zu lesen sei, und während alle Thronen von Europa in ihrer Grundveste erschüttert sind, streiten wir uns hier darüber, wie man der k......chen Plenipotenz die Stühle setzen soll. Noch nicht genug!  –  Indem wir ernstlich damit
umgehen, eine Katastrophe dieser Art von uns abzuwenden, sind die Mittel, deren wir uns dazu bedienen, die schicklichsten, eine herbei zuführen.
     Nach der St.Aubinischen Angabe ist es bekannt, daß sich die englische und französische Nationalschuld zu respektive 9 600 Millionen und 4820 Millionen Livres beläuft.  –  Jeder Krieg verdoppelt die Ausgaben, und diesen, nicht aber dem Andrange schwarzer Buchstaben, sind alle Revolutionen zuzuschreiben. Ich weiß, die Feinde der Preß  und Denkfreiheit haben das Gegenteil ausgebracht; aber es ist gewiß, daß eine weise Staatsverwaltung im Innern, verbunden mit dem Wetteifer patriotischer Mitbürger, zur Abstellung künstlicher Bedürfnisse, und freiwilliger Darbringung der bisher darauf verwandten Summen, allein imstande sind, dem überall gesunkenen Kredit wieder aufzuhelfen.  –  Um nur mit einigen der unbedeutendsten Artikel den Anfang zu machen: so würde Paris, wenn es sich des übermäßigen Gebrauchs der Lichter, Sachsen, wenn es sich des Kaffees, Hannover, wenn es sich des Puders enthalten könnte, nach einer leicht angestellten Berechnung *), jenes im Zeitraume von einem Jahre 7 Millionen Livres, dieses in der nämlichen Zeit 6 Millionen und das letzte in 25 Jahren 20 Millionen Taler ersparen. Was tun aber alle diese Staaten?  –  Anstatt alte Schulden zu bezahlen, machen sie lieber neue; statt die Klippen zu vermeiden, steuern sie geradeswegs darauf zu!  –  Portugal verpfändet 1794 seine Juwelen an England für eine halbe Million Pfund und leiht 1795   96   97 im Lande selbst die Millionen Rees zu Hunderten an. Dänemark errichtet 1796 eine Anleihe von 3 Millionen Talern. Preußen negoziiert zu Frankfurt und Amsterdam seit dem Jahre 93 über 30 Millionen Schulden.  –  Die Kriegskosten in Belgien tragen, nach einem offiziellen brüsselschen Memoire vorn 7. Juni 1797, die ungeheure Summe von 850 Millionen Livres aus. Die Gesamtschulden des Reichs beliefen sich schon 1792 an 4oo Millionen Gulden.
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*) Diese findet der Leser in den Anmerkungen.

Den schwäbischen Kreis drückt, nach seiner eignen Angabe im Reichsalmanach 1797, eine Schuldenlast von 5 Millionen. Ebenso mißlich steht es mit dem Schuldwesen von Kurmainz, Kurtrier, Pfalzbayern usw. **) Nur das Herzoglich Braunschweigische Haus und Kursachsen machen hier eine ehrenvolle Ausnahme. Besonders ist das vom Herzoge von Braunschweig am !. Mai 1794 erlassene Edikt ein höchstschätzbarer Überrest deutscher Sitten und altfürstlicher Haushaltungskunst!  –  Nicht so das Erzhaus Österreich, das  – "  –  So weit war ich in meinem Sermon gekommen, als man mich durch ein Kommando Österreicher, einen Unteroffizier und fünf Mann Gemeine, über die Grenze schickte.
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*) Siehe die Anmerkung.
 

DREIZEHNTES KAPITEL

Scaramuz verteidigt die Pantalons
und kömmt auf den .......stein

Ich setzte meinen Stab weiter nach  Dort sucht ich um eine Audienz bei dem Herrn ..... nach und erhielt sie. "Ewr. Durchlaucht", hub ich an, "haben die runden Hüte und Pantalons in; Dero Landen untersagt. Es ist wahr, die Franzosen haben sich in ihrem Freiheitskriege häufig dieser Kleidungsstücke bedient, allein, sollte dies ein Grund sein, sie zu verwerfen, so müßten wir auch keinen Tee mehr trinken und keine Äpfel essen, weil der Tee in Amerika *) und das Geißlerische Apfelschießen in der Schweiz das Signal zur Revolution gab. Die Klagen über Mangel und Widerspenstigkeit des Gesindes nehmen in Deutschland mit jedem Tage mehr überhand. Dank daher dem Regenten, der auch diesem Polizeigebrechen sein Augenmerk gönnt! Ob aber die von Ewr. Durchlaucht genommenen Maßregeln die passendsten sind, wag ich nicht zu entscheiden. **) So viel indes ist gewiß, daß da, wo die Schande wohlfeil wird, das Verbrechen einkehrt; und eine Regierung, die wegen Veruntreuung einiger Groschen auf Halseisen, Schandpfahl und Zuchthaus und wegen Diebstahls einiger Taler auf den Strang erkennt, hat den Maßstab größerer Vergehungen selbst mutwillig zerbrochen. Was bleibt ihr übrig als die traurige Alternative, entweder in dieser Steigerung fortzufahren oder von der Strenge der Gesetze, bei ihrer Ausübung, abzuweichen? Im ersten Falle wird Hängen, Rädern, Vierteilen und Köpfen in einem solchen Lande zur Tagesordnung gehören; im zweiten wird das Gesetz ein bloßer Popanz sein, vor dem man nur Kinder und Unerfahrne sich fürchten macht. Eins ist beinahe so schlimm als das andre! Denn der fürchterlichste Gesetzzwang und eine gänzliche Gesetzlosigkeit haben mehrere Berührungspunkte, als man glaubt. –  – Was endlich das am 9. Oktober 1794 zuerst erlassene und ganz kürzlich wieder eingeschärfte Verbot wegen des Applaudierens im Schauspielhause betrifft ***), so kann ich unmöglich glauben, daß solches von Ewr. Durchlaucht herrührt! Die Einförmigkeit, die bei den militärischen Evolutionen, z. B. bei Handgriffen und Gewehrkolben, ihren großen Nutzen hat, dürfte doch bei den schönen Künsten keine Anwendung finden! und einer großen Menge zumuten zu wollen, daß sie sich in Lob und Tadel nach der Stimme eines einzigen beweint,und wenn dieser einzige auch selbst ihr Landesherr wäre, scheint mir etwas so Ungereimtes, daß ..." Ich war mit diesem Perioden noch nicht halb zu Ende, als man mich für einige Monate auf die .....le brachte.
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*) Den 13 föderierten Staaten zu Boston.
**) Siehe die Anmerkung.
***) Siehe die Anmerkung.
 

VIERZEHNTES KAPITEL

Welches von Magdalenens Alabasterbüchse
und einer Feder vom Hahne des heiligen Petrus
handelt

Als ich von hier wieder loskam, durchzog ich die Rheinländer und einen Teil von der Pfalz. Zu ......d ließ der regierende Fürst soeben, durch einen geschwornen Notar und zwei Schreiber, bei seinen Untertanen reihherurn fragen, ob sie glaubten, daß er richtig im Kopfe sei oder nicht *), und die jedesmal erteilte Antwort wurde sogleich ad protocollum gebracht. – Zu Köln am Rhein zeigte man mir,das Kruzifix, zu dem noch vor nicht gar langer Zeit ganze Scharen Steuermärker **) aus dem Innern von Osterreich wallfahrteten, die das ausschließliche Vorrecht hatten, einem hölzernen Heilande, dem alle sieben Jahr ein neuer Bart wuchs, den alten abzuscheren. Diese armen Leute brachten ein schönes Stück periodisches Geld nach Köln, und der Magistrat daselbst empfing sie mit allem Pomp einer feierlichen Gesandtschaft. Wurde diese Zeremonie nur einmal nicht vorgenommen, so hatte, wie sie glaubten, kein Gewerbe rechten Fortgang; jede Hantierung stockte, und keine Ernte ließ sich einbringen. – Familien, die nicht selbst imstande waren hinzureisen, schickten Deputierte ab; und diese priesen sich mehr als glücklich, nach einer Reise von mehr als 120 Meilen einiger Büschel dieser Haare teilhaftig zu werden. Endlich hatte denn doch der kaiserliche Hof in diese Gaukelei ein Einsehen, und sie wurde von Wien aus dem Magistrate zu Köln förmlich untersagt. –  –  –  – 
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*) Siehe die Anmerkung. 
**) Vorzüglich Wenden.

     Ein Seitenstück zu diesem Wunderbarte des Heilandes zeigte man mir zu München in dem berühmten Reliquietikasten, wo die Jesuiten sonst nicht nur ein Büschel Haare von der Mutter Gottes, sondern auch einen Zahn aus ihrem Haarkamme, die Scherben von St. Magdalenens Alabasterbüchse und eine Feder von dein Hahne des heiligen Petrus aufbewahrten. Auch ging die dortige Zensur eben damit um, ein protestantisches Kochbuch zu verbieten, weil es Fische mit einer – Fleischbrühe zubereiten lehrte.
 

FÜNFZEHNTES KAPITEL

Lächerliche Barbarei
eines Pfälzischen Landesgesetzes

Ein trauriger Vorfall, und den ich hier noch nachholen muß, begegnete mir auf dem Wege durch die Pfalz. Mitten in Schlacken und Regen, an einem stürmischen Nachmittage, traf ich ein artiges Bauernmädchen, die ihre Niederkunft auf öffentlicher Landstraße erwartete. Sie saß unter einem Baume, und auf die Frage, warum sie nicht in einer der umherliegenden Hütten ein Obdach suche, erhielt ich zur Antwort, sie habe solches versucht, sei aber überall abgewiesen worden. Bei weiterer Erkundigung brachte ich in Erfahrung, daß die Ursache dieser unmenschlichen Hartherzigkeit nicht sowohl ursprünglich im Charakter der Pfälzer als vielmehr in der Barbarei eines ihrer Landesgesetze zu finden sei. Dies belegt nämlich jedes Bauernhaus, das eine Gefallene dieser Art in seine vier Pfähle aufnimmt, mit einem ewigen Grundzins. *)
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*) Siehe Ledderhose, Anleitung zum Hessenkasselschen Kirchenrechte, § 593.
 

SECHZEHNTES KAPITEL

Wie Scaramuz nach ........ kömmt, und was ihm der
kategorische Imperativ dort für neues Verderben bereitet

Zu München machte ich Bekanntschaft mit einem ..........  Ambassadeur, der eben durchging. Dieser beredete mich zu einer Reise nach ....... Ich ließ mir dies Anerbieten gefallen. Wir nahmen Extrapost, und in wenigen Monaten hatten wir die Grenzen von Deutschland hinter uns. – Nirgends bin ich wohl so vielen Kurieren begegnet als hier! Bald war´s eine Terrine mit Suppe à l´Esturgeon *), die ein Major über zweitausend Werste weit dem Chef seines Regiments überbrachte, bald eine Lettre de cachet, die einen friedlichen Landbewohner, wegen seines langen Barts, aus dem Schoße seiner Familie riß.
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*) Siehe die Anmerkung.

     Da die Jahrszeit schon etwas vorgerückt war, bedienten wir uns zum Fahren meistenteils einer Kibitka, und erst gegen Ende des Januars näherten wir uns der Hauptstadt. Nach vielen fruchtlos abgelaufenen Versuchen, den Kaiser zu sprechen, war ich doch endlich so glücklich, mit meinem Gesuche durchzudringen, Voll der Ehrfurcht, die dem Beherrscher einer so großen Nation gebührt, trat ich in einiger Entfernung zu seinem Thron. "Ewr. Majestät", begann ich mit zitternder und anfangs etwas versagender Stimme, "ich bin einen großen Teil von Dero Landen durchreist, und der kategorische Imperativ gebietet mir, Höchstdenselben meine Gedanken über verschiedne Gegenstände freimütig zu eröffnen." – 
     "Durack!" murmelte einer der umstehenden Minister unter dem Bart. Ich verstand ihn nicht und sprach fort . "Ewr. Majestät wissen vielleicht nicht – "
     "Was wissen Seine Majestät nicht?" fiel mir der nämliche Minister ins Wort. "Elender Europäer, er soll wissen, daß ein Beherrscher zweier Weltteile alles weiß!"
     Ich bückte mich tief. Der Kaiser war sehr gnädig und winkte mir, daß ich nur fortreden sollte.
     "Und wenn Seine Majestät nun alles wissen, um so mehr befremdet es mich, daß Sie nicht lieber, anstatt Zensur und Bücherverbote einzuführen oder sich um den Schnitt eines Rocks und die Klappen einer Weste zu bekümmern, dafür sorgen, daß Ihre Untertanen erst lesen lernen und Schuh und Strümpfe bekommen." Der Kaiser zog ein finstres Gesicht; ich ließ mich aber nicht irremachen und sprach weiter: "Ich bin durch Gegenden gekommen, wo ein Fenster in der Hütte und ein Paar Stiefeln auf dem Fuße unter dein gemeinen Manne den Maßstab des Reichtums abgibt. *) In Deutschland gehören beide Dinge zur dringendsten Notdurft. Kaum hat man dort einen Begriff von den Spelunken ohne Schornstein und Fenster, worin in Ewr. Majestät Landen das Ebenbild Gottes verschmachtet. Kein Leibeigener verwüstet dort jährlich, bloß seiner Bastschuhe wegen, einhundertundzwanzig junge Lindenstämme! Keine Hebamme, die zu einer Schwangern, kein Arzt, der zu einem Kranken eilt, kein Kranker, der zum erstenmal in einem warm ausgepolsterten Wagen an die Luft fährt, wird bei uns von einer rauhen Soldateske angehalten und, da er kaum stehen kann, auszusteigen genötigt, um, Gott weiß warum, einige lächerliche Corbetten zu schneiden. –  – 
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*) Siehe die Anmerkung.

     Alles das ist hier anders! Das Bild der Not und des Drucks begegnet mir auf allen Gesichtern. Das sind nicht Menschen, die ich erblicke, sondern eine Art gezähmter Haustiere, die jedem zu Gebot stehn, der ihnen die Peitsche über dem Kopf schüttelt. Aller orientalische Pomp und Schimmer, alle Pracht des Hofes entschädigt mich nicht für die Herabwürdigung meines Geschlechts. – Was kann es mir helfen, wenn ich weiß, daß Dero große Vorfahrin sich der Diamanten statt der Spielmarken bediente? daß sie in kurzer Frist zwischen zwei  und dreiundzwanzig Millionen Rubel an ihre Lieblinge verschwendete? oder daß der Fürst ....in, als er sie bewirtete, die Kirschen aus dem Treibhause, das Stück mit fünf Rubeln, bezahlte
und nie unter sieben  bis achthundert Rubeln zu Mittag aß? – Mit einem Wort, all dieser Luxus, all diese übertünchte Kultur gemahnen mich an die Kolonien zu ....son, wo man die Strohhütten auf ein paar Tage versteckt und nachher wieder an ihren alten Platz stellt. *)
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*) Siehe die Anmerkung.

     Was soll mir ein lustig gruppierter Vordergrund, dessen Hinterhalt dem Auge, in trauriger Beleuchtung, die brennenden Ruinen von ...g, den Zug der .....ken an der ...ga, *) die schwankenden Menschenpyramiden von ...ow und die Verbannung von zwölftausend **) unglücklichen Schlachtopfern darstellt, die ihre Tugend und ihr Patriotismus nach .....ien brachte! Ewr. Majestät haben gleich beim Antritte Dero glorreichen Regierung diese Verwiesenen zurück berufen; dies ist wahrhaft groß und kaiserlich gedacht! und eben deshalb wünscht ich, Dieselben wären noch einen Schritt weiter gegangen und hätten zugleich eine Konvention vernichtet, die mit dem Allerheiligsten ihr Spiel treibt und die Teilung eines mächtigen Königreichs im Namen der unteilbaren Dreieinigkeit unterzeichnet.
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*) Siehe die Anmerkung.
**) Nach andern funfzehntausend.

     "Slove i delo!" unterbrach mich hier aufs neue der Minister, dem man keinen unbedeutenden Teil an jenem Vertrage beimaß. Vor Zorn schien er seiner selbst nicht mehr mächtig. Ich verstand ihn zwar nicht, so viel merkt ich indessen bald, daß so etwas wie die Knute dabei mit in Anschlag kam. Aber der Kaiser schüttelte den Kopf, und indem er mir den Befehl erteilte, ihm näher zu treten, fragte er mich mit vieler Huld, was es denn eigentlich damit für ein Bewenden habe, daß ich ihm Dinge dieser Art so geradezu ins Gesicht sagte. "Verzeihen Ewr. Majestät", erwiderte ich in einem festen, jedoch bescheidenen Tone, "das ist eben der kategorische Imperativ!"
     "Schtotto?" sagte der Kaiser.
     "Der kategorische Imperativ!"
     "Seine Majestät fragen, was dies barbarische Wort für einen Sinn habe", schrie mir einer der umstehenden Kammejunker ins Ohr. – 
     "Es ist kein barbarisches Wort", gab ich ihm zur Antwort, "sondern die Stimme in uns."
     "Suckin Szün! und wenn ich dir nun die Knute geben lasse?"
     "Das steht freilich ganz in Ewr. Majestät Belieben! Was mich betrifft, so würde sich alsdann in mir der Seufzer regen; die Stimme aber und der Seufzer sind die beiden Fundamentalgesetze der allerneuesten Moral."
     Ich merkte wohl, daß der Kaiser von meiner Erklärung wenig zufrieden schien, denn er ging fort. Der Minister aber, der zurückblieb, sagte mir, Seine Majestät hätten ihm die Ordre zurückgelassen, mich wegen meiner Insolenz unters Militär zu stecken. Nun protestierte ich zwar dagegen aus Leibeskräften, und in der Tat hatte ich auch keine Silbe davon aus dem Munde des Monarchen gehört. Aber was half's? Der Minister sagte mir rundheraus, ich könne mir gratulieren, daß ich so wohlfeilen Kaufs davonkäme: Er, an Sr. Majestät Stelle, hätte mir wenigstens Nase und Ohren aufschlitzen lassen oder mich auf zeitlebens nach .....ien geschickt. Als ein offenbarer Feind des Reichs, der kurze Stiefeln, abgeschnittenes Haar und, was das Schlimmste sei, eine Giletweste trage, hätte ich nicht nur dies, sondern auch noch wohl was weit Schlimmeres verdient. Umsonst erbot ich mich gegen Seine Exzellenz, falls es die öffentliche Wohlfahrt so und nicht anders erfordre, dem Staate ein Opfer zu bringen und freiwillig die Giletweste auszuziehn! Der Minister verwarf nicht nur diesen Antrag, sondern gab mir auch noch ziemlich bitter zu verstehen, als möcht ich diese Zeremonie nur bis morgen, bei der Wachparade, versparen. Und hier erfuhr ich erst, was man mir so lange verschwiegen hatte, daß man zugleich damit umging, mir vor der Einkleidung einhundertundzwanzig Batoggen zuzählen zu lassen. Ich bat, ich flehte; ich stellte Sr. Exzellenz die eiserne Notwendigkeit vor, in die mich der kategorische Imperativ, als ein moralisches Wesen, gesetzt hätte, just so und nicht anders zu handeln, ich rüttelte an seinem Gewissen; aber da war weder von Stimme noch von Seufzer etwas zu hören noch zu sehen! Sie schliefen oder waren über Feld gegangen oder – genug; das Höchste, was ich erhielt, war ein Nachlaß von zwanzig Batoggen und die Erlaubnis, nicht Land , sondern Seedienste zu tun, die ich deshalb vorzog, damit mir die Hintertür wenigstens zur Flucht offenblieb. – Die Exekution selbst sowie die, während meiner ersten Dienstzeit mir zugefügten, vielfachen Mißhandlungen berühr ich hier nur mit ein paar Worten.
     Von wem ich am meisten ausstand, war der alte Exerziermeister unsers Regiments, der Herr v. .. Dieser hatte bei einem gewissen Anlaß einen unversöhnbaren Groll auf mich geworfen, und wie sehr er mir diesen nachtrug, zeigte sich noch kurz vor unsrer Abreise, wo mir das Unglück begegnete, die berühmte Jagd, worauf der Kaiser bisweilen spazierenfuhr und die, einem darüber erlassenen Spezialbefehl gemäß, künftighin nicht mehr eine Jagd, sondern eine Fregatte heißen sollte, bei ihrem rechten Namen zu nennen. Dies zog mir wieder hundertundzwanzig Batoggen und einen zwölfstündigen Arrest auf der Hauptwache zu, und wer weiß, wär ich nicht noch schlimmer davongekommen, wäre nicht der nächstfolgende Tag der unserer Einschiffung gewesen!
 

SIEBZEHNTES KAPITEL

Scaramuz geht in See – Unfälle

Das Geschwader, womit wir in See stachen, wurde vom Vizeadmiral ........ am Bord des "St. Paulus" kommandiert. Es bestand aus sechs Linienschiffen, worunter sich "Zacharias" und "Elisabeth", "Maria Magdalena" und "Die Heilige Dreifaltigkeit", mit vierundsiebzig Kanonen, ganz besonders auszeichneten. Unter die Fregatten von der Linie gehörten zu den vorzüglichsten: "Das heilige Pfingstfest", "St. Michael", "St. Niklas" und "Die Heilige Jungfrau von Kasan". Beim Vorübersegeln am Serail genossen wir des in seiner Art einzigen Schauspiels, ein funfzig Rebellenköpfe aus der Armee des Paßman Oglu soeben über den Torweg annageln zu sehn. – Bald darauf nahm die Belagerung von Korfu ihren Anfang. Vorteile und Nach teile wechselten auf beiden Seiten, und es läßt sich daher nicht leicht entscheiden, ob die Franzosen mehr von uns oder wir mehr von ihnen litten. "Maria Magdalena" kriegte sie an Bord. "St. Michael" verlor seine Bramstänge und "Die Heilige Dreifaltigkeit" ein paar Masten. Noch mehr, "St. Paul" wurde sein Hinterteil abgeschossen, und "Die Heilige Jungfrau von Kasan" konnte noch von Glück sagen, daß sie mit einem Loch im Segeltuche davonkam. – Auf ebendieser Fregatte entspann sich auch das Komplott, dem ich nebst einigen andern meine Befreiung verdanke, nämlich so: Im Einverständnis mit den französischen Kriegsgefangnen, am Bord der "Magdalena", lösten wir bei nächtlicher Weile das Schiffsboot und richteten unsern Kurs nach den italienischen Küsten. Von hier begaben wir uns nach Mailand. Dies ist für mich eine der traurigsten Perioden, die ich erlebte! – Wie oft habe ich mir nicht mit den Facchinis zu Pavia vor der dortigen Hospitalapotheke ein kümmerliches Frühstück gezapft! *)
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*) Siehe die Anmerkung.

     Zwar erboten sich die Franzosen, mich in ihre Dienste zu nehmen; aber die Begierde, in der Welt umherzureisen und den Großen der Erde, mit denen ich es im Grunde gut meinte, durch meine unbestechbare Wahrheitsliebe nützlich zu sein, war durch alles erlittene Drangsal eher vermehrt als vermindert. – Früher oder später wird man dich doch als einen Märtyrer der Wahrheit ansehen, dachte ich bei mir selber und ging geradesweges – nach Rom. Nach hundertundzwanzig Fußfällen erhielt ich Zutritt beim Papst. Voll Demut küßt ich ihm den Pantoffel und sagte: "Heiliger Vater, erlaubt mir, Euch zu beweisen, daß Ihr der leibhafte Antichrist seid!" Pius der Sechste erschrak nicht wenig, und ich fuhr fort: "Unter Antichrist versteh ich einen, der das Gegenteil von all dem denkt und tut, was Christus, unser Herr, gedacht und getan hat. Nun befiehlt uns Christus, unsre Feinde zu lieben; Ihr aber laßt den wackern General Duphot umbringen. – Christus will, daß wir Böses mit Gutem vergelten; Ihr, anstatt den Franzosen, nachdem sie Euch Avigtion genommen hatten, Rom und Bologna dazuzugeben, bekriegt sie im Gegenteil, wo Ihr sie findet, als Feinde Gottes und der Kirche. – Christus trieb die Käufer und Verkäufer zum Tempel hinaus; Ihr etabliert lieber selbst einen Kornhandel und bedient Euch dabei falschen Maßes *) [*) Siehe die Anmerkung.] und Gewichts. Christus speiste mit fünf Broten fünftausend Mann; Ihr nehmt dem armen Mann sein letztes Stück Brot, um ein Heer von siebentausend Mönchen damit zu speisen! – Christus – " Hier trat ein Diener der Heiligen Offiz mit fünf Mann Sbirren herein, und man brachte mich auf die Engelsburg. Dort saß ich so lange, bis die Franzosen, die, Duphots Tod zu rächen, vordrangen, mich aus meiner Gefangenschaft befreiten; dann ging ich nach ....el. – Hier erwartete ich einen bessern Lohn für meine Freimütigkeit als in Rom. – Die Erfahrung wird zeigen, ob und wie weit ich mich in dieser Erwartung betrog. Der König empfing mich höchst leutselig. "Ewr. Majestät erlauben mir", hub ich an, "Höchstdenselben die Schädlichkeit des zu großen Übergewichts der Geistlichkeit und des Adels in Dero Landen auseinanderzusetzen! Für ein so kleines Königreich wie ....el sind 156 Herzogtümer, 173 Marchesate, 119 Fürstenhäuser, 60 Grafschaften und 500 Baronien wirklich ein wenig zu viel! *) Was soll dem Staate eine Last voll 22 Erzbischöfen, 50313 Weltpriestern, 116 Bischöfen, 31214 Mönchen und 23313 Nonnen, die, bei einem jährlichen Einkommen von neun Millionen Dukaten, den dritten Teil aller Landgüter innehaben! Natürlich, daß der gemeine Mann da, wo alles von Spenden lebt, es am Ende müde wird, nur immer zu arbeiten! Daher die vierzig  bis funfzigtausend Lazaronis, die ohne Feuer und Obdach auf den Straßen dieser Residenz umherliegen und jeden neuangekommenen Fremdling weglagern, die weiter nichts als eine Bank zu ihrer Schlafstelle, ein paar Ellen Leinewand zu ihrer Kleidung, sechs Pfennige zu ihrem Unterhalt und höchstens noch – ein kleines Stilett nötig haben, um sich alle diese Kleinigkeiten zu verschaffen, die heute in die Messe gehn, um des Bluts des heiligen Januarius und morgen, um eines seidenen Schnupftuchs teilhaftig zu werden, und während sie die eitle Hand an eine Reliquie, die andre oft an eine Uhrkette legen." – Der König hörte mir sehr aufmerksam zu, dies leitete mich immer weiter; auf die letzt äußerte ich ihm über ein anderes Kapitel italienischer Mißbräuche, den Mangel an Polizeianstalten, meinen lebhaftesten Abscheu. "Wie sehr", fuhr ich mit zunehmender Wärme fort, "muß es die Nation in den Augen andrer herabsetzen, daß bloß in der kleinen Republik Lucca jährlich an sechzig und in Neapel an fünfhundert Meuchelmorde vorfallen? Was soll man sagen, wenn der König von Sardinien dem Gubernialrat Franke **) das demütigende Bekenntnis ablegt, daß er jährlich in seinem kleinen Gebiete über sechshundert Untertanen durch den Messerstich verliere und diesem Übel auch schon deshalb nicht abzuhelfen stehe, weil seine Priester selbst so häufig mordeten? Ich lebe aber der festen Hoffnung, Ewr. Majestät, als einer der ersten Regenten dieses Landes, werden die kräftigsten Maßregeln ergreifen, um dieser Hydra den Kopf abzuschneiden."
____________________
*) Hierbei kömmt Sizilien, das allein nah an 300 Herzogtümer, Fürstenhäuser, Marchesate, Grafschaften und Baronien zählt, gar nicht einmal mit in Anschlag.
**) Siehe Domeyer in seinen Fragmenten über Italiens Medizinalanstalten. "Hannöversches Magazin", 2.Jahrgang, 9.

Der König schien nicht abgeneigt. Er forderte mich sogar auf, ihm desfalls Vorschläge zu tun. Eben aber, als ich mitten darin begriffen war, stürzte ein Kammerherr zur Türe herein *) und meldete dem Könige mit vielem Geräusch, daß sich soeben im Gehölz von ...tici ein schönes Stück Wildbret sehen lasse. Sogleich sprangen Seine Majestät von ihrem Sitze auf, griffen nach einer an der Wand hängenden Kugelbüchse und waren mit drei Schritten zur Türe hinaus und fort. – Ich blieb wie versteinert zurück, sah die vier Wände, dann mich an und war voller Erwartung über den Ausgang. Endlich trat der Minister ......... herein, der mir andeutete, ....el innerhalb vierundzwanzig Stunden zu verlassen.
____________________
*) Siehe die Anmerkung.

     Mir blieb dabei nichts übrig, als der hohen Willensmeinung Sr. Exzellenz ein augenblickliches Genüge zu leisten; und auch dies wäre mir bald unmöglich gewesen, da die Lazaronis, die unten an der Treppe meiner warteten, es für gut befanden, mir noch ein halbes Dutzend Messerstiche auf den Weg zu geben.
 

ACHTZEHNTES KAPITEL

Etwas über die Ermordung der französischen Gesandten zu Rastatt

Unter diesen und ähnlichen Abenteuern verfolgte ich meinen Weg über .....then und ...ol bis nach ....reich. Hier hielt ich mich aber  nicht lange auf, als ich der von ....r .......d errichteten geheimen Staatsinquisition in die Hände fiel. Bei dem gemessenen Befehle, den diese von ihrer Regierung hat, alle der gesunden Vernunft verdächtige Personen wegen jakobinischer Grundsätze einzuziehn, war dieses früh oder spät vorauszusehn. Den ersten Anlaß dazu gab ich indessen wohl selbst durch ein kleines von mir verfertigtes Gedicht über den schändlichen Meuchelmord der französischen Gesandten zu Rastatt. Ohne die Schuld dieser fluchwürdigen Tat irgend jemand insbesondre beizumessen, sucht ich nur den allgemeinen Abscheu darüber zu Worten zu bringen. – Inwiefern mir dies gelungen ist, wird der geneigte oder ungeneigte Leser   denn bei einer solchen Angelegenheit kann man unmöglich lauter geneigte Leser voraussetzen – am besten selbst entscheiden!
 
 

Bei der ersten Nachricht
von dem an den französischen Gesandten
durch die Szeckler Husaren zu Rastatt
verübten Meuchelmorde

O Schmach der Deutschen, Frevel ohnegleichen, 
Vor dein das Licht des Tages sich verbirgt! 
Dort liegen sie, des Friedens Boten – Leichen – 
Verstümmelt – blutig – nächtlich hingewürgt!

     Wälz ab, wälz ab von dir die Schmach entleibter,
Wehrloser Männer, Habsburgs Haus! 
Sprich über die verworfnen, niedern Häupter 
Den Todesfluch der Nationen aus!

     Daß sie die Blutrach ungesäumt ereile, 
Die solche Missetat auf uns gehäuft; 
Schon hör ich Ate nahn, mit Block und Beile; 
Ein schwarzer Zug von Trauerfahnen streift

     Am fernen Horizont, und über Deutschlands Auen 
Zieht's dumpf und wie ein Ungewitter hin: 
O klagt, ihr Jüngling' und ihr deutschen Frauen! 
Denn eure Blüte sinkt in Staub dahin.

     Ihr aber leert aus bitterm Wermutskelche 
Vorher den Todesbecher, leeret ihn 
Bis zu den Hefen! Ungeheuer, welche 
Slavonien und Hungarn ausgespien.

     Nicht Deutsche seid ihr! denn im offnen Felde 
Dem Tode kühn zu schaun ins Angesicht 
Geziemt dem Deutschen; doch erkauft mit Gelde, 
Wie ihr zu morden, das ist Söldnerpflicht!

     Wie ihr, mit siebenfach gestähltem Eisen, 
Das ungeborne Kind, voll wilder Lust, *)
In seiner Mutter Schoß, die Gattin zu verwaisen, 
Das schwangre Weib an ihres Mannes Brust,
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*) Siehe die Anmerkung.

     Empört ein deutsches Herz! Noch drückt aus nord'schen Himmeln 
Uns nicht der Fluch! Noch ist uns Menschlichkeit vergönnt!
Noch lernten wir ja nicht wie der Barbar verstümmeln,
Den .... mit ewigem Entsetzen nennt.

     Löscht aus, löscht aus die Fackeln, Satelliten 
Des Despotismus, daß der Himmel euch nicht sieht! 
Schwarz ist die Tat!   Im Schutz der Nacht, Banditen, 
Seid auszuführen sie bemüht!

     Hör ihre Tritte nicht, sie auszuplaudern, 
Du alter, angelfester Erdball du! 
Zähl unsre Schande nicht der Nachwelt einst mit Schaudern 
In jedem Seufzer der Gewürgten zu!

Ihr aber, Dichter Deutschlands, jetzt zu sprechen,
Ob auch der Frevel sich in Purpur hüllt,
Gebeut die Pflicht! sprecht laut! sprecht kühn! Es ist Verbrechen
Zu schweigen, da, wo es die Menschheit gilt!
                       Desunt nonnulla

     Hier folgt eine höchst unleserliche Stelle im Manuskript. Man unterscheidet bloß darin das Wort ...ütz. Der arme Scaramuz wurde staatsverräterischer Pläne, und wo mir recht ist, gar geheimer Einverständnisse mit dem Feinde beschuldigt; doch muß es ihm bald gelungen sein, sich wieder frei zu machen, denn schon im nächsten Kapitel finden wir ihn zu Luxemburg. Dort spricht er ein paar Worte im Vertrauen mit den französischen Machthabern.
 

NEUNZEHNTES KAPITFL

Scararnuz begibt sich nach Frankreich
und von dort nach   Cayenne

Noch denselben Abend, als ich in Paris ankam, hatte ich Gelegenheit, einem sogenannten Volksfeste auf dein Marsfelde beizuwohnen. Vorauf zog eine große Menge Kisten und Kasten aller Art, voll der seltensten, aber zur Zeit noch verborgenen Raritäten des ehmaligen Roms und Griechenlands; und gleich hinterdrein ein freier Zug Löwen, Bären, Tiger, Leoparden und andrer dergleichen Bestien – auch eine Beute der Republikaner! – Ich weiß nicht, wie es zuging, aber ich verfiel über diesen Anblick in ein tiefes Nachdenken, und als ich zu Hause kam, sammelte ich die Empfindungen, die sich in mir durchkreuzten, in ein kleines Epigramm, welches ich hier dem Leser mitteilen will:

     So manches Kunstwerk, das Italiens Sieger 
     Uns schickte, zeigt ihr uns in Kisten hier verwahrt; 
     Dagegen gehn die Löwen und die Tiger 
     Ganz frei einher und wohlgepaart. 
     So gibt uns diese Prozession 
     Ein Bild der Revolution, Die auch ihr Schönes noch dem Aug versteckt 
     Und nur – die Tiger uns entdeckt.

     Bald darauf ward ich nach Luxemburg gefordert. Man fragte mich sehr gewissenhaft, wen ich unter dem Ausdruck Tiger verstanden wissen wollte, den Bürger Reubel oder den Bürger Merlin. Ich antwortete: "Keinen von beiden oder beide, falls sie sich getroffen fühlen." Der Rat der Fünfmänner, der diese Sprache nicht gewohnt war, sah einander mit Verwunderung an, und ich benutzte diesen Augenblick dazu, ihm noch einige, wie ich glaubte, nützliche Wahrheiten in die Ohren zu flüstern. "Bürger Direktoren", fing ich von neuem an, "ich habe weise Männer den Unterschied der französischen und der englischen Nation darin setzen hören, daß die erste in ihrer Hauptstadt mehr als zwanzig Theater und nur drei Gefängnisse, die andre in der ihrigen mehr als dreißig Gefängnisse und nur drei Theater hätte. – Dennoch gab es eine Zeit in Frankreich, wo man zu einer Hinrichtung lief, als wär es eine Opera buffa; wo die Totenglocke so häufig ging, daß niemand mehr fragte: 'Warum?' oder: "Wer wird begraben?' – Wollte ich von dieser Zeit schweigen, so würden die Steine in der Straße Turgon aufstehen, um gegen euch zu reden. Fragt nur jene tief eingedrückten Gleise, zwischen denen jetzt eure prächtigen Equipagen, wenn sie von Luxemburg abrollen, versinken! sie sind von den Karren jener Unglücklichen entstanden, die ihr auf diesem Wege scharenweise zum Gerichtsplatz führtet, sie werden euch von ihren Seufzern erzählen! Wieviel habt ihr wieder gutzumachen: wie viele Wunden zu heilen! wie viele Tränen zu trocknen! Und ihr geht damit um, neue Wunden zu schlagen, neue Tränen zu vergießen? Was hat euch die helvetische Eidgenossenschaft getan, daß ihr die Freiheit dort in ihrer Wiege aufsucht und die Felsen Tells dafür straft – sie erzeugt zu haben? – Bedürft ihr des Geldes – warum bringt ihr kein besseres Gleichgewicht in eure Einnahmen und Ausgaben? *) Warum haltet ihr zu Konstantinopel dreißig Gesandtschaftssekretäre auf einem Posten, wo unter der vorigen Regierung nur einer war? Wär es nicht besser gewesen, diese zwölftausend Livres all tausend Ammen als an neunundzwanzig diplomatische Taugenichtse anzulegen? – Statt dessen laßt ihr die armen Weiber zu Metz, nachdem sie vierzehn Monate lang vergeblich auf ihren Sold gewartet, ihre Kinder aus Verzweiflung in die Hospitäler zurückbringen und in dem von St. Kiklas allein zweihundertunddreiundsechzig derselben, aus Mangel an Muttermilch, Hungers sterben. **) Doch nein, ich irre mich! – Es waren ihrer nicht soviel! denn ihr gabt sogleich an eure Beamten den Befehl, sie in die benachbarten Departementer unterzubringen; was konntet ihr dafür, daß diese niedrig genug dachten, ihnen die Windeln zu stehlen und sie an der öffentlichen Landstraße auszusetzen? Und ihr wundert euch noch, daß da, wo der gemeine Mann, um des Gewinstes einiger Sous willen, sich zu einem solchen Bubenstücke hergibt, in den höhern Ständen kein Mensch dem andern traut? und jeden Halsschwuck, den er an dem Weibe seines Nachbarn erblickt, für ein gestohlnes Nationalgut, jedes Ohrgehenk für eine geplünderte Provinz hält? – daß – – – "
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*) Siehe die Anmerkung.
**) Alles, sowie weiter unten das Stehlen der Windeln, unleugbare Tatsachen. Siehe den gedruckten Auszug der Beratschlagungen über die Zivilhospitäler in der Gemeinde Metz; ingleichen Ledonois Bericht über diesen Gegenstand.

     In der Hitze des Gespräches war ich es nicht gewahr worden, daß der Direktor Reubel und die andern sich entfernt hatten, bis ein junger Offizier vorn dritten Regiment Chevaux legers mir höflich auf die Schulter klopfte und mit den Worten: "Kommen Sie, mein Herr, der Transport nach Cayenne liegt fertig!" mich wieder zu mir selbst brachte.
     "Was sagen Sie", ließ ich ihn mit einiger Heftigkeit an,"die Republik hat also auch ihr Sibirien?" – Er zuckte die Achseln und schwieg. Beim Hinausgehen aber aus dem Saale sagte er mir ins Ohr: "Vermutlich kennen Sie nicht die Geschichte unserer Revolution? Unter Robespierre war es eine Republik von Scharfrichtern; jetzt ist es eine mit – einem Sibirien; und weiß der Himmel, was für eine noch folgen wird! Ich für mein Teil – " Er wollte weiterreden, aber wir wurden durch den Direktor ...bel unterbrochen, der eben über die Flur ging. Wir machten ihm beide eine höfliche Verbeugung, und er wünschte uns ebenso höflich – eine glückliche Reise.
 

ZWANZIGSTES KAPITEL

Scaramuz reist nach England und von dort
nach Botany Bai

Das war sie aber nicht! denn etwa 10 Lieues auf der Höhe von Rochefort kriegte uns ein feindlicher Kaper zu Gesichte und machte Jagd auf uns. Nach einem beinah fünfstündigen Gefechte wurde unser Schiff genommen und als eine gute Prise in einen .....schen Hafen aufgebracht. Kaum verbreitete sich aber dort das Gerücht meiner Ankunft, als ich Befehl erhielt, schleunig nach Hofe zu kommen. Der Minister, hieß es, wolle mich sprechen, um eins und das andre durch mich zu erfahren. – Ich reiste hin. – Seine erste Frage war: "Was spricht man von mir im Ausland?" – "Viel – aber wenig Gutes!" gab ich ihm zur Antwort. "Man beschuldigt Ewr. Lordship, es sei kein Glied am menschlichen Körper, das Sie nicht ihrem Budget zinsbar gemacht. In ....and wär es durch Ihre Vermittelung dahin gekommen, daß kein Mensch mehr eine Uhr anhängen, sein Haar pudern, seinen Hut aufsetzen, in der Kutsche fahren, eine Prise Tabak nehmen, ein Licht anstecken, die Zeitungen lesen, zum Fenster hinaussehen, ein Glas Porter trinken oder bei seiner Frau schlafen dürfe, ohne den Staat erst dazu vorher um Erlaubnis zu bitten. – Man zahle dort für alles Gebühren: Gebühren für die Erlaubnis, Kinder zu zeugen; Gebühren für die Erlaubnis, keine zu zeugen; Gebühren für die Erlaubnis, geboren und andre für die Erlaubnis, begraben zu werden; – und frage man nun, wozu der Staat alle diese von Kutschen, Pferden, Hunden, Rebhühnern, Uhren, Lichtern, Riechfläschchen, Kirchhöfen und Arzneigläsern herbeigetriebenen Summen verwende, so erhielte man zur Antwort: Da ist der Right Honourable, Sir N.N., dessen ganzes Geschäft, als Türhüter im Dienste Sr. britischen Majestät bei der königlichen Schatzkammer, darin besteht, dieselbe mit Dinte, Feder, Papier und einer mächtigen Streusandbüchse zu versorgen, und der für diese enorme Mühwaltung 46200 FI.*), das heißt, einen größern Gehalt zieht als einige hundert Schulmeister im Kurfürstentume Hannover zusammen **), deren jährliches Einkommen sich noch im Jahr 1790 nicht höher als 5 bis 20 Rtlr. belief.' – Oder man würde mit seinen Nachsuchungen auf
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*) 4200 Pf. Sterling. Siehe den 6. Bericht der zur Untersuchung über den Zustand der Staatsrechnungen im Jahre 1780 niedergesetzten Parfarnentskommission.
**) Siehe "Neues Hannöversches Magazin", 2.Jahrgang,

die Zivilliste verwiesen, und da fände sich dann, zu einer Zeit, wo, nach Colghouns Angabe, *) bloß in London jeglichen Morgen 20000 Menschen aufstünden, ohne zu wissen, wovon sie den kommenden Tag leben noch wo sie die folgende Nacht schlafen sollten, die Menge unnützer Bedienungen bis zur Höhe des babylonischen Turms aufeinander geschichtet. Da gäb es zum Beispiel königl. Brot- und Buttereinkäufer, königl. Fisch  und Gewürzcommissaire, königl. Wein  und Eierbeamten **), königl. Tischzeuginspektor, königl. Tischzeuginspektorassistenzschreiber, königl. Küchensekretäre, königl. Küchensekretär Ober  und Unter Kontrolleur, königl. Ober  und Unter Mundpastetentrabanten, einen Cook und Cryer und sogar einen königl. großbr. Hofsekretschlüsselbewahrer. Freilich müsse man es auf der andern Seite auch einräumen, daß, während der gemeine Mann um und bei London noch imstande sei, in den 5204 privilegierten Bier  und Branntweinschenken, diesen Schlupfwinkeln der Liederlichkeit und des Müßigganges, jährlich über 3 Millionen Pf. Sterling durchzubringen ***), und die Hundeställe unserer Großen, wie die Sir Walters, noch immer drei bis vier Morgen Landes einnehmen, beide kein Recht hätten, sich über den zu großen Druck der Abgaben zu beschweren. – Nur über die gewissenlose Verwaltung öffentlicher Gelder müsse jedermann zu reden vergönnt sein, und da wär es denn freilich himmelschreiend, daß die Gesetze zu einem Betruge, wie der des Lord Holland, von 48700 Pf. Sterling ****) stillschwiegen, während sie die arme Marie Jones um ein paar gestohlener Windeln willen zum Stricke verurteilten. *****) Selbst die 3000 Diebsbuden in der Nähe der Hauptstadt, wo man gestohlene Sachen wieder in Umlauf bringt und angehende Lehrlinge und Dienstmägde im Bestehlen ihrer Herrschaft methodischen Unterricht gibt, dürften ebensowenig wie die 50 Beutelschneiderklubs, wo Damen vom ersten Range der unerfahrenen Jugend durch ihre Croupiers auflauern, etwas dazu beitragen, jene Strenge zu entschuldigen. – Diese Kleinigkeiten indessen abgerechnet, seien im ganzen doch alle Kenner darüber verstanden, daß nichts Vortrefflicheres in der Welt sei als eine Verfassung wie die ...lische, die der Streitsucht und Schikane einen Schlupfwinkel in jedem ihrer Buchstaben offenerhalte. – Europa solle doch ja nicht vergessen, was es uns alles verdanke. 
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*) Siehe dessen Werk, S. 33. 
**) Siehe Herrn Burghs Anmerkungen über die höchst lächerlicheZivilliste. 
***) Siehe Golghoun, S.35. 
****) 535700 Fl. Siehe die Anmerkung.
*****) Siehe die Anmerkung.

Bloß um es mit Kaffee und Zucker zu versehen, hätten wir, innerhalb 35 Jahren, Indien von 36 Millionen Menschen entvölkert, und damit es uns nicht an Baumwollzeug fehle, ein Dritteil unserer Kolonien zu Hindostan zu einer wüsten Einöde gemacht.*) Noch nicht genug! – "
     "Schon zu viel! – Master D...das", fiel mir hier der Minister ins Wort, "lassen Sie doch diesem Gentleman beim ersten Transport nach Botany Bai eine Stelle mit anweisen! Ich glaube, bei seiner Vorliebe für diese Art ....ischer Natitonalgebräuche, wird er es mir Dank wissen, wenn ich ihm Gelegenheit verschaffe, auch dies Kapitel im Originale zu studieren." Damit wandte er sich um und war fort, und ich –  – 

Mittwoch, den 7.August 1799, 
an Bord des "Prinz Wallis"

Da sitz ich nun, traurig an den Mast zurückgelehnt, starre in die weite See hinaus und überdenke von neuem mein Schicksal. Ist es möglich? Ich erhalte 120 Batoggen – und warum? weil ich eine Jagd eine Jagd, und keine Fregatte, nenne. – Ich kriege ein halb Dutzend Messerstiche in den Unterleib – weil ich will, daß man die Messerstiche abschaffen soll; und endlich schickt man mich gar auf eine Diebsinsel, bloß weil ich erkläre, daß ich die Diebereien im Staate nicht wohl leiden kann! O Schicksal! O Kant! O Wahrheit! O kategorischer Imperativ!

Botany Bai, den 30.August 

Gestern abend sind wir hier glücklich gelandet. Es war gerade Schauspiel. Das Legegeld bestand in einer Hammelkeule, deren man sich hier statt der in Europa üblichen Entreebillets bedient. **) Die Einwohner sind höflich und zuvorkommend, und wenn man nur zur rechten Zeit seine Taschen zuknöpft, läßt sich mit ihnen ganz gut leben. Was wir hier machen, frägst du. Lieber, wir bauen Hanf für unsre Kollegen in Deutschland! Ich bin fest entschlossen, unter diesen ehrlichen Leuten meine Tage zu beschließen; doch davon künftig ein mehreres! das Schiff, womit ich dir schreibe, will diesen Augenblick abgehn. Dies zwingt mich, kurz zu sein. Lebe wohl!
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*) Siehe Lord Cornwallis' Bericht vom 18. September 1789. Dieser schöne Strich Landes wird jetzt nur noch von wilden Tieren bewohnt. – Die Compagnie selbst hat unendliche Schulden.
**) Siehe die "Allgemeine Zeitung".
 

Ende der Reisen des Scaramuz



 

ANMERKUNGEN
ZU DEN REISEN DES SCARAMUZ

ZWÖLFTES KAPITEL

"Und während alle Thronen von Europa in ihrer Grundfeste erschüttert sind, streiten wir uns hier darüber, wie man der k...lichen Plenipotenz die Stühle setzen soll." – "Die ... iche und Reichsgesandtschaft waren einige Zeit wegen der Plenipotenz in Zwist. Das Reich gab nach unter dem Beding, jene sollte von der solennen Einholung abstehen. Drauf begab sich die k ...liche Gesandtschaft in den Sessionssaal und nahm ihre Sitze zwischen dem Direktorials  und dem kursächsischen Gesandten, auf eine Art, wodurch sie sich, ihrer Würde gemäß, von der Deputation auszeichnet; (d. h., die zwei Stühle der neben der Plenipotenz sitzenden kurfürstlichen Gesandten müssen halb nach der Plenipotenz gedreht stehen; das ist die Auszeichnung!)" Wörtlich aus der "Hamburger Zeitung", 16. Stück, d. 27.Jan. 1798.

     "So würde Paris, wenn es sich des übermäßigen Gebrauchs der Lichter, Sachsen, wenn es sich des Kaffees, Hannover, wenn es sich des Puders enthalten könnte, jenes im Zeitraume von einem Jahre 7 Millionen Livres, dieses in der nämlichen Zeit 6 Millionen und das letzte in 25 Jahren 20 Millionen Taler ersparen." – Rechnet man zu Paris nur 100000 Menschen, die aus Nacht Tag machen und bis 12 Uhr aufbleiben, so entsteht daraus für jeden einzelnen ein Lichtaufwand von wenigstens 4 Sols. Diese 4 Sols durch 100000 multipliziert, tun täglich 20000, monatlich 600000, jährlich 7200000: also, alles in allem, ungefähr 7 Millionen Livres. – Wer wollte nun, um dem Staat aufzuhelfen, nicht gern ein paar Stunden früher zu Bette gehen! – Ferner, wenn man in Kursachsen nur zwei Millionen Menschen annimmt, wovon der vierte Teil Kaffee trinkt und der tägliche Betrag dieses Getränks, mit Einschluß des Zuckers, sich á Person zu sechs Pfennigen beläuft, so kömmt doch dabei die Summe von 3 Millionen 800000 Taler heraus. Dieser Anschlag aber ist zu gering! die Zahl der wirklichen Kaffeetrinker ist größer! 6 Millionen Taler, die auf diese Art aus dem Lande gehen, dürften daher nicht zu viel sein!   Von 800 000 Menschen im Kurfürstentume Hannover *) leben welligstens 100 000 im Stande der Frisur. Rechnet man nun auf jeden Kopf monatlich drei Viertelpfund Puder, das Pfund zu 2 Groschen, so kömmt jährlich eine Summe voll 75000 Rtlr. heraus. Die Fortdauer dieser Ausgabe auf 25 Jahre und die Kosten der Frisur jährlich nur auf 8 Rtlr. angesetzt, macht netto für jeden Kopf im Durchschnitte 200 Rdr. und im ganzen 20 Millionen. Dabei ist der Zeitverlust gar nicht mit in Anschlag gebracht, der, nur täglich zu eine Viertelstunde gerechnet, für jeden einzelnen die Summe von 2975, für alle die Summe von 227 und eine halbe Million Stunden oder 51940 verlorene Jahre beträgt.
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*) Siehe das "Hannöversche Magazin".

     "Ebenso mißlich steht es mit dem Schuldwesen von Kurmainz, Kurtrier, Pfalzbayern usw." – Pfalzbayern steht seit 1794 bei Schmalz, Bethmann und Walther mit 700 000, seit 1795 bei Schmalz, Rüppel und Schweitzer mit 500 000, seit 1796 bei Schmalz und Mieg, bei dem ersten mit 3 600 000 und bei dem andern mit 150 000 und seit 1797 bei Metzler mit 500 000 Gulden zu Buche. Der Zinsfuß steigt dabei allmählich bis fünfundeinhalb; und doch sind die pfalzzweibrückschen Schulden an Frankreich, Preußen und Bern hier gar nicht einmal eingerechnet. – Nun folgen Kurtrier und Kurmainz mit 500 000 Gulden; Baden, Leiningen, Türkheim, Öttingen Wallerstein, Hessen Darmstadt, Lüttich, der oberrheinische Kreis, die zu Frankfurt und die Frankfurter selbst, die, aller Welt Leiher und zu Hause Borger, in ihrer eignen Mitte ein Anlehn eröffneten. Ebenso negoziierten Hessen Homburg, Mecklenburg zu Bern und Bamberg, die Reichsstadt Köln, Waldeck und die wirtenbergischen Landstände, je andere an andern Orten, beträchtliche Geldsummen.

DREIZEHNTES KAPITEL

"So viel ist indessen gewiß, daß da, wo die Schande wohlfeil wird, das Verbrechen einkehrt; und eine Regierung, die wegen Veruntreuung einiger Groschen auf Halseisen, Schandpfahl und Zuchthaus und wegen Diebstahls einiger Taler auf den Strang erkennt, hat den Maßstab größerer Vergehungen selbst mutwillig Zerbrochen." – Nach einer den 15. Mai 1797 zu ..... auf vier Bogen in Folio erschienenen Landesverordnung steht auf die geringste Veruntruuung der Dienstboten gegen ihre Herrschaft das erstemal Gefängnis bei Wasser und Brot, das zweitemal Turmhaft oder Zuchthaus, das drittemal öffentliche Arbeit oder, ist der dritte Diebstahl über zehn Taler an Wert – der Strang. Andere Fehler werden, nach Befinden, mit verhältnismäßig noch härterer Strafe belegt. Kauft zum Beispiel ein Dienstbote etwas für seine Herrschaft ein und bezahlt es unter Angabe, so wird bei Entdeckung nicht die Größe des zugefügten Schadens berücksichtigt, sondern der Täter auf zwei Jahre ins Zucht  und Spinnhaus gesteckt oder, beträgt der Betrug über fünf Taler, dem Kriminalgericht überliefert. Damit auch überdem untreues Gesinde zu jedermanns Kenntnis komme, wird es, vor Belegung mit Zucht  und Spinnhausstrafe, durch die Straßen geführt, an den Schandpfahl gestellt usw.

     "Was endlich das am 9. Oktober 1794 zuerst erlassene und ganz kürzlich wieder eingeschärfte Verbot wegen des Applaudierens im Schauspielhause betrifft, so usw." – "Auf höchsten Befehl wird ein geehrtes Publikum an das bereits unterm 9. Oktober 1794 erlassene Verbot nochmals erinnert, daß alles Applaudieren im Schauspielhause durchaus unterbleiben soll, es sei denn, daß die höchsten Herrschaften zuerst ihren Beifall auf diese Weise zu bezeugen geruhen. ..., den 1. Oktober 1798."

VIERZEHNTES KAPITEL

"Zu ....d ließ der regierende Fürst soeben durch einen geschwornen Notar und zwei Schreiber reihherum bei den Bürgern fragen, ob sie glaubten, daß er richtig im Kopfe sei oder nicht, und die jedesmal erteilte Antwort wurde sogleich ad protocollum gebracht." – So unglaublich das scheint, ist es doch nichtsdestoweniger buchstäblich wahr. – Unter andern ging er selbst auf die Rentkammer und forderte die sämtlich dort versammelten Räte auf, ihm in seiner Gegenwart über ebendiese Angelegenheit einen Revers auszustellen. Da man ihm dies Verlangen abschlug, ward er sehr aufgebracht und schalt sie alle miteinander treulöse Diener, um so mehr, da es ihm nun unmöglich schien, die eigens niedergesetzte Reichskominission über diesen Punkt anders eines Bessern zu belehren als durch einen öffentlich veranstalteten Umgang. Auch dieser hatte nicht ganz den gewünschten Erfolg, doch fanden sich gutmütige Seelen genug, die es mit dem Ausdruck Verstand so genau nicht nahmen und ihren gnädigen Fürsten und Landesherrn, dieser Qualität wegen, vielfach belobten. – Von vielen nenne ich hier nur den Günstling der Hofmaitresse, Herrn Lieutenant von ...fels, den Kammerdiener ...del, mehrere Landbeamte und einige Titular Hofkammerräte. Was noch zu merken ist: Dieser Herr trug seine Gewissensskrupel, deren ihn immer viele zu drücken pflegten, in ein ordentliches Buch ein. Die Zweifel standen in einer schwarzen und ihre Auflösung in einer roten Rubrik. Zuweilen aber fielen sie doch etwas ins Possierliche! So stieß er sich zum Beispiel einmal am Kinderzeugen und Viehhalten, weil durch beides der Mist, folglich auch Salpeter und Ungewitter, vermehrt würden, er aber an keines Menschen Tod schuld sein solle. – Und dieser blödsinnige Mann wurde, dessen ungeachtet, mit der Regierung über Land und Leute beliehen.
 

SECHZEHNTES KAPITEL

"Nirgends bin ich so vielen Kurieren begegnet als hier. Bald war's eine Terrine mit Suppe á l'Esturgeon, die ein Major über zweitausend Werste weit dem Chef seines Regiments überbrachte, bald eine Lettre de cachet, die einen friedlichen Landbewohner, wegen seines langen Bartes, aus dem Schoße seiner Familie riß." – Die Suppe á l'Esturgeon war ein Lieblingsgericht des Fürsten ....kin, das ihm jedesmal über dreihundert Rubel zu stehen kam. Als sich dieser Feldherr zu ...sy aufhielt, wollte er einige Damen von seiner Bekanntschaft diese Suppe zu kosten geben. Unglücklicherweise aber war der Mundkoch, der sie am besten zu bereiten verstand, abwesend. Was zu tun? Ein Major muß hin und die Suppe einige tausend Werste weit, in einer hermetisch verriegelten Terrine, von ....rg nach ...sy bringen. – Die Geschichte mit dem Bart und die grausame Behandlung, die dem einer bloßen Weiberlaune wegen von den äußersten Grenzen des Reichs herbeigeholten und nachher im Kerker schmählich vergessenen, ruhigen Landeigentümer widerfuhr, ist ebenfalls noch in frischem Andenken.   Es war das Fräulein von E., die durch eine ungefähre Äußerung über Tische, auch wohl einmal einen solchen Bart zu sehen, die höchst widerrechtliche Prozedur veranlaßte.

     "Ich hin durch Gegenden gekommen, wo ein Fenster in der Hütte und ein Paar Stiefeln auf dem Fuße unter dein gemeinen Manne den Maßstab des Reichtums abgibt."   ....rg, ....au und einige mehr oder weniger bedeutende Provinzialstädte ausgenommen, sind die meisten Häuser in ....nd elende hölzerne Baracken. – Man fügt ein paar Balken ineinander, belegt das Dach mit Spänen und stopft die Zuglöcher mit Moos aus. Solche Häuser werden auf den Märkten fix und fertig an den Meistbietenden verkauft und nachher weiter ins Land verführt. – In der Mitte ist ein Backofen angebracht, der selten kalt wird, und über demselben ein paar hölzerne Schlafstellen, aber ohne irgendein Stück Kissen oder Pfühl. In solchem kläglichen Zustande nun schleppt der Bauer, der Tagelöhner und der gemeine Handwerksmann, beim Scheine räuchrichter Kienfackeln und einer Schüssel voll Zwiebeln und Knoblauch, sein mühbeladenes, armseliges Dasein hin. Bringt nun einer etwa es so weit, daß er ein paar Fenster in seine Kabuse setzen oder, statt der häufig beliebten Bastschuhe, ein Paar Stiefeln über die Füße ziehen kann, so gibt das ein Aufhebens in der ganzen Nachbarschaft, und man. spricht davon wie von einem Zeichen der Zeit und des immer mehr zunehmenden Luxus.

     "Mit einem Worte, all dieser Luxus, all diese übertünchte Kultur gemahnen mich an die Kolonien zu ....son, wo man die Strohhütten auf ein paar Tage versteckt und nachher wieder an ihren alten Platz stellt." – Um der großen Kaiserin über den wahren Zustand ihrer entfernten Provinzen, und besonders den der vernachlässigsten und doch nützlichsten Volksklasse, die Augen zu schließen, bediente sich der Fürst ....kin folgenden Mittels: Überall, wo ... na durchging, waren plötzlich prächtige Chausseen, zahlreiche Dörfer, anmutige Meiereien, voll des lebendigsten Menschengewühls, am Wege hervorgestiegen; die Armut aber, die Not und das Elend hatten sich tief in das Innere zurückgeflüchtet. Statt ihrer erblickte man nur jene Scharen Leibeigener, die, den unbarmherzigen Händen ihrer Treiber soeben entronnen, von allen Seiten herbeieilten, um dies neue ....kische Fernei noch mehr zu beleben. Mit dem Ansehen äußerer Wohlhabenheit verbanden diese Leute die bis zur Täuschung nachgeahmte landesübliche Kleidung. Sie bewillkommneten ihre erhabene Monarchin als Abgeordnmte ihrer Mitbürger und dankten ihr für den ihrem Lande verliehenen Wohlstand. Mittlerweile wurden denn auch die Pferde wieder angespannt, die abgezogenen Lumpen wieder hervorgesucht, die Fronknechte in ihre alten Rechte und der Name des Fürsten ....kin, der alle diese Wunder bewirkte, wie billig, unter die Sterne gesetzt.

     "Was soll mir ein lustig gruppierter Vordergrund, dessen Hinterhalt dem Auge, in trauriger Beleuchtung, die brennenden Ruinen von ...g, den Zug der ....ken von ...ga, die schwankenden Menschenpyramiden zu ....ow usw. darstellt?" – Aus Abneigung und Haß gegen ihre Nachbarin, die, alles umher unterjochend, ihr eisernes Szepter nun auch über ihre Grenzen streckte, faßten die freien ....ken zu ...ga den eines großen und der Herrschaft noch unentwöhnten Hirtenvolkes würdigen Entschluß, den Herd und die alten Sitze ihrer Väter verlassend, das Reich ihrer Vorfahren zu ...ungori aufzusuchen, dessen uralten Glanz wieder herzustellen oder, wenn ihnen dies nicht gelingen sollte, doch wenigstens, ihres Namens und der Abkommenschaft von solchen Männern nicht unwert, Hunger und Tod in der Wüste dem Joche einer schimpflichen Knechtschaft vorzuziehen. Der Auszug selbst, nachdem sie ihr Lama oder Opferpriester daein wie in einem gottgeheiligten Vorhaben bestätiget hatte, erfolgte imjahre eintausendsiebenhundertundeinundsiebzig. – Und so sahen wir denn noch zu unsern Zeiten jene sich in das graue Altertum verlierenden Sagen ausgewanderter Völker, durch ein neues Beispiel in der Geschichte, wiederholt. – Mehr als hundertundzwanzigtausend Seelen nebst vielem Gepäcke und einem unsäglichen Gefolge von Schafen, Pferden, Ziegen und Kamelen – dem einzigen Reichtume dieser nomadischen Völker – begaben sich mitten im Winter und bei der strengsten Witterung auf den Weg. ja was noch mehr, diese Wanderung ging so glücklich vonstatten, daß die ihnen unter dem Kommando des ....scheu Heerführers ....kow nachsetzenden feindlichen Soldaten nur von liegengebliebenen Weibern, Greisen und Kindern, deren entseelte Körper, so weit sie gezogen waren, die Heerstraße bedeckten, nicht aber von lebenden und ihrer Freiheit beraubten Männern Bericht abstatten konnten.
"Die schwankenden Menschenpyramiden zu ...ow." Nach der durch Sturm erfolgten Eroberung von ...ow wurden sowohl Sterbende als Tote fuderweise vor die Stadt auf das zugefrorne Wasser gebracht. Hier kamen Hunde und fraßen an den Leichnamen. (Siehe "Minerva", Januar 1799.) Auch fand, wie mir ein Augenzeuge versichert hat, Fürst ....kin ein eigenes Vergnügen daran, bei eingetretenem Tauwetter, am Ufer stehend, die nun vom Grundeise gehobenen und gewissermaßen beweglich gewordenen Menschenmassen schwanken zu sehen.

     "Eine Konvention, die mit dem Allerheiligsten ihren Spott treibt und die Teilung eines mächtigen Königreichs, im Namen der unteilbaren Dreieinigkeit, unterzeichnet." – Die Konvention wegen der Teilung von ...en, zwischen Ihro Majestät, der Beherrscherin aller ....en, und Sr. Majestät, dem Könige von ...en, hebt im Namen der hochheiligen und unteilbaren Dreieinigkeit an. (Siehe den "Hamburger Korrespondenten", 1797, No. 128.)
     ",Slove i delo!' unterbrach mich hier aufs neue der Minister, dem man keinen unbedeutenden Teil an jenem Vertrage beimaß. Vor Zorn schien er seiner selbst nicht mehr mächtig." – So hieß die furchtbare Losung, in der man unter der Regierung ...... Tod und Knute übereinander aussprach. Beide, Ankläger sowohl als Beklagter, wurden, sobald dieses Wort ihren Lippen entflog, in Verwahrsam genommen, nach .....g gebracht und dort der geheimen Staatsinquisition in die Hände geliefert. Diese bestand aus den angesehensten Männern im Reiche, denen die unumschränkte Vollmacht erteilt war, Personen wes Alters und Standes, ohne darnach zu fragen, auf den leisesten Verdacht hin einzukerkern und durch Tortur und Knute auf das willkürlichste zu mißhandeln. ...r der ... machte bald nach dem Antritte seiner Regierung durch eine menschenfreundliche Verordnung diesem Unfug ein Ende.
 

SIEBZEHNTES KAPITEL

"Wie oft habe ich mir nicht um diese Zeit mit den Facchinis zu Pavia vor der dortigen Hospitalapotheke ein kümmerliches Frühstück gezapft!" – Dies bezieht sich auf eine uralte, höchst sonderbare Gewohnheit, vermöge deren die Hospitalapotheke dieser Universität die Obliegenheit hat, Tag für Tag drei große mit Dekokten angefüllte Fässer zu jedermanns Gebrauch auf die Straße zu setzen. Im ersten befindet sich ein Dekokt von Klatschrosen, im zweiten einer von Hasenpappeln und im dritten einer von Eibischwurzeln. An jedes Faß wird die Inschrift dessen, was es enthält, mit lateinischen Buchstaben geheftet, und das Volk läuft bei jedem Anstoße von Unpäßlichkeit haufenweise herbei, diesen Dekokt zu trinken oder wohl gar wie die Facchinis, in Ermangelung etwas Besserm, sich hier ein Frühstück zu zapfen.

     "Christus trieb die Käufer und Verkäufer zum Tempel hinaus; Ihr etabliert lieber selbst einen Kornhandel und bedient Euch dabei falscheu Maßes und Gewichts." – Seit der Regierung Innozenz des Zehnten treibt die päpstliche Kammer folgendes höchst schändliche Monopol. Sie kauft durch den ganzen Kirchenstaat das Getreide zu willkürlichen Preisen auf und setzt es dann wieder an ihre Untertanen ab; in einem Maße, das um ein Fünftel kleiner, und zu einem Preise, der um ein Drittel höher ist als beim Einkaufe. Man geht gewiß nicht unrecht, wenn man das Wüsteliegen der meisten Äcker um Rom dieser drückenden Maßregel beimißt. In einem Staate, wo es gleich zuträglich ist, die Hand an den Pflug – oder an den Rosenkranz zu legen, Aussaat – oder Agnus Dei einzuhandeln, zieht jedermann das Bequemste vor; und da ist denn freilich ein vom Balkon der Peterskirche kräftig gesprochener Segen leichter erhalten als – eine gesegnete Ernte!

     "Christus speiste mit sieben Broten fünftausend Mann; Ihr nehmt dem armen Manne sein letztes Stück Brot, um ein Heer von siebentausend Mönchen damit zu speisen!" – Dies geschieht auf allerlei Art; selbst den am reichsten dotierten Klöstern im Kirchenstaate muß man es nachrühmen, daß sie ihr Reichtum nicht stolz macht. Im Gegenteil schämen sie sich ihres vorigen Gewerbes so wenig, daß die meisten bis auf den heutigen Tag fortfahren – zu betteln. – Männer in schwarzen Kitteln, und einen Leibgurt umgeschnürt, rufen halbe Straßen entlang Almosen für arme Seelen im Fegfeuer aus. Heisere Stimmen lassen sich wie aus den Gräbern mit einem dumpfen "Ich bin deine Mutter – dein Kind – deine Schwester!" oder einem andern, nicht weniger bedeutenden Namen vernehmen. Auf diesen Zuruf springen alle Fenster auf, und tausend mitleidige Hände leeren ihr letztes Scherflein in den ungeheuern Bauch einer Klosterbüchse, die ein paar Dutzend Müßiggänger aus ihrem Einkommen besoldet. Solche indirekte Auflagen müssen um so mehr befremden, wenn man bedenkt, daß der päpstliche Oberhirte von seinen Untertanen an einunddreißig direkte Auflagen bezieht und außerdem noch von jeder Last Zwiebeln im Kirchenstaate sich sechzehn verschiedene Taxen erlegen läßt.

"Der König schien nicht abgeneigt. Er forderte mich sogar auf, ihm desfalls Vorschläge zu tun, und eben war ich damit beschäftigt, als ein Kammerherr zur Türe hereinstürzte und dem Könige mit vielem Geräusch meldete, daß sich soeben im Gehölz von ...tici ein schönes Stück Wildbret sehen lasse." - In die "Décade philosophique" war kürzlich von diesem Hofe folgende Schilderung eingerückt: "Der König fühlt nicht das Traurige seiner Lage. Er bedient sich zum Sehen der Augen ...ons und seiner Gemahlin. Dies sind die Werkzeuge, wodurch er handelt. Irgendein Plan wird in dem geheimen Kabinette der Königin festgesetzt und alsdann, pro forma, dem Staatsrate vorgelegt. Der Markis ....ti approbiert ohne weitläuftige Untersuchung. Der Markis .... dini gibt sich das Air eines tiefern Nachdenkens und – unterschreibt. Der Prinz von ....cula, um ...on den Hof zu machen, gibt beides zugleich, Beifall und Unterschrift. Markis de ....lo erlaubt sich keinen Widerspruch gegen den Premierininister! – Nur dein einzigen Markis de ....co steht, als dem ältesten Fürstendiener an diesem Hofe, das Recht zu, unverschleiert einige Wahrheiten zu wagen. Sobald man aber sieht, daß er sich desselben mit zu großem Nachdrucke bedient, ist sogleich ein Hofschranze bei der Hand, der dem Könige anzeigt, daß sich soeben in dein Gehölze von ...tici ein schönes Stück Wildbret sehen lasse. Sogleich geht die Sache auseinander; der König läuft auf die Jagd, und die Königin und ...on freuen sich ihres gelungenen Plans, der genau so durch ging, wie sie es im Kabinette verabredeten."
 

ACHTZEHNTES KAPITEL

"Das ungeborne Kind, voll wilder Lust,
In seiner Mutter Schoß, die Gattin zu verwaisen,
Das schwangre Weib an ihres Mannes Brust" – Bei zwei Gemahlinnen der französischen Gesandten war dies der Fall.

     "Noch lernten wir ja nicht wie der Barbar verstümmeln,
Den .... mit ewigem Entsetzen nennt." – Bonnier wurden schon während des Herausreißens aus seiner Chaise mit Säbelhieben die Beine zerkerbt, und von Robejot heißt es in dem Verhör der herrschaftlich badenschen Postillione, Actum Rastatt, den 29. April, wörtlich folgendermaßen: "Jacob Glasner, herrschaftlicher Postillion im fürstlichen Marstalle zu Karlsruhe, 41Jahr alt, evangelischer Religion, ließ sich vernehmen: von den Vorgängen an den vordern Chaisen wisse er nichts; aber seine Chaise sei zu gleicher Zeit, wie er glaube, von den kaiserlichen Husaren angegriffen, auch er zuerst gefragt worden, wen er führe. Den Namen des Herrn in seiner Chaise habe er nicht gewußt und also seine Unwissenheit vorgeschützt, worauf die Husaren sich an den Bedienten auf dem Bock gewendet und von solchem den Namen seines Herrn, des Ministers Robejot, erfahren hätten. Dann habe es geheißen: So? das ist der?' Sie hätten darauf den Schlag auf- und den Minister herausgerissen, liervorgeschleppt, sofort, auf ungarischen Befehl eines Wachmeisters oder Korporals, an sein Sattelpferd mit unzähligen Säbelhieben greulich daniedergestreckt, ihm alles, was er bei sich gehabt, genommen, unter anderm einen Ring vom Finger gezogen und jenes Hauen, bei noch verspürter Lebensbewegung, bis zum Ausgange wiederholt. Ihm seien mehrere Säbelhiebe aus diesem Anlaß dicht am Leibe heruntergefahren, auch durch einen derselben ein Strang von seinem Pferde abgehauen worden. Die Madam Robejot hätten die Husaren auch herausgerissen, die auf gebrochen deutsch öfter gebeten habe, sie mit ihrem Manne auch totzuhauen" usw. usw. Die Erbitterung ging so weit, daß, als der badensche Major v. Harrant sich bei dem Schulzen im Dorfe Rheinau nach dem entkommenen Jean de Brie erkundigte, er unter andern in Erfahrung brachte, wie kurz vor ihm die Szeckler Husaren das nämliche getan. Sie forschten sehr sorgfältig nach einem blessierten Franzosen, an dessen Wiedereinbringung ihnen alles gelegen sei. Gestalt und Kleidung wurden mit vieler Genauigkeit beschrieben und die Bauern, falls sie seiner habhaft würden, dringend ersucht, ihn ja nicht nach Rastatt, sondern auf einem von den Husaren bezeichneten Wege nach Muldensturm zu bringen.

     "Schwarz ist die Tat! Im Schutz der Nacht, Banditen,
Seid auszuführen sie bemüht!" – Die Ermordung Bonniers wurde von seinem Fackelträger zuerst offiziell nach Rastatt berichtet, und zwar in das Wirtshaus vor dem Etlinger Tore, die "Laterne" genannt, wo der wachhabende österreichische Offizier, ein gewisser .....rd, brutalen Andenkens, sein Standquartier hatte. Der mehrgedachte, würdige badensche Major, Herr von Harrant, fand die Equipagen noch auf dem nämlichen Platze und nebenher liegend die äußerst gemißhandelten Leichname. Etwa fünfzig Szeckler Husaren standen mit Fackeln in den Händen herum und waren eben im Begriff, die Wagen hinter der Stadtmauer weg als eine rechtmäßige Beute abzuführen. Die Unglücklichen darin lagen alle noch größtenteils in tödlicher Betäubung, und nur mit Anwendung vieler Mühe und Drohungen bewirkte der Major den Transport derselben nach Rastatt.
     Nach Durchlesung aller dieser jedes Menschengefühl empörenden Aktenstücke erregt es gewiß in jedem deutschen Herzen die lebhafteste Teilnahme, wenn Kaiser Franz der II. in seiner an die Reichsstände zu Regensburg erlassenen Proklamation dieselben zur gewissenhaftesten Untersuchung in dieser Angelegenheit auffordert, um, wie er sich ausdrückt, "die ganze unparteiische Welt zu überzeugen, daß Kaiser und Reich nur von einerlei Empfindungen zur Handhabung der strengsten Gerechtigkeit und Leistung der vollkommensten Genugtuung, nur von gleichem, gerechten Abscheu gegen eine so ruchlose Schandtat und gleicher pflichtmäßigen Achtung für Moralität und die geheiligten Grundsätze des Völkerrechts durchdrungen sei."

Regensburg, den 12.Juli 1799

Nur einem so nichtswürdigen Parteiskribenten als dem "Courrier de Londres" war es vorbehalten, diese Infamie zu beschönigen und dem Erzherzog Karl Schuld zu geben, als habe er sich schon dadurch übereilt, daß er die braven Szeckler Husaren deshalb nur eingezogen.
 

NEUNZEHNTES KAPITEL

"Bedürft ihr des Geldes – warum bringt ihr kein besseres Gleichgewicht in eure Einnahmen und Ausgaben?" – Die Nachlässigkeit über diesen Punkt geht so weit, daß, nach der eignen Angabe des General Jourdan, die Armee von den 150 000 Rationen Brot, die die Commissaire dem Staate in Rechnung brachten, täglich nicht mehr als 10 000 Rationen bekam und dieser Betrug ganzer zwei Jahr dauerte. – Ebenso sind (nach dem Bericht Barbés im Rate der Alten) alle Militärpersonen in Frankreich darüber einverstanden, daß die Republik im 4.Jahre für 200 000 Soldaten und 20 000 Pferde, die bloß in der Caisse d'escompte und sonst nirgends existierten, Proviant und Lieferung bezahlte.
 

ZWANZIGSTES KAPITFL

,'Königl. Wein  und Eierbeamten –  – und sogar einen königl. großbr. Hofsekretschlüsselbewahrer." – "Kann denn", so sagt Herr Burgh bei Gelegenheit der Zivilliste, "unser gnädigster König nicht ein weich gesottenes Ei zu Abend essen, ohne sich einen Eierkontrolleur und einen Eierkontrolleur Ober  und Unterschreiber mit einem jährlichen Aufwande voll 500 Pf. Sterl. zu halten? und das zu einer Zeit, wo die Nation in ein bodenloses Meer voll Schulden versinkt!" Ebenso kann man fragen: "Was nützt ihm der Intendant des heimlichen Gemachs? Kann der König den Schlüssel dazu nicht selbst in der Tasche führen? – Und, mein kleiner Cook und Cryer, worin besteht seine Verrichtung? Etwa, unter dem Kammerfenster des Königs mit Nachahmung des Hahnengeschreis die Stunden der Nacht auszurufen? So etwas konnte vor Erfindung der Repetieruhren voll gutem Nutzen sein; vor der Hand aber hat es gar keinen!" usw. –  –  – 

     "Himmelschreiend sei es zum Beispiel, daß die Gesetze zu einem Betruge, wie dem des Lord Holland, von 48700 Pf. Sterling stillschwiegen, während sie die arme Marie Jones um ein paar gestohlener Windeln willen zum Stricke verurteilten." – Lord Holland konnte von Glück sagen, daß die Untersuchung seiner Rechnungen Herrn Bembridge in die Hände fiel, der die Gefälligkeit hatte, gegen ein Douceur voll 2 6oo PC Sterling *) sie richtig zu finden. Die Sache schien abgetan, als plötzlich Lord Mansfield neue Zweifel erregte und auf weitere Untersuchung drang. Vergeblich erklärte Herr Edmund Burke, deklamatorischen Andenkens, Bembridge für einen ehrlichen Mann; die Jury wurde nur zu bald vom Gegenteil überzeugt. Was nun weiter erfolgte, ist ebenso merkwürdig; denn es zeigt genau den Gang der .....schen Justizverfassung. Bembridge wurde zu halbjähriger Gefängnishaft und Erlegung einer Geldbuße verurteilt, die der erhaltenen Bestechungssumme gleich war.
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*) 28 600 Fl.

     "Marie Jones." – Ihr Mann, ein gemeiner Tagarbeiter, wurde durch einen Preßgang aufgehoben; sie selbst aber, nachdem der Hauswirt, um sich, für die Miete bezahlt zu machen, nebst andern Schuldnern, ihr Stuben  und Küchengeräte ausgeräumt, liebst ihrem einzigen Kinde auf die Straße gesetzt. Von hier entfloh sie auf eine Dachkammer und wurde bald darauf voll einem zweiten entbunden. Gleich nach erfolgter Niederkunft, und sobald sie nur einige Kräfte zum Gehen geschöpft, schleppte sie sich auf die Straßen von London, um mitleidige Herzen anzusprechen. Da sie aber jegliche Tür verschlossen fand und man sie überall gleich einer Landstreicherin behandelte, ließ sie sich verleiten und stahl aus Verzweiflung ein Stück Leinwand. Weder die dringende Not, ein nacktes Kind 
kleiden, noch ein zuvor geführter untadelhafter Lebenswandel, verbunden mit dem günstigen Zeugnis ihrer Nachbarn und der Vorsteher des Kirchspiels, vermochten etwas gegen den toten Buchstaben des Gesetzes. Nicht einmal so viel Menschlichkeit hatte man, dem armen Weibe, deren Milch durch so viele erlittene Drangsale in Gärung übergegangen und notwendig in Gift verwandelt sein mußte, ihr Kind von der Brust zu reißen. –  – Erst der Henker übernahm diesen Dienst, in dem Augenblick, wo er ihr zu Tyburn den Strick um den Hals legte.

Ende der Anmerkungen zu den Reisen des Scararnuz


Von der Erziehung und von Kinderschriften

Sonst gab man den Kindern, wenn sie klein waren, ein Stück Brotrinde in den Mund, damit die Zähne sich scheuerten und bald durchkämen. Jetzt lassen sich die alten und erwachsenen Leute dagegen ihre Zähne mit gutem Vorbedacht ausnehmen, damit sie dadurch gleichsam ein Privilegium haben, mit den Kindern ewig Brei aus ihrer Pfanne zu essen. Da gefallen mir die Fleischer besser. Wenn die kleinen Kinder schreien, während die Mütter abwesend sind, so stecken sie ihnen einen Zipfel Wurst in den Mund, woran sie saugen können, und schenken ihnen, wenn sie durstig sind, ein Glas Bier. Kinderbücher sollten immer nur Vorbereitungen auf die großen Volksbücher, an denen sich ganze Nationen in Leid und Freud, zu Scherz und Ernst heraufgebildet und veredelt haben, auf den Homer und die Bibel sein. Seitdem aber die Eltern so schwach und so kindisch geworden, daß sie selbst keine Freude mehr an diesen Büchern finden, so geht alles mit natürlichen Dingen zu. Wenn der Vater kein Pferd im Stall hat, was wollen wir uns wundern, wenn der Sohn ihn zuletzt einladet, sich mit ihm auf sein Steckenpferd zu setzen.


An Pestalozzi, den 4. Februar 1819

Es soll mir zu ausnehmender Freude gereichen, wenn ich höre, daß dieses Schreiben Dich in Deinem hohen Alter wohl und gesund angetroffen hat, alter und ehrwürdiger Vater Pestalozzi, und sollst Du damit fortfahren, bis ich, Dein Sohn dem Geiste nach, Dich freudig von Angesicht zu Angesicht gesehen habe. Ich schicke Dir meine neuesten Schriften und hoffe, Du wirst Dein eigenes Herzblut darin nicht verleugnen, sondern Deinen eigenen lebendigen Puls für das arme, leidende, vom Übermut und Weltfrevel zertretene Volk, in manchen Zeile derselben, so Du die Hand drauf legst, auch in Yverdun klopfen hören. Ich habe einen guten Kampf gekämpfet, aber ich habe im Glauben festgehalten bisher. Es ging mir im Sachsenland, wie es Dir in der Schweiz erging; weder Tell noch Dr. Martin können vor der Welt und dem Bösen schützen, wie brünstig wir sie anrufen. In der Kriegs und Hungersnot saß ich mit 500 Kindern da und hatte die Wahl, sie wieder auf die Landstraße zu schicken, woher sie gekommen waren; aber ich hielt fest an Gott und dem Himmel und meinen armen Kindern und bediente die Welt, die unter mir rollte, mit meinem Absatz. Ich verkaufte, versetzte, wie es gehen wollte, riß die Kinder durch und zerriß so dem Teufel sein Konzept, der auch Garn spann, aber kein solches, wie wir in unserer Anstalt, sondern eitel Hanf zu Galgenstricken, womit er ganz Thüringen in seine listigen Netze zu fahen gedachte. Hab auch nicht ein einziges fortgeschickt. Werkstätten und Landschulen sind von nun an mein einziges Augenmerk. In diese beiden Durchgänge des ganzen deutschen Volkes muß sich ein neuer Strom von Leben und Bildung ergießen; die ehrbaren Meister können und dürfen als echte Pädagogen dabei nicht übergangen werden. Denn ich will das Volk trösten und freundliche reden mit Jerusalem, ich will es nicht bloß unterrichten, sondern auch speisen, kleiden und tränken, und eben darum bin ich einen echt christlichen Bund mit zweihundert Schuhmachern, Leinewebern, Schneidern eingegangen, wie Du das Weitere aus den beigelegten Büchern freudig ersehen wirst. Somit empfehle ich Dich in den Schutz des alliebenden Gottes, ehrwürdiger Vater, von dem Deine schöne Seele ein reiner Ausfluß ist, Dich und die Deinen, und indem ich mich nach Deiner lieblichen Gegenwart sehne, verbleibe ich Dein in der ewigen Liebe Dir treu und unabänderlich verbundener Sohn

Johannes Falk,
geboren 1768 in der alten Hanse in Danzig an der Ostsee; mein aber Großvater hieß Chaliou und stammte aus Euern Bergen, nämlich aus Genf her, von wo er als Uhrmacher nach Danzig gekommen ist und sich daselbst niedergelassen hat.

Reflexionen unter einem alten Birnbaum

IN DER ESPLANADE ZU WEIMAR
AM PFINGSHEILIGABEND 1817
NIEDERGESCHRIEBEN VON JOHANNES FALK

Ich fordere wenig. Nichts als ein warmes Ofenloch und eine Schüssel mit Brot und Wasser. Sind es denn Hunde oder Menschen, denen man diese bescheidene Bitte abschlägt? Nicht doch, den Hunden wird sie gewährt, nur den Menschen wird sie abgeschlagen, seitdem eine vornehme Handelspolitik, mit den ersten Bedürfnissen des Lebens, mit Brot und mit Holz, Wucher zu treiben, die Menschen beglückende Entdeckung gemacht hat. Könnt ich nur auch eine machen. Ich stehe an der Spitze von zwei- bis dreihundert Buben und Mädchen, deren Versorger ich bin. Könnte ich nur erst – ich habe mich deshalb auch wirklich mit einigen der berühmten deutschen Chemiker in Verbindung gesetzt – wie dem Krebs neue Scheren, also auf dem Rücken meiner armen Jungen jährlich viertel oder halben Zentner feine Wolle wachsen lassen sowie auf dem meiner armen, unversorgten Mädchen gute, weiche Pflaumfedern. Gerechter Gott, ich bin fest überzeugt, die reichen Herren Pachter und Gutsbesitzer, die dem armen Volk jetzt sein Stückchen Brot so kärglich zuschneiden, würden von dem Augenblick an, wo sie eine gesegnete Wollenschur von demselben erwarten könnten, die Gerste so gut und so freigebig dem deutschen Vieh als ihrem spanischen Wollenvieh zuschroten. So angelegentlich rührende Klagen werden jetzt, wo die Straße mit auswandernden Landsleuten gen Rußland und gen Amerika bedeckt wird, nicht über den Verfall der Staaten oder über das Anschlagen der Häuser und Äcker, nein, über den Verfall des Tagelohns vernommen. Woher kömmt alles dieses Unglück? Das nackte, ungefiederte Geschöpf, Mensch genannt, ist bis jetzt als Industrieartikel viel zu wenig in Kurs gewesen, die Länder etwa ausgenommen, wo man statt des Produktes das produzierende selbst verkauft, das heißt mit Menschen handelt. Was die Urbevölkerung betrifft, so sind auch über diesen Punkt sehr gegründete Klagen eingelaufen. Daß der Fall auch wirklich eintreten kann, daß im Staat die Bestie schmerzlich vermißt wird, mit anderen Worten, daß die Zahl derer, die Wolle und Federn tragen, die Zahl derjenigen bei weitem übertrifft, die diese beiden schönen Produkte hervorbringen, ist unleugbar. Schrecklicher Gedanke der Überbevölkerung. Auch dir begegnet mein segensreiches Geheimnis. Gänse und Schafe werden weniger schmerzlich von unseren so guten und reichen Landbewohnern vermißt werden, sobald wir sie durch die Königin aller Wissenschaften, die Chemie, in Stand setzen, sie an jedem ihrer Knechte und Mägde, gleichsam aus freier Hand, wachsen zu lassen.


Aus Paris vom 27. Januar

Man weiß, der französische Kaiser konnte es lange schon den deutschen Journalisten und Zeitungsschreibern nicht mehr recht machen. Man erlaubte sich, wo man konnte, Seitenblicke auf seine Regierung, und Deklamationen wider Bonaparte waren eine Zeitlang förmlich an der Tagesordnung. Wer nur je gelesen werden wollte, mußte diese Mode mitmachen. Jetzt aber hat der Kaiser dadurch, daß er so plötzlich inkognito nach Paris zurückgekehrt ist, eine so empfindliche Rache an diesen Herren genommen, daß man, um ihr ganzes Gewicht zu fühlen, notwendig selbst ein Journalist sein muß und, ohne die größte Schadenfreude zu besitzen, sie unmöglich anders als bedauern kann. Man bedenke nur: Wie viele schöne Artikel von Illuminationen, Aufführungen von Bällen, Triumpfbögen, Beschreibungen von Ehrenpforten, Transparents usw. sind allein dadurch für deutsche Tageblätter verlorengegangen? Werden ihre beliebtesten Journale, wird ein „Freimütiger“, wird die „Elegante Zeitung“ den Verlust so vieler schöner Beilagen und Kupfer, der ihnen dadurch erwächst, je verschmerzen können? Verwünschtes Inkognito! Du allein bist schuld daran, daß das Honorar von so vielen braven Autoren jetzt auf das sündlichste geschmälert wird. Denn behaupte ich wohl zuviel, wenn ich sage, daß das Defizit, daß dadurch lediglich in den Beutel deutscher Schriftsteller reißt, gering gerechnet, sich auf acht bis neuntausend Taler anschlagen läßt? Und dann wundert man sich noch, daß ein Mann wie Bonaparte, der sich so wenig um das Publikum bekümmert, auch seinerseits von vielen immer noch nicht gehörig geschätzt wird. Wo soll die Schätzung herkommen? Er setzt ja die schöne Welt, durch seine Taten, ordentlich in Verlegenheit, so daß sie zuletzt selbst nicht mehr weiß, was sie mit ihm und seinem Genie anfangen soll. Konnte er nicht lieber ganz inkognito bleiben?


Über die Systemsucht der Teutschen

Auch hier im Elysium hat die Einnahme von Ulm eine große Sensation erregt; denn Sie sollen wissen, wir haben hier die Zeitungsnachrichten fast ebenso früh, wo nicht noch früher, als in den meisten Gegenden von Teutschland. Und das aus dem Munde der glaubwürdigsten Zeugen, nämlich der Toten selbst, die in den verschiedenen Gefechten vor dem Feinde geblieben sind.
   Besonders ist der General Mack, mit seinen auf dem Papier so schön entworfenen Planen, der Gegenstand des allgemeinen Gespräches. Der alte Swift, der auch noch in der Unterwelt viel auf Politik hält, so, wie er im Leben durch seine Vorliebe für dieselbe bekannt war, machte bei der Gelegenheit allerlei sarkastische Bemerkungen, von denen ich Ihnen doch einige mitteilen will. Nirgend, fing er an, ist das Planmachen mehr üblich als in Teutschland. in keinem Lande der Welt sind zum Beispiel über Erziehung, gute Kinderzucht und dergleichen so viel nützliche Bücher geschrieben worden als in den letzten zehn Jahren in Teutschland; nie sind indeß die Zuchthäuser dort bevölkerter gewesen als in ebendieser Periode. – Kein Land in der Welt hat über Finanzen, Fruchtsperren, Verbesserung des Feldbaus und der Viehzucht so viele gründliche, gemeinnützig-praktische und systematisch-ökonomische Vorschläge aufzuweisen als in den letzten zehn Jahren Teutschland; nie sind indeß dort Menschen und Vieh dem Verhungern näher gewesen als in ebendieser Periode. In keinem Lande von der Welt ist zuletzt das neuere Kriegssystem so ausführlich, so unparteiisch, so tief und so vernünftig erläutert worden als in den letzten zehn Jahren in Teutschland; nie sind indeß größere Armeen von einem völlig ungeübten, ja undisziplinierten Feinde überall, wo sie sich zeigten, öfter geschlagen worden als in Teutschland in ebendieser Periode. Herder, der dabeistand, verzog anfangs keine Miene, nachher aber sagte er zu dem alten Dechanten, indem er ihm lächelnd die Hand drückte: „So ist es, wir sind die Schulmeister des Universums, und ich muß Euch leider in diesem Stück recht geben.“


Herder

Weimar, Montag nachmittags, d. 19. Dezember 1803

Herder ist tot! – Lassen Sie mich in diese drei Zeilen allen Schmerz meines gepreßten Herzens zusammenfassen. Was Deutschland, was die Wissenschaft, was die Kunst an ihm verliert: davon kann an dem frischen Hügel dieses Toten noch jetzt nicht die Rede sein. – 
   Seit langer Zeit litt der Verewigte an Verhärtungen der Leber; seine hinfällige Gesundheit suchte er vorigen Sommer durch eine Reise ins Bad aufzurichten. Die Dresdner Bildergalerie war bestimmt, die letzten Strahlen dieses schönen, sterbenden Geistes aufzufassen. Hier durchirrte er, mit ein paar Freunden und Freundinnen, die Gänge des schönen Museums; hier standen wir zusammen, an dem stillen Ufer der Elbe, vor dem sterbenden Fechter, vor dem stillen Jüngling, der die Fackel des Lebens auslöscht. Es war sein letztes Gespräch, was er sich gleichsam mit den besten Genien der alten und neuen Kunst, zu deren Gemeinschaft er nun auf ewig übergegangen ist, vorsetzte. Er hatte Dresden nie gesehen, und als er es nun sah, gab er sich diesem Anblick mit der vollen, ihm ganz eigenen Herzlichkeit hin. Keine Ahnung faßte damals sein und unser Herz, als wohl im Laufe des Gespräches des Verlustes, der Weimar bedrohte, zufällig Erinnerung geschah, daß der größte, der schwerste Verlust uns in ihm selber bevorstand. Lassen Sie mich hier schließen, mein Freund. –
–  –  – 
    Ach, Natur, wie sicher und groß in allem erscheinst du!
    Himmel und Erde befolgt ewiges, festes Gesetz,
    Jahre folgen auf Jahre, dem Frühling reichet der Sommer
    Und dem reichlichen Herbst traulich der Winter die Hand.
    Felsen stehen gegründet, es stürzt sich das ewige Wasser
    Aus der bewölkten Kluft schäumend und brausend herab.
    Fichten grünen so fort, und selbst die entlaubten Gebüsche
    Hegen im Winter schon heimliche Knospen am Zweig:
    Alles entsteht und vergeht nach Gesetz; und über des Menschen
    Leben, den köstlichsten Schatz, herrschet ein schwankendes Los.


Herders letzte Lebensstunden

Man hat schon oft bemerkt, daß bei schweren Kriegsläuften sowie in Belagerungen die wenigsten Menschen natürlichen Todes sterben. Die Ursache davon ist einleuchtend: Man hat nicht Zeit zu sterben. So ist es in allen ähnlichen Lagen, wo die Zeit uns so beschäftigt, daß wir kaum an den Tod denken können, weil es zuletzt doch nur immer der Hypochonder ist, der unserer Maschine früh oder spät ein Ende macht. Klopstock, Herder, Kant starben allererst, als die Französische Revolution aus war – wieder aus dem nämlichen Grunde: Früher hatten sie keine Zeit dazu. – Bei Herder besonders, dem Verfasser dieses Aufsatzes das Glück hatte in der Nähe und persönlich bekannt zu sein, erfolgte eine heilsame Krisis seiner Krankheiten in der Regel immer dann erst, wann eine Idee sich seiner bemächtigte, sozusagen fix in ihm wurde, ihn an seinen Schreibtisch trieb, wo er denn sein Übel vergaß und sich in wenig Tagen, im eigentlichsten Verstande, wieder gesund schrieb. Noch in den letzten Augenblicken seines unaufhörlich geschäftreichen und welttätigen Lebens war sein Wunsch oftmals, nur eine Idee zu haben, die ihn der Welt wiedergäbe, die ihn wieder an das Leben knüpfte, ihm ein Interesse dafür einflößte. Seine umstehenden Kinder, Gattin und Freunde bat er dringend darum, ihm eine solche Idee zu geben, in einem Ton, daß niemand von denen, die ihm nahten, seine Klagen über diesen Punkt ohne die tiefste Rührung anhören konnte. Auch bin ich fest überzeugt, hätte Herschel in diesem Augenblick irgendeine große, wichtige Entdeckung am Himmel gemacht, oder auch nur auf der Erde hätte sich irgend etwas ereignet, wobei viel, recht viel auf dem Spiel gestanden: wie ich Herder kenne, der alles mit Feuer erwog, was sich ihm darbot, dem nichts zu groß war, um es zu fassen, nichts zu klein, um es zu lieben, seine hohe männliche Seele hätte sich noch einmal ermannt und über die Ruinen des Körpers, die über ihm zusammenfallen wollten, emporgehoben; ja wie Macbeth seiner Gemahlin, hätte er der Scheidenden zugerufen: „Ist es jetzt Zeit zu sterben? Es wäre schon noch ein Tag gekommen, wo wir für ein so gemeines Werk wie dieses eine Stunde hätten finden können.“

   So aber schlich im November und Dezember des Jahrs 1804, dessen düstres Verhängnis uns des Freundes der Menschheit sowie des unsrigen für ewig beraubte, die Zeit gerade in einen ungewöhnlich langsamen Schneckenschritt. Der Unmut, der jede Maschine abspannt, zeigte auch an den Triebfedern der seinen dieselbe zerstörende Wirkung, so daß dem edlen, hohen Geist, der die Welt mit seinen Ideen angefüllt, nachdem er selbst an Ideen gleichsam verarmt war, zuletzt nichts weiter übrigblieb, als mit jenem alten Könige „Sonne, ich bin deiner müde!“ auszurufen, sich auf sein Bett zu legen – und zu sterben.


Über Lichtenbergs Leben und Schriften

Auszug aus einem Briefe

Auch denken Sie darin übereinstimmend mit mir, liebster Freund, daß in diesen zwei kleinen Bänden von Lichtenbergs Nachlaß mehr Selbstgedachtes, mehr Eignes und Orignelles anzutreffen sei als wie in mancher bändereichen, großen Bibliothek; und doch hat, wie sie sagen, diese Lektüre Sie auf der andern Seite so wenig befriedigt, Sie mehr verstimmt als zu bessern Gefühlen erhoben, mehr helle Ideen in Ihnen verwirrt, als dunkle ins Klare gesetzt: die Ursache hiervon, wie mich dünkt, muß etwas tiefer liegen, und diese aufzusuchen sie der Gegenstand dieses Briefes. Lichtenbergs schriftstellerischen Charakter aufzunehmen ist nicht so leicht, wie man anfänglich zu glauben sich versucht fühlt. Wissenschaftliches Verdienst und poetische Anlage sind so sonderbar in diesem originelle Kopfe gemischt, daß es schwer hält, sie voneinander abzusondern. Er selbst scheint bis an das Ende seines Lebens mit dieser Absonderung nicht zustande gekommen zu sein. Es gibt Stellen, wo er sich ganz bestimmt darüber erklärt, was er in gewissen Jahren hätte treiben müssen, wenn was Rechts hätte aus ihm werden sollen, und wieder andre, wo er sich selbst besser auszufinden scheint und sein eigentümliches Verdienst „im Klarmachen“ feststellt. Einmal wünscht er sich nichts sehnlicher, als Algebra und Integralrechnung in seinen jüngern Jahren rechtschaffen gelernt zu haben; ein andermal will er sogar ein Gedicht schreiben, wo das utile dem dulci so gemischt ist, daß die Verbesserung der Chausseen und des Straßenbaues darin ihre Rubrik bekömmt. Dies letzte ist für seine ganze Manier entscheidend. Ein Gedicht, das einem Kopf dieser Art ganz Gnüge leisten sollte, müßte denn doch am Ende das Leben ungefähr so behandeln wie die Experimentalphysik die Natur, und die Kunst, aus Runkelrüben Zucker zu machen, und die, Gedichte zu verfertigen, müßten einen Vereinigungspunkt haben, wo sie sich zu Nutz und Frommen des gemeinen Wesens begegneten. Diese einzige beschränkte Ansicht ist in Lichtenberg bleibend und läuft durch, weil sie in die Grundlage seines Charakters greift; die andern sind skeptisch und leicht, wie die Anlässe, die sie von außen bestimmen, aus einem Verhältnis in das andre beweglich. Dahin gehören besonders seine politischen Grundsätze, wo er es ganz dem glücklichen oder unglücklichen Erfolg gewisser Begebenheiten überlassen zu haben scheint, ihn für oder dawider zu bestimmen. Daß poetisches Vermögen sich frühzeitig in ihm regte, sieht man besonders aus der naiven Frage an seinen Geist: „Was ist das Nordlicht?“, die er als Knabe auf ein Zettelchen schrieb und auf den obersten Boden legte; aber unglücklicherweise fiel seine Ausbildung in die Periode jener sonnenhellen und klaren Aufklärung, die besonders von Frankreich aus, über Friedrich dem Großen, über ganz Deutschland ausging, wo alles, was Glauben hieß, völlig verhaßt wurde und wo man es für den unauslöschlichsten aller Schandflecke hielt, in der Natur und in und außer uns irgend etwas anders als durch Vernunft auszumachen. Dies falsche System, das auch besonders in den höhern Ständen unter uns noch immer seine Verehrer findet, wiewohl es mit jedem Tage immer mehr zusammenfällt, hat gewiß auch auf Lichtenbergs Erziehung einen nachteiligen Einfluß geäußert. Er selbst gesteht irgendwo, schon in seinen frühern Jahren sehr frei über Religion gedacht zu haben. Das wäre nun an sich schön, wenn man mit diesem Denken nur nicht zugleich aller Poesie, das heißt denn doch wohl dem Höchsten im Menschen die Axt an die Wurzeln legte. In Lichtenberg läßt sich die erstere indes so wenig vertilgen, daß es ordentlich scheint, als ob sich seine Phantasie für die vielen Beleidigungen, die ihr seine so helle Vernunft öffentlich und im Wachen antat, privatim und im Schlafe schadlos halten wollte. So hielt er zum Beispiel viel auf Ahndungen, Träume und Vorbedeutungen, singt mit rechter Inbrunst geistliche Lieder; ja sogar aus dem Siegeln des Briefes, aus dem Brennen oder Nichtbrennen der Lichter usw. zieht er für sich das Gelingen oder Nichtgelingen einer unternommenen Handlung Zeichen ab. Späterhin kommt nun noch Kant dazu und wirft vollends das nie festgestandne Gebäude seiner Überzeugung ganz über den Haufen. Die kritische Philosophie, kann man sagen, hat L. alles genommen, ohne ihm das Geringste wiederzugeben. Der moralische Beweis für das Dasein Gottes ist für einen so spekulativen Kopf, den überall mehr die besiegte Schwierigkeit einer Untersuchung als die daraus gewonnene beruhigende Überzeugung reizt, zu naheliegend und zu einfach: Freiheit der Seele, Unsterblichkeit sind ihm daher zu bloßen Worten, zu innern Anschauungen, zu Gedankenspielen geworden, denen eben nichts von außen zu entsprechen braucht. Selbst seine Wissenschaft, wenn man anders eine Sammlung von Erscheinungen, wie sie die Erfahrung an die Hand gibt, mit diesem vieldeutigen Namen beehren will, ist durch ihren ewigen und wohlbegründeten Realismus nicht imstande gewesen, ihn von diesem Mißverständnis zu retten, wiewohl er hier und da den Übergang vom absoluten Unglauben und Skeptizismus zu einem höhern, geläuterten und vernünftigen Spinozismus nur für spätere und bessere Tage des Menschengeschlechts, als es doch wohl der Fall sein dürfte, zu ahnden scheint. Dabei ist es immer höchst sonderbar, daß ein so trefflicher Kopf, dem sich das Lächerliche überall aufdrang, sich selbst den Unterschied nicht klarmachen konnte, der darin liegt, wenn man dem Philosophen – den Idealismus zur streng wissenschaftlichen Vermittlung seines Daseins verstattet und verstatten muß und wenn man diese Vorstellungsart auf irgendeine Wissenschaft, wie zum Beispiel die der Natur, welche durchaus unabhängig und selbständig anzunehmen ist, überträgt. Hängt diese Schwerfälligkeit, sich der Verklärung des Idealismus durch den Realismus und umgekehrt der Vergeistigung des Realismus durch den Idealismus bewußt zu werden, vielleicht mit dem oben erwähnten poetischen Unvermögen zusammen, so ist freilich alles begreiflich. Dies möchte um so eher der Fall sein, wenn man erwägt, daß das echt Wissenschaftliche in der Moral, Theologie wie in der Physik zugleich das echt Poetische ist, also mit dem Schwärmerischen beinahe auf einer Linie steht, für welches letztere Lichtenberg, wie sein Streit mit Lavater beweist, eine beinah leidenschaftliche Apathie hatte. Viel trug dazu auch seine öffentlich übernommene Rolle bei, wie, um mich seines eigenen Gleichnisses zu bedienen, gewisse Leute, wenn sie sich malen lassen und sich sozusagen vor dem Publikum ausstellen, ein schlechteres Gesicht annehmen als das ihrige. Er hatte sich einmal zum Bekämpfer der Schwärmerei und des Aberglaubens aufgeworfen. Alles, was ihm daher aus diesem Kapitel entgegenkömmt, muß dies innewerden. Nicht nur Werther kömmt schlimm weg, sondern auch sogar Agathon heißt ihm ein schwärmerischer Jesuitenschüler, dem er es durchaus nicht vergeben kann, daß ein so großer Mann wie Wieland sich für ihn interessiert hat. An dem ersten Roman sind der rauhen Ecken für Lichtenberg natürlich noch mehr. Was kann auch eine so übersinnlich-sinnliche Liebe für einen Mann sein, der seine Geliebte ungefähr wie ein Stück Pudding oder Roßbeef betrachtet? Man höre nur: „Ihr (heißt es Teil I. S.191), die ihr so empfindsam von der Seele eures Mädchens sprechen könnt, ich gönne euch diese Freude. Glaubt aber ja nicht, daß ihr so was Erhabenes tut oder sagt; oder dünkt euch nicht edler als der Pöbel, der gewiß sogar Unrecht nicht hat, sich hauptsächlich an den Körper zu halten. Was doch ein junger Rezensionen-Leser für eine Idee von einem so feinen Sentiment hat! Der Bauersknecht schielt nach dem Unterrock und sucht den Himmel dort, den du in den Augen suchst. Wer hat recht? Ich wäge keine Gründe in dieser Frage, und noch viel weniger entscheide ich sie, aber raten will ich es aus treuem Herzen allen empfindsamen Kandidaten, daß sie sich mit dem Bauern setzen, es könnte sonst auf verdrießliche Weitläuftigkeiten hinauslaufen.“
     Daß der Held jenes Goethischen Romans den Homer liest, hält er weiterhin für leere Modeaffektation, für Nachbeterei des herrschenden Journalistentons. Überhaupt hat er von Dichtern die wunderlichsten, ungereimtesten Vorstellungen. So meint er zum Beispiel, sie wären eben nie die größten Denker gewesen. Die vielen trefflichen Sachen im Horaz erinnern ihn nur an die noch trefflicheren, die in den Gesellschaften, die Horaz besuchte, mochten gesprochen worden sein. Sonderbar ist es freilich, daß Horaz, wie der Brief an Mäcenas beweist, sich diesen Gesellschaften späterhin so hartnäckig verweigerte, also sich diese reiche Fundgrube selbst mutwillig zuschloß. Von den Hexametern wird nur nicht mit dürren Worten herausgesagt, daß sie eine übelklingende, harte Versart wären, die weder Franzosen noch Engländer hätten; was freilich für jemand, der weiter nichts als die neue Literatur kennt, ein Hauptpunkt ist. Auch soll Homer ein schwerer Dichter sein; ein Ausspruch, wozu denn doch einer und der andere, der die „Odyssee“ mit seinen Kindern gelesen hat, lächelnd den Kopf schütteln möchte. Ebenso dürften Lichtenbergs schneidende Urteile über andre große Schriftsteller, gleich die wegwerfende Art, wie er zum Beispiel Klopstock, Goethen und Herder behandelt, vielen und gerechten Widerspruch finden. Sie beweisen, außer der Beschränktheit in der Natur ihres Urhebers, zugleich, daß auch er von dem akademischen Stolze nicht frei geblieben, der einige gelehrte Individuen seiner Zeit, zu Anfang und noch mehr in der Mitte seiner schriftstellerischen Laufbahn, in Rücksicht auf vaterländische Literatur und Dichter, beherrschte. Nichts kann ergötzender sein, als sich von L. die Ursachen aufzählen zu lassen, warum wir Deutsche, seiner Meinung nach, zu keiner Darstellung echter Originalität imstande sind. Immer sieht man, schweben ihm dabei die streng individuell gezeichneten Formen englischer Romane und Komödien vor, und er vergißt ganz, daß das eigentlich Ewige und Unvergängliche der Poesie weder dies- noch jenseits des Kanals zu Hause sei, daß Charaktere wie die der Eurykleia des Odysseus usw. allen Völkern und allen Nationen angehören und daß jene englischen, von ihm so beliebten Portraitmaler in der Kunst einen sehr untergeordneten, niedrigen Rang einnehmen, anstatt daß er ihnen gern den höchsten und womöglich noch einen Platz über dem Homer anweisen möchte. Dabei muß man ihn nun freilich die schon oben erwähnte Unentschiedenheit seiner Natur zugute kommen lassen, die, indem sie ihn zum Dichter und Gelehrten gleich ungeschickt macht, ihn auf die Grenze von beiden hinstellt. Als Dichter – und dieses Wort kann und darf nicht anders als zur Bezeichnung eines so ewig regen, aufmerksamen Selbstdenkers, wie Lichtenberg wirklich war, in unsrer Sprache Platz gewinnen – ist ihm das ganze hohle Kompilator- und Registerwesen, das unter uns Deutschen noch immer, unter dem Namen Gelehrsamkeit, im Schwange geht, anstößig und einleuchtend geworden. Er fühlt, daß ein durch eignes Nachdenken gewonnenes sichres Resultat, wobei man ausruhen, wornach man handeln kann, mit einem Wort, das echt Poetische einer Kunst, einer Wissenschaft mehr wert sei als eine ganze Fuhre mit Kathedergezänk und Inauguralprogrammen; dabei will er sich aber als Gelehrter nichts vergeben. Außerdem ahndet er als Naturforscher, der eins der schönsten Fächer menschlicher Kenntnisse mit großen poetischen Blicken bereicherte, wohl noch eine höhere Anwendung der Poesie, als sie in seinen Tagen üblich war. Er äußert es ziemlich unverholen, wie uns die himmlische Muse noch erst besuchen müßte, wenn wir es wert sein wollten, in der Geschichte der Poesie unter andern Völkern einen ehrenwerten Rang einzunehmen, und wie wohl unsere gelehrten Gesellschaften daran tun würden, statt eines Preises auf das beste Schauspiel einen auf das beste Lehrgedicht zu setzen. Mit diesem Vorschlage sei es nun, wie es wolle; genug, es ist begreiflich, wie ein mit echten Naturkenntnissen ausgerüsteter Geist den Mondscheintransparents aus einer gewissen Epoche und dem, was einige von Wein und Liebe begeisterte Dichter dem Publikum, unter der Firma Natur, aufdringen wollten, keinen sonderlichen Geschmack abgewinnen konnte. In den Bemerkungen hierüber ist auch noch für unsre Zeiten manches Treffende. Zum Beispiel, wenngleich niemand Lichtenberg darin beistimmen wird, daß ein Weib dem Manne bloß durch die in der Tat etwas unfeine Ideenassoziation von Bett- und Schlafkameradin usw. angenehm sein dürfte; so kann man doch auf der andern Seite nicht in Abrede sein, daß der kleinliche Gang in der Kultur der Neuern, sowohl was die Poesie als was die Politik betrifft, mit den unsern Weibern zu unbedingt eingeräumten Rechten aufs innigste zusammenhängt. Die Weiber sind es meistens, man kann es nicht oft genug sagen, die uns zu diesem kleinlichen Ton, diesem ängstlichen Hinhorchen nach allen Enden, das des Mannes so äußerst unwürdig ist, verleiten, und das sich von den Brunnen und Teetischen, von den Märkten in die Häuser und in die Studierstuben der Gelehrten verpflanzte. Soll hierin eine Veränderung mit uns vorgehn, so muß sie von ihnen ihren Anfang nehmen. Die Gattin, die Mutter, die Matrone, die Schwester – seht da die Verhältnisse, worin das Weib uns ehrwürdig bleiben wird und soll: aber wert des großen Wendepunkts der Zeit, deren mächtiger Einfluß sie wie uns beherrscht und ein größeres Geschlecht von ihren Händen fordert, können sie nichts dawider haben, wenn die Geliebte in ihnen künftig etwas mehr zurücktritt. Ginge also der Lichtenbergische Unwille gegen dies kranke Sehnen und Schmachten, mit einem Wort, gegen die Unendlichkeit der Leidenschaft überhaupt, die noch jetzt in Romanen und Gedichten, nur in andern Zeitverkleidungen, unter uns auftritt, wer könnte es ihm verargen? Nur vergessen muß er nicht, um gerecht zu sein, daß beinah überall die Kunst, in ihren erst rohen Anfängen, auf Erregung heftiger Affekten hinarbeitet; nur offen mußte er die Augen behalten für die Entwicklung des großen plastischen Sinns, der sich mitten unter diesen augenblicklichen Verirrungen und vorbereitenden Versuchen keinem aufmerksamen Auge entzog und der, indem er die herrlichsten Kunstbildungen andeutete, nach und nach diesen Andeutungen in Erfüllung zu bringen bemüht war. Wenn er statt dessen die augenblickliche Verirrung, und nur diese, ins Auge faßt, wenn ihm selbst Homer so wenig oder vielmehr so nichts ist, daß dagegen Popens „Essay“ und der „Fündling“ in Betracht kömmt, so deutet dies auf etwas in seiner Natur, was die Voraussetzung eines gänzlichen Mangels an höherm poetischen Sinn zur Genüge rechtfertigt. Lichtenberg, scheint es, hat überall mehr das Individuelle, das Einzelne als das Ganze, das Ideale gefaßt und gesucht, und so wird es begreiflich, wie er, bei aller Gabe des Scharfsinns, bei allem großen und seltnen Beobachtungsgeiste, sich dennoch gleichsam selbst vereinzelte und nie zu einem Kunstwerke oder einer Komposition erhob. Ich eile von dieser Seite des Nachlasses, die doch nur den Verstorbenen in einen wiewohl verdienten Schatten stellt, zu einer andern, die ihn in dem hellsten Lichte und Glanze zeigt. Dies ist das eigentümliche Bestreben seines originellen Kopfes, verbunden mit der Maxime, nach denen er, was er studierte, mit wahrem Sinn und tiefer Gründlichkeit angriff. Sein Verfahren hierin ist weit über das Jahrhundert, worin er lebte, hinausgestellt, und man kann sagen, erst dann, wenn ein ähnliches in der Erziehung allgemein wird, darf man sich etwas von unsrer Literatur versprechen. Ihn kümmert es wenig, was Cajus oder Sempronius über einen Gegenstand gedacht oder geschrieben; mit ursprünglichem Beginnen geht er daran und konstruiert ihn aufs neue. Ihm ist ein Buch, was es den Griechen auch war, was es immer sein sollte und was es wieder werden muß, nicht Anhäufung von toten Zitaten, von Historien-, Anekdoten- und Antiquitätenkram, sondern Resultat eignes Nachdenkes, Anlaß zu lebendiger Forschung in der Seele dessen, der es liest und den es zu eigner Selbsttätigkeit aufregt. Vor nichts warnt er daher so dringend und so wiederholt als vor den großen Marktbuden der Gelehrsamkeit, vor jenen polyhistorischen Werken, wo einem mittendrin so zumute wird, als ob man sich in einer Stube befände, wo funfzig Leute durcheinander sprächen und jeder eine eigne Meinung hätte. Das ist nicht ein Buch, das sind funfzig Bücher; das ist nicht ein Kopf, das sind funfzig Köpfe, die dort ihr Wesen treiben; und ihr werdet sie nie unter einen Hut bringen. Mit großer Wahrscheinlichkeit prophezeit er diesem falschen System der Gelehrsamkeit, das Deutschland um mehrere Jahrhunderte in seiner Kultur zurücksetzte, unausbleiblich bei der Nachwelt seinen Verfall. Er spottet bitter über jene pedantische Unart, mit gelehrten Nichtswürdigkeiten den Geist zu töten, das Leben hinzubringen und das Wichtigste, das Selbstdenken, zu versäumen. Mechanik des Geistes ist ihm Mechanik, sie mag anzutreffen sein, wo sie will; sie mag mit Reimen oder mit Zahlen spielen. Der nachbetende Mathematiker und der nachahmende Dichter sinken beide unter sein strenges Richtscheit. Nichts ist ihm lächerlicher als eine Erziehung, wo man mit Jahreszahlen, Namen, usw. das Gedächtnis überladt, ohne zu bedenken, wie alles dieses so konventionell ist, wie zum Beispiel jemand Böhmen, wie es Shakespeare wirklich getan, für ein am Meer gelegnes Königreich halten und doch einer der ersten Denker seines Jahrhunderts sein könne. Sind denn Gelehrte weiter nichts wie lebende Mausoleen, von denen es gleichgültig ist, ob sie über oder unter der Erde stehen? nichts als Bibliotheken, die man, ihrer eignen Schätze unbewußt, aus einem Jahrhundert in das andre rückt? Ist denn von ihnen nie eine Einwirkung auf den Geist der Gesellschaft, auf das menschliche Leben zu hoffen? und welche kann dies sein, wenn sie, anstatt selbst zu denken, mit gedankenlosem Treiben immer nur ängstlich über das Gedachte Buch und Register halten und sich höchstens mit dem Ruhm einer neuen und lichtvollen Anordnung begnügen? Fürwahr, die heilige Ehrfurcht vor solchem leeren Gedächtniskram, vor diesem echten deutschen Popanz ist bei uns noch so groß und unbedingt, daß, wenn morgen ein neuer Linné für die Sandkörner aufstünde, nicht zu zweifeln ist, man würde ihm bald auf irgendeiner unserer zahlreichen Universitäten ein Katheder einräumen. Was helfen uns doch die Namen von unzähligen Pflanzen, Menschen und Tieren, die wir auf diese Weise in das Gedächtnis propfen, bloß, damit sie da sind? Es ist ein schönes Ding um Schaumünzen, aber was soll man von dem sagen, der seinen letzten Notpfennig hingibt, um sich welche dafür einzukaufen? Dieser Notpfennig im Leben ist das Nachdenken, diese Schaumünzen sind die Gelehrsamkeit. Nicht oft genug kann man es daher wiederholen, um einem unnützen Prunk in Dingen dieser Art Einhalt zu tun, daß überall nicht die Erscheinung, sondern die Idee, das heißt das, was die Natur bei einem Dinge gedacht hat, unsrer Aufmerksamkeit – wert ist. Dadurch unterscheiden sich ja eben Menschen von unvernünftigen Tieren. Nach diesen vorläufigen Betrachtungen wird es dem Leser vielleicht interessant sein, etwas über die Art zu hören, wie Lichtenberg selber studierte. Soviel wie möglich las er mit der Feder in der Hand, konstruierte das Buch mit dem Verfasser aufs neue, wobei sich ihm, wie er sagt, immer eine gleichlaufende Reihe Ideen entwickelte und er der schlimmsten Wirkung eines Buches, die in Vernichtung der eignen Selbsttätigkeit besteht, aus dem Wege ging. „Nulla dies sine linea“ war im eigentlichen Verstande sein Wahlspruch. Das leicht zerstreute Nachdenken wußte er am Schreibtische unaufhörlich festzuhalten. Alles, was ihm daher Merkwürdiges begegnete, schrieb er erst in ein großes Buch, was er mit der Benennung der Kaufleute, waft book, bezeichnete, von wo er es, mit eignen Reflexionen vermischt, wieder, in seinem sogenannten „Ledger at double extrance“, ins Kürzere zog. Von der Nützlichkeit dieses Verfahrens ist er so unbedingt überzeugt, daß er es noch kurz vor seinem Tode auf das dringenste anempfiehlt und es zugleich als von sich zu spät ergriffen bedauert. In der Tat ist die Kunst, Folianten und Quartanten, durch Aufwendung weniger Federstriche, in dünne Oktavbände zu verwandeln, vielleicht die größte Aufgabe der Erziehung. Die Geständnisse der ersten Köpfe der Nation, wollten diese sie vor dem Publikum so offenherzig wie Lichtenberg ablegen, könnten leicht dieser Methode, vor allen übrigen des Nachdenkens, den Vorzug verschaffen. Das Lesen ist und bleibt eine viel zu passive Beschäftigung, der Geist wird zu wenig dabei angeregt, vollends das Vorlesen, oder vielmehr übliche Herstottern vom Blatt, taugt gar nicht. – 
     Ein lebendiger, mündlicher Vortrag ist freilich etwas anders, aber wie selten ist dies Talent! In den mehresten Fällen ist es gleich, ob man ein Buch oder einen Lehrer aufs Katheder stellt, in den meisten oft noch schlimmer: daher muß man bei Ermanglung dieses Vorteils die Bücher zwingen, daß sie uns die Stelle eines lebendigen mündlichen Vortrags vertreten, und dies kann man nur dadurch bewirken, daß man häufig aus ihnen übersetzt, abschreibt usw. und dann das Übersetzte und Geschriebene mit seinen eignen Ideen in Konflikt bringt. Hier kommt es nun freilich auf die größte Auswahl in der Lektüre an und daß man sich nicht sowohl die Gedanken eines Verfassers als die Maxime in der Behandlungsart zu eigen macht. Auch hierüber sind schöne, beherzigungswerte Winke im Lichtenberg, die dazu dienen können, alle diejenigen, welche noch nicht von einer gänzlichen, geistlosen Untätigkeit ergrifffen und in eine gelehrte Abgestorbenheit versunken sind, die Augen zu öffnen und sie zum eignen Nachdenken zurückzubringen. Auf jeden Fall ist es äußerst interessant, sich gleichsam in die innerste Werkstatt eines so originellen Geistes eingeführt zu sehen und ein Zeuge von der Entstehung seiner geheimsten Gedanken zu sein; die Herren Heraugeber verdienen daher für ihre würdigen Bemühungen nicht nur die Erkenntlichkeit, sondern auch die wärmste Unterstützung des Publikums.


August von Kotzebue. Porträt

August von Kotzebue, geboren zu Weimar im Jahr 1761. Als Dichter mehr ein Dichter der Schönen – als des Schönen; mehr ein Dichter aller Nationen als irgendeiner Nation. Kein Mann von großem Genie, aber ein Mann von großem Talent. Weniger hervorstechend durch die Originalität seiner Ideen als durch Witz, Reichtum und seltene Produktionskraft. Nicht ungeübt im Kolorit; kein Neuling in Farben; ein Meister in der Situation; unübertroffen im Dialog; aber ohne Richtigkeit und Verdienst in der Zeichnung; ohne echt idealen Aufflug in Charakteren; ohne Natur und Kraft in der Haltung; ohne Naivität in der Darstellung. – In der Philosophie ein Dilettant; in der Kunst ein Raisonneur; in der Kritik unter aller Kritik.


Anmerkungen:

Die Werke sind verschwunden. Die >DDR< ist verschwunden. Im letzten Jahr ihrer Existenz erschien im Verlag Rütten & Loening in Berlin ein Buch, daß es eigentlich nicht hätte geben dürfen : wenn man merkantil denkt. => Johann Daniel Falk: Die Prinzessin mit dem Schweinerüssel. Lustspiele Gedichte Publizistik, Berlin 1988, 702 Seiten. Herausgegeben von Paul Saupe, Textredaktion Maria Sonnenberg. Diese Seite verdankt ihre Geburt diesem Buch und einer Sendung des Bayerischen Rundfunks, 2. Programm (s.o.). Die Texte und Anmerkungen entstammen dem Buch. - Daß eine Ausgabe Falk´scher Werke noch einmal (im BuchFormat) erscheinen kann, erscheint unwahrscheinlich. - Wo es möglich war, wurden Erstausgaben herangezogen. Das Goethe-Buch Falks erscheint auf einer eigenen Seite.

Nachschrift an den geneigten und ungeneigten Leser : Diese "Nachschrift" ist ein Werbe- und Kommentarepilog Falks zum ersten Jahrgang seines Taschenbuchs. - Textgrundlage: Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, herausgegeben von J. D. Falk, Leipzig 1797.
Reise zu Wasser und zu Lande von Scaramuz : Der "Scaramuz" erschien im "Taschenbuch" von 1798 (Erste Abteilung) und 1800 (Zweite Abteilung). Die Anlehnung an Jonathan Swifts "Gulliver" (1726) ist unübersehbar, allerdings wird hier weitgehend auf Verfremdung verzichtet. Am Schluß des satirischen Reiseberichts vermerkte Falk: "Von einigen dieser Bücher ist der Sommerschen Buchhandlung in Leipzig, als der rechtmäßigen Verlagshandlung, der Verkauf untersagt worden. Ich habe indessen dafür gesorgt, daß diese und meine künftigen, gewiß nicht zum Nachteile der Menschheit abzweckenden Arbeiten außerhalb Sachsens (denn nur in Sachsen sind sie verboten) bei jedem vernünftigen und ordentlich bezahlenden Buchhändler entweder sogleich oder doch bald nach der Bestellung gewiß zu haben sein sollen." Die scharfe politische Satire in den "Reisen des Scaramuz" war Anlaß für das Verbot. Sie wurden seit der Erstveröffentlichung nicht wieder gedruckt. - Textgrundlage: Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, herausgegeben von J. D. Falk, Leipzig 1798/1800.
Von der Erziehung und von Kinderschriften : Textgrundlage: Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv (Falk VIII, 4, 1, Blatt 30. Gedanken 1806-1812).
An Pestalozzi, den 4. Februar 1819 : Textgrundlage: Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv (Falk I, 2, 0, Brief 17. Auszüge aus seinen Briefen von 1814-1825, abgeschrieben von Rosalie Falk).
Reflexionen unter einerm alten Birnbaum : Textgrundlage: Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv (F 1561, Band 7, Blatt IIIf.; zum Vergleich wurde Blatt 109f. herangezogen).
Aus Paris vom 27. Januar : Textgrundlage: Elysium und Tartarus, herausgegeben von J. D. Falk, Weimar und Leipzig 12. Februar 1808 (Nr. 13).
Über die Systemsucht der Teutschen : Erstmals veröffentlicht in "Elysium und Tartarus" vom 1. Januar 1806 (Nr. 1), unter der Überschrift "Schreiben aus Elysium vom 28. Dezember 1805". - Textgrundlage: Johannes Falk, Auserlesene Werke in drei Teilen, Leipzig 1819, Teil III.
Herder : Textgrundlage: Zeitung für die elegante Welt, 19. Dezember 1803 (Nr. 156).
Herders letzte Lebensstunden : Textgrundlage: Elysium und Tartarus, herausgegeben von J. D. Falk, Weimar und Leipzig 22. Januar 1806 (Nr. 8).
Über Lichtenbergs Leben und Schriften : Der Ort der Erstveröffentlichung konnte nicht ermittelt werden, aber im Schlichgtegrollschen "Nekrolog auf das Jahr 1799" ist Falks Lichtenberg-Würdigung als Quelle bereits vermerkt. Georg Christoph Lichtenberg starb 1799. - Textgrundlage: J. D. Falk: Kleine Abhandlungen die Poesie und Kunst betreffend, Weimar 1803.
August von Kotzebue : Im Inhaltsverzeichnis der "Zeitung für die elegante Welt" von 1803 sind fünfzehn Titel unter der Überschrift "Ernst- und scherzhafte Tendenzen gegen den 'Freimütigen'" aufgeführt, vier davon stammen von Falk. Dieses "Porträt" ist also Teil einer ausgedehnten Pressefehde. – Textgrundlage: Elysium und der Tartarus, herausgegeben von J. D. Falk, Weimar und Leipzig 19. Februar 1806 (Nr. 15).