Marseille.
Den 12. Februar.
Ich komme heute weder von der Maria zu Cotignac, wie
du nach der letzten Zeile glauben mußtest, die ich schrieb, noch von sonst
einem andern christlichen oder heidnischen Götzenbilde, sondern viel weiter
her, und zu dir zurück, mein unschätzbarer Freund. Ein neues reines Blatt liegt
vor mir, mit dem ich heute ein frisches Tagebuch anfange. — Fortsetzen kann ich das ältere nicht,
denn es ist auf meiner beschwerlichen Reise verräumt worden. Seit wir uns
kennen, mein Eduard, sind die letztvergangenen Wochen die ersten, in denen ich
keine Stunde an dich gedacht habe. Dafür bist du mir aber auch jetzt lieber als
jemals. — Ich komme aus den
dunkelhellen Gefilden zurück, die an die Finsternisse des Todes gränzen, hörte
schon in der Nähe den Strom rauschen, der alle Geschlechter der Erde
fortschwemmt, und sah die Dämme von Schlamm weit unter mir, die wir in der
Selbstgenügsamkeit unseres Stolzes gegen den Zufluß reiner Quellen um unsre
Froschgräben ziehen, und die uns jede Aussicht in das Freye versperren. Die
Zeit schien schrecklich vor mir vorüber zu fliegen. Jede laufende Minute hing
ihr ein Sterbeglöckchen mehr an. Von unzählig eilenden Pulsschlägen
erschüttert, tönten sie in ein fürchterliches Gläute zusammen, gegen welche das
Geklimper aus unsern Kirchhöfen Harmonie war. Ich floh dem Tod mit heißer
Begierde entgegen, um aus diesem Gesause der einstürzenden Welt und aus ihrem
Staube zu kommen; und doch trieb mich der Schauer der Ewigkeit immer wieder aus
seinen ausgestreckten Armen zurück. So flatterte mein Geist in jener
unbekannten Wildniß, die an den Zaun unseres Lebens anstößt, ungewiß umher,
ohne daß ihm ein Mondschimmer vorleuchtete, oder ein freundlicher Stern
begegnete. So hob sich meine Seele, leicht wie ein Dunst, aus ihrem
zerbrochenen Gefäße. — Hinüber — hinüber war der einzige seufzende Laut,
den ihr die Angst der Verzweiflung abdrang. Sie hatte nur noch einen Schwund zu
thun, um da zu seyn, wo sie hinstrebte, als eine unsichtbare Gewalt sie
aufhielt, und eine freundschaftliche Stimme ihr zurief: „Kehre um, meine
Schwester! Es giebt viel schönere Eingänge in dieses Thal — kehre in das Leben zurück, um sie zu
suchen.“ Und was fand sie, als sie, aus ihrer Höhe herabgewirbelt, wieder auf
den Standtpunkt kam, von welchem sie aufstieg —
als statt der Phantome, die sie umgaukelten, sie wieder Menschengestalt
erblickte, und fragen konnte: „Wo ist die schwesterliche Seele, die mich in das
Leben zurückzog?“ Ach! sie fragte umsonst; aber sie fand ein Herz, das in der
Hitze eines schrecklichen Fiebers, unter Prasseln, Toben und Angst zergangen,
gleich einem edlen Erz von seinen Schlacken gereinigt, nun abgekühlt auf den
Boden gesunken, wie ein funkelndes Goldkörnchen da lag. Die rauhe Schale, die
es sonst umgab, ist verschwunden; was es aber an unnützem Gewichte verlor, hat
es an Werth gewonnen — denn die Mühe
der Bearbeitung, die Schmelzkosten sind überwunden, und sein wahrer Gehalt ist
durch das Feuer bestätigt.
O könnte ich diesen Goldtropfen so glänzend zu dir
hinrollen, als er jetzt aus der Glühpfanne des Herzen geflossen ist, damit du
dich in seiner Oberfläche spiegeln könntest, ehe er in dem Umlauf unter den
Menschen sich wieder verdunkelt und anläuft! Möchte er immer nur von den
Blicken derer bestrahlt werden, die ihn zu schätzen verstehn! Möge ein gutes
Schicksal ewig alle schmutzige Hände von ihm abhalten, und ihn bewahren, damit
er nicht in dem Tumulte der Welt in eine Ecke geworfen oder in Koth getreten
werde! Fliegen ihm ja Sonnenstäubchen an —
wie bald bläst diese ein freundlicher Hauch hinweg!
Ich habe meine Uhr, die mir die Fehltritte meines
Lebens zu bezeichnen aufhörte, als mein überirdischer Traum anhob, und die
während meines Kampfs mit der Ewigkeit stillschweigend über meinem Kopfküssen
hing — heute zum erstenmal wieder in
Gang gesetzt, und — Gott, mit welcher
Empfindung! Jede Sekunde, die den Zeiger jetzt weiter rückt, jeder Laut, den
sie an die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anschlägt, jede halbe Note auf
der Tonleiter der Zeit, und jeder Schwung derselben, der den Todtentanz unserer
Stunden entwickelt — durchzittert die
feinsten Fasern meines Herzens, und verstärkt den Nachhall meines bittern
Bewußtseyns. Doch ich höre meinen Arzt, der unter mit wohnt, die Treppe
heraufsteigen. — Sein sterblicher Name
ist Sabathier. — Er fließe nie als
mit dankbarer Ehrfucht über meine Lippen! —
* * *
Eben ist der menschenfreundliche Mann von mir gegangen.
— Aber, welch ein schweres Verbot
ließ er mir nicht zurück! — „Was
schreiben Sie?“ — fragte er, nahm mir
das Blatt unter den Händen weg und las. Es ist das erstemal, daß ein strenges
Auge in mein Tagebuch blickt. —
„Nein,“ rief er, „in diesem Tone dürfen Sie nicht fortfahren. Sie müssen sich
durchaus des Gebrauchs Ihrer Feder noch einige Tage enthalten. Wenn es mir auch
nicht Ihr Puls verriethe, diese Zeilen würden es thun, daß sie noch krank sind.
Im ganzen Ernste, lieber Freund, muß ich Ihnen unter der gewissen Bedrohung
einer noch längeren Einkerkerung auflegen, Ihren überspannten Vorstellungen,
Ihren kostbaren Ausdrücken im Reden und Schreiben nach Möglichkeit entgegen zu
arbeiten.“ — „Und durch was, lieber
Doctor?“ fragte ich. — „Durch ein
Loth Fieberrinde, ehe Sie Ihren Spargel essen,“ antwortete er mir, „und durch
ein Glas Limonade bei Tische.“ — Und
so ging er. — Was will der Mann mit
diesem Recepte? Ich dächte, ich hätte nie hellere Vorstellungen gehabt, und
sie, seitdem ich schreiben kann, nie so deutlich und natürlich entwickelt, als
diesen Morgen. Doch, ich will nicht mit ihm streiten. Meine erste Tugend soll
seyn, wie bei einem Kinde — Gehorsam — der pünktlichste Gehorsam. Denn ehe ich
den Blick ins Freye und den Balsam der Lust noch länger entbehren möchte,
wollte ich lieber durch einen Eid ewig auf meine Feder Verzicht thun.
* * *
Den 15. Februar.
Zwei Tage und eilf Stunden bin ich armer Entkräfteter
mehr unter fremder als eigener Sorge für die Erhaltung meines schwankenden
Daseyns nun weiter gerückt, und ein stärkender Schlaf der vergangenen Nacht hat
mir viel gutes gethan. Er hat meinen Kopf so befestigt, daß ich ihn nicht mehr
zu stützen brauche, und hat mir, Gott sey Dank, die Erlaubniß meines Arztes
verschafft, dir wieder schreiben zu dürfen. Aber sieh nur, wie genau er es mit
mir nimmt. Hat er mich nicht, wie einen Anfänger, in die Gränzen einer einzigen
Blattseite eingezäunt, die ich, bey Verlust meiner Freylassung, nicht
überschreiten darf? Dafür ist er aber auch so gütig gewesen, den Raum der Zeit,
den er mir zu diesem süßen Geschäfte frey läßt, desto weiter auszudehnen, und
mir den ganzen vorliegenden langen Tag dazu auszusetzen. Sollte man aus dieser
Einrichtung nicht schließen, der gute Mann habe es nur darauf angelegt, dir zu
etwas recht scharft gedachtem und geistreichen zu verhelfen? Nichts weniger!
Gerade dagegen hat er die ernstlichsten Vorstellungen gemacht. Er will
durchaus, daß ich mein Papier mehr mit Worten als mit Gedanken füllen, und wenn
wider Verhoffen mit etwas in die Quere käme, das diesen Namen verdiente, ich
geschwind aufspringen und einen Kamm durch mein Haar ziehen möchte. — Hast du je gehört, Eduard, daß man bey
uns so eine Diät vorschreibt, oder haben unsere Aerzte bey ihren
Patienten von dieser Seite nichts zu besorgen? Zu einem Zwischenzeitvertreib
hat der Doctor Bastianen aufgegeben, mich mit meiner Krankengeschichte zu
unterhalten. Da sich meine Erinnerungskraft ganz verkrochen hat, so ist es mit
in der That lieb, von einem so nahen Zuschauer den Gang eines Drama´s zu
erfahren, in welchem ich die erste Rolle spielte, ohne es selbst zu wissen. Er
hätte, sagt er, gleich beym ersten Aufzuge sich nichts kluges von derselben
versprochen; denn er habe, als er in meine Kammer getreten sey, um mich zu
meiner malerischen Reise zu wecken, mich im Hemde an dem offenen Fenster
gefunden. — „Ich verbarg mein
Erstaunen, fuhr Bastian fort, und fragte, ob Sie Sich nicht ankleiden wollten? — In der heftigsten Bewegung antworteten
Sie: „Geh! kaufe mir einen Rock von Schnee gewebt und eine Mütze von Eis!“ — Es war die erste unpassende Rede, die ich
noch von Ihnen gehört hatte — denken
Sie, wie sie mich erschreckte! — Herr
Passerino, fing ich mit zitternder Stimme an, wartet schon seit einer Stunde in
dem Vorsaal, und die Postpferde = = = „Was?“ fielen Sie mir in das Wort, und
Ihre Augen flammten, „der Kerl ist aus Spandau entsprungen? Leg ihm gleich die
Fesseln an und übergieb ihn der Wache.“ —
Jetzt säumte ich nicht länger. — Ich
rief nach Hülfe durch das ganze Haus, stellte den Maler an die Treppe, um allen
Lärm abzuhalten, schickte den Hausknecht nach dem ersten Arzte, den er auftreiben
könnte, ließ Ihren Reisewagen anspannen, und lauerte endlich in der größten
Angst an der Hausthüre auf die Ankunft des Marktschreyers — Dieß ist kein Schimpfwort — es war sein eigentlicher Charakter, wie
es sich erst auswies, als es beynahe zu spät war. Er bezeigte eine herzliche
Freude Sie wieder zu sehen. — „Den
Herrn,“ sagte er mir gleich bey seinem Eintritte, „habe ich schon vor einigen
Monaten zu Bruchsal in der Cur gehabt. —
Mit seiner jetzigen Krankheit hoffe ich eben so bald fertig zu werden als
damals.“ — Wie froh war ich über den
glücklichen Zufall, der diesen Mann hierher brachte! Auch Sie schienen Sich
seiner zu erinnern, und ich mußte glauben, daß er in keinem geringen Ansehn bey
Ihnen stände; denn Sie folgten ihm auf den Wink. —
Er befahl Ihnen, das Fenster zuzumachen und sich zu Bette zu legen. Sie
gehorchten ohne Widerrede. — Jetzt
flog er zur Thür hinaus um selbst die Arzney zu holen, brachte sie, gab mir
eine gedruckte Anweisung zu ihrem Gebrauche, und flog wieder davon. Er
entschuldigte seine Eil mit öffentlichen Geschäften, die ihm oblägen, rieb sich
die Stirn, sprach von Aufopferung und Versäumniß, und als ich darauf
erwiederte, daß er sicher auf ein schönes Gratial rechnen könnte. — „Ach, ich weiß es, ich weiß es,“
antwortete er, ließ sich aber dennoch vor Abends nicht wieder sehen. Auf diese
Art setzte er seine Cur in Gang, und brachte Sie, trotz seiner seltenen
Besuche, mit jeder Stunde einen Schritt näher zum Grabe. Ich fürchtete Alles,
und doch beruhigte mich sein Geschwätz, und das Glück, auf das er sich immer
bezog, Sie schon einmal vom Tode gerettet zu haben. Es ist alles in seiner
Ordnung, antwortete er auf meine bedenklichsten Mienen. — Er war über nichts verlegen, hatte zu jedem neuen Symptom
auch schon ein Fläschchen in der Tasche, und so schien es am siebenten Morgen
ganz auch in seiner Ordnung zu seyn, daß er den Kopf schüttelte, die Achseln
zuckte, und zu stottern anfing, wenn ich ihn fragte. Jetzt erwachte mein
Mißtrauen in seiner ganzen Größe, und eben wollte ich in der Verzweiflung
meines Herzens den elenden Kerl zur Thüre hinaus stoßen, als sie sich öffnete,
und ein Mann von dem edelsten Ansehn herein —
vor Schrecken aber wieder zurück trat, sobald er Ihrer ansichtig ward. Zugleich
faßte er auch den Arzt in das Auge, und trat auf ihn zu. — „Ist das nicht,“ fragte er, „der Schreyer
von dem Pferdemarkte? — Freund, wie
kommt Er hierher?“ — „Man hat mich
rufen lassen,“ antwortete der Unverschämte, „aber zu spät. Ich bin übrigens ein
guter Bekannter von diesem Herrn —
habe ihm schon in Deutschland von einer schweren Krankheit geholfen — leider sind aber dießmal seine Umstände
zu gefährlich und ganz hoffnungslos, das muß ich sagen.“ — „Das soll ein Art beurtheilen, der es
versteht,“ versetzte der Fremde, „und im äußersten Falle auch die Polizey. — Dem Kranken keine Arzeneyen weiter bis
ich zurück komme,“ wendete er sich gegen mich und eilte davon. — „O, meine Mittel,“ setzte nun der
trotzige Kerl seine Rechtfertigung gegen mich fort, „werden jetzt weder schaden
noch helfen. — Den Wundermann möchte
ich sehen, der Seinen Herrn zu retten vermöchte. Die Krankheit selbst hätte
eigentlich nichts zu bedeuten. Ich habe den Prinzen von Rohan von einer
dergleichen befreyt, die noch heftiger war: aber bey einem Protestanten ist ihr
nicht beyzukommen; denn sein hitziges Fieber ist nur Folge seines bösen
Gewissens. Wäre Sein Herr von unserer Religion, so hätte dieser Umstand gerade
am wenigsten zu sagen. Der erste beste Mönch würde die Sache in einer
Viertelstunde geschlichtet haben; aber eine Seele mit Verbrechen beladen, auf
die kein Weihwasser, keine Monstanz, keine Madonna wirkt, entschlüpft oft dem
geschicktesten Arzte unter den Händen, und fährt zum Teufel, wenn auch der
Körper längst wieder in Ordnung gebracht ist —
und das ist hier der Fall.“ —
„Unmöglich,“ antwortete ich: „Thorheiten kann der arme Herr begangen haben, das
will ich zugeben; aber Verbrechen gewiß nicht. Ich bin seit dem Neujahrstage in
seinen Diensten und tagtäglich um ihn, und weiß doch auch, was Sünden sind;
aber ich müßte es lügen, wenn ich ihm die geringste nachsagen wollte.“ — „Mir darf Sein Herr so etwas nicht weiß
machen,“ versetzte der Zahnarzt; „ein hitziges Fieber ist gar ein plauderhaftes
Ding, und zum Glücke verstehe ich die beyden Sprachen, in denen Sein Herr
wechselweise irre redet. Ach, ich könnte Ihm das Verständniß wohl öffnen,
lieber Mann; aber was geht es mich an? Ich bin heilfroh, daß ich aus dem Spiel
komme. — Die Polizey? das ist zum
Lachen! Habe ich mich denn aufgedrungen? Hat mich denn mein alter Freund nicht
rufen lassen? Ohnehin breche ich morgen mein Theater ab — und ziehe weiter. —
Sorge er ja auch bey Zeiten für Sich, Herr Kammerdiener, und leb´ er wohl! — Meine Rechnung will ich jetzt gleich mit
dem Wirthe abmachen.“ — Für die
sollte der Esel von Hausknecht haften, der ihn geholt hat! rief ich ihm nach
und schlug die Thür hinter ihm zu.
Nicht lange nachher führte der Fremde den Arzt herein,
der Sie mit Gottes Hülfe bis hierher gebracht hat. Er fing seine Cur freylich
auch damit an, womit der erste die seinige endigte — mit Kopfschütteln; aber es dauerte nicht lange, so setzte er
Ihren ganzen Haushalt in Bewegung, und schickte zu gleicher Zeit in vier
Apotheken, damit kein Rettungsmittel über die Zubereitung des andern zu spät
käme. Ich mußte einen Chinatrank, der Prologus Spanische Fliegen, der Epilogus
ein Clystier, und Herr Passerino Blutigel holen. Während dem schrieb der Fremde
— „Aber wer ist denn der Mann,“
unterbrach ich hier meinen Bastian, „der sich meiner so freundschaftlich annahm?“
— „Das,“ antwortete er, „habe ich
nicht herausbringen können, weder von ihm selbst noch von dem Herrn Sabathier.“
— Er schrieb also, fuhr der Erzähler
fort, ein Briefchen an den Commendanten, das er durch den Wirth selbst
abschickte, und welches die gute Folge hatte, daß die Gasse mit Sand bestreut,
für die Wagen gesperrt, und der erschütternde Lärm von außen gedämpft wurde.
Nun setzte er sich mit trauriger Miene an Ihr Bette, und befahl, die
Ermüdetsten von uns sollten sich schlafen legen, damit wir Tag und Nacht im
Dienste abwechseln könnte. —
Weißt du wohl, Eduard, wen sich meine Einbildungskraft
bis hierher unter diesem für mich so besorgten Manne vostellte? Dich,
Theuerster, oder meinen Jerom. Konnte mir der Teufel, dachte ich, einen so
abscheulichen Bekannten als den Zahnbrecher nachschicken, um mich in die Hölle
zu treiben — warum sollte es nicht
meinem guten Genius eben so möglich gewesen seyn, mit einen Freund zu meiner
Rettung herbey zu führen? Freylich wär´ er beynahe zu spät gekommen; aber reißt
das Verderben nicht immer geschwinder als die Hülfe? Die Folge der Erzählung
meines Bastians benahm mir diese schöne Hoffnung auf einmal; denn, wie er mir
sagte, that der Fremde Fragen an ihn, die allein schon zeigen, wie unbekannt
ich ihm seyn müsse. Ich fuhr, zum Beyspiel, bald nach seiner Erscheinung mit
der Hand nach der Stirne, vermuthlich weil die Blasenflaster zu ziehen
anfingen, und rief ängstlich dabey: „O Margot, meine liebe Margot, binde mir
geschwind dein warmes Halstuch um“ —
und da glaubte der gute Mann, ich wäre verheurathet, und fragte, ob meine Frau
in der Nähe sey? — „Ach nein,“
antwortete Bastian weinend, „es ist meine Schwester, die ihm im Sinne liegt;
wollte doch Gott sie wäre hier!“ —
Eine Weile nachher schrie ich: „Heilige Clara von Falkenstein!“ — „Ich höre,“ sagte darauf der Unbekannte,
„daß der Kranke unseres Glaubens ist. —
Wie kommt es, daß ihm noch kein Mönch das Viatikum anbeut?“ — Ich rief heftig dazwischen, als ob ich
ihm das Gegentheil beweisen wollte: —
„Weg — weg von mir, abscheuliches
Geschöpf mit deinen höllischen Geistern und deinen Kreuzen!“ — Hier sah sich der Herr noch einmal nach
uns um, sagte Bastian. — Ich traute
mich nicht zu antworten, aber der Epilogus nahm das Wort. „Ach Gott,“ sagte
dieser, „das ist eine gar lange Geschichte. —
Die Clara, von der unser Kranker spricht, ist ein wunderschönes Mädchen zu
Avignon. — Kennen Sie etwa den Herrn
Dücliquet?“ — „Ich habe nicht die
Ehre,“ antwortete der Fremde. — „Nun
so wird es schwer werden,“ fuhr der Epilogus fort, „Ihnen die Sache
verständlich zu machen. So viel kann ich Ihnen sagen, daß dieses Mädchen die
Steine der heiligen Dreyfaltigkeit in sich tragen soll, die der katholischen
Kirche seit langer Zeit abhanden gekommen sind. —
Ob sie mein Herr bey ihr gesucht hat, weiß ich nicht gewiß, aber ich glaube = =
= “ — „Wie lange,“ unterbrach ihn der
Unbekannte, „ist er bey dem Herrn in Diensten?“ —
„Seit dem achten vorigen Monats,“ antwortete der unleidliche Schwätzer. „Vorher
war ich ein Puppenspieler, nachher Grenadier unter der Päpstlichen Garde, werde
aber jetzt im Hause der Epilogus genannt, und der Prologus ist mein Bruder.“ — „Ich dächte, mein Freund,“ versetzte der
Fremde ernsthaft, „er ginge schlafen. Er scheint es mir nöthiger zu haben als
ein anderer.“ Der Kerl ließ es sich nicht zweymal sagen, und ich, Eduard, bin
recht froh, daß er fort ist. Um Gottes willen, was muß sich mein unbekannter
Wohlthäter für einen Begriff von meiner Wirthschaft gemacht haben! Es ist ihm
wahrscheinlich nicht zu verdenken, daß er sich jetzt nicht weiter um mich
bekümmert. — Aber mein Blatt ist
leider zu Ende. Pünktlicher kann man wohl seinem Arzte nicht gehorchen; denn
wenn du dir nicht selbst Gedanken bey meiner Geschichte machst, von mir liegen
gewiß keine darin.
* * *
Den 16. Februar.
„Da haben Sie Recht!“ lächelte mich der herzensgute
Sabathier diesen Morgen an, nachdem er mein gestrigtes Blatt bis auf die letzte
Zeile durchgelesen hatte, „das hat Ihnen den Kopf schwerlich angegriffen. Wenn
Sie mir versprechen so fortzufahren, und daran Spaß finden, so erlaube ich
Ihnen heute ohne Bedenken einige Seiten mehr.“ —
So will ich mich denn an meinen eigenen Anekdoten auch
recht satt schreiben. Wenn diese nicht ächt ausfielen, so müßte keinem in der
Welt mehr zu trauen seyn, da hier die gewiß seltenen Umstände zusammen treffen,
daß der Held der Geschichte sie aus dem Munde eines Augenzeugen nachschreibt. — „Der Prologus,“ nahm Bastian den Faden
seines gestrigen Berichts auf, „trat jetzt an die Stelle seines zu Bette geschickten
Bruders, und der fremde Herr hielt sein erste Nachtwache an dem Ihrigen — ganz besonders glücklich für Sie: denn
gegen drey Uhr stiegen Ihre Phantasieen, die ohnehin räthselhaft genug waren,
so hoch, daß Sie aus Ihrem Französischen Jargon in den Deutschen fielen, den,
außer Ihrem vornehmen Wächter, niemand von uns verstand. Wie hätten wir mit
Ihrer Ungeduld zurecht kommen wollen? So forderten Sie einmal etwas mit der
ängstlichen Heftigkeit. Während wir nun aus gleichem Mißverständnisse, ich nach
Limonade und der Prologus nach dem Fliegenwedel liefen, hatte Ihnen der Fremde
schon gebracht, was Sie verlangten.“ —
„Und was war es denn, Bastian?“ fragte ich. —
„Also erinnern Sie Sich wohl gar nicht einmal, was Sie zerrissen haben?“ — „Ich weiß kein Wort davon.“ — „Nun so will ich nur wünschen, daß es Sie
hinterher nicht noch gereue. Es waren die vielen Hefte, die Sie gewöhnlich alle
Abende um einen oder zwey Bogen verstärkten, und die auf Ihrem Schreibetische
noch aufgehäuft beysammen lagen.“ —
„Mein Tagebuch, Bastian? das hätte ich zerrissen?“ „Ja wohl, mein lieber Herr,
in tausend kleine Stückchen. Die Arbeit schien Ihnen eine rechte Freude zu
machen. Der Fremde mußte Ihnen ein Heft nach dem andern zureichen. Sonderbar
war es, daß Sie die Anzahl davon auf das genaueste im Kopf hatten, ungeachtet
seiner großen Schwäche. Sie forderten den ersten, den zweyten, und so fort, und
wurden nicht eher ganz ruhig, bis auch der letzte vernichtet war, das Arabische
Manuscript ausgenommen, das Herr Passerino nebst seiner Abschrift bey mir
niedergelegt hat. Ich saß mittlerweile ganz still neben der Nachtlampe, und
dachte wehmüthig der vielen schönen Stunden nach, die ich Sie an diesen
unglücklichen Papieren mit einem Ernst hatte verschreiben sehen, als wenn Sie
für die Ewigkeit schrieben. Sie aber wendeten Sich, wie die Sache geschehen
war, mit dem heitersten Gesichte und in Französischer Sprache zu dem Fremden:
„Jetzt, Herr Procurator, thun Sie mir den Gefallen und befreyen mich von diesem
Plunder. — Tragen Sie ihn dort ins
Kamin — der Prologus soll ihn
anstecken.“ Als die Flamme aufloderte und die dunkle Stube bis an die Decke
erleuchtete, riefen Sie ein Bravo über das andere, und: „Sehen Sie nicht, Herr
Procurator,“ sagten Sie halb leise zu dem Herrn, „wie lustig die heiligen Engel
den brennenden Scheiterhaufen umflattern?“ —
Wohl gut, daß der Quacksalber der Execution Ihres Tagebuchs nicht mit
beiwohnte: er hätte sicher Ihr strenges Urtheil für eine Selbsthülfe Ihres
bösen Gewissens erklärt. Für eine wohlthätige Crise hielten wir es indeß alle;
denn Sie fielen gleich darauf, zum erstenmale seit acht Tagen, in Schlaf, und
athmeten so frey, als ob Ihnen eine drückende Last von dem Herzen genommen sey.
Auch ich begab mich zur Ruhe —
Passerino löste mich ab. — Als aber
der Tag anbrach, kam ich so neu gestärkt wieder auf meinen Posten, daß der
fremde Herr kein Bedenken fand, mir seinen Stuhl an Ihrem Bette einzuräumen,
und sich auf einige Stunden zu entfernen. Sie schliefen noch eine gute Weile
ununterbrochen fort. Aber ach! wie rührten Sie mich durch Ihre freundlichen
Phantasien, als Sie aufwachten! Sie hielten mich für meine Schwester. „Meine
gute Margot,“ wendeten Sie Sich in sanfter abgebrochener Stimme nach mir, „wie
freut mich dein lieber Besuch! O wie übel ist es mir die vielen Jahre seither
ergangen, seit ich von deinem Bette weg bin! —
Lebt denn mein treuer Johann noch? —
Nun das höre ich gern. Wie viel habt ihr Kinder? —
Deine Mädchen sind wohl sehr schön? Nimm sie um Gottes willen vor den
Domherren, vor den Pröpsten und vor den —
Mönchen in Acht — das — bitte ich dich. — Laß ihnen weder schreiben lernen, noch lesen; denn sonst
stänkern sie in allen Legenden. Sprich nie mit ihnen von Tugend, damit sie gar
nicht erfahren, daß es Laster giebt; sondern erziehe sie häuslich, reinlich,
fröhlich und ganz so, wie du warest, als ich dir deinen Strohhut aufsetzte. — Das versprich mir. Was aus deinem Bruder
geworden ist, mag Gott wissen. Hieß er nicht Bastian? Ich höre und sehe nichts
von ihm. Er hat mir etwas mitgenommen, das mir sehr werth war — dein liebes Gesichtchen. — Gott verzeihe es ihm! — Aber was ist dir denn begegnet, Margot?
warum weinst du? Hier nimm mein Schnupftuch —
trockne deine Thränen damit ab. Ich habe es nicht nöthig, denn in meine
brennenden Augen ist seit Jahr und Tag keine gekommen.“ — — Zu meinen
Glücke verfielen Sie hier in Ihren vorigen Schlummer, und ich bekam Zeit mich
zu erholen; denn jedes Wort Ihres Selbstgesprächs zerriß mir das Herz. — Obwohl meine gute Schwester es empfunden
haben mag, wie gegenwärtig Sie Ihnen war? Das möchte ich wissen. Nun verging
wieder eine volle Stunde, ehe Sie aufwachten, und es war eben die Zeit, daß Sie
einnehmen sollten. Ich reichte Ihnen die Tasse. Sie sahen mich bedächtig an. — Ach, bist du es, Bastian?“ sagten Sie
endlich. „Gut! Ziehe geschwind deine Livree an; ich muß dich nach Hofe
schicken. Du weißt doch, wo die Frau Oberhofmeisterin wohnt? Mache ihr meine
Empfehlung, und sage ihr in meinem Namen —
doch ließ ich um Verschwiegenheit bitten —
daß ihre so wohl erzogene, schöne, junge Prinzessin = = = “ Aber auf einmal
sprachen Sie wieder Deutsch, und Ihr Auftrag ging für mich verloren. — „Das thut mir leid, Bastian. Verstandest
du denn gar nichts davon?“ — „Nichts
als zwey Worte, die Sie einigemal wiederholten: Cabinet und Capelle.“ — —
Nun erinnerte ich mich der Phantasie in meinem verlorenen Tagebuche, die
unfehlbar (wie ist es möglich, daß ein solcher Schnack in einer ernsthaftesten
Krankheit einem wieder einfallen kann?) in meinem fieberhaften Gehirn eine
ähnliche erzeugte, die ich für wahr hielt; die du aber jetzt so wenig verstehen
würdest als Bastian, da meine Capelle und mein Bildercabinet für uns und die
ganze Welt verbrannt ist. — „Doch
erzähle Er nur weiter, Herr Kammerdiener. Was ging denn sonst noch mit mir vor?“
— „Etwas sehr Erwünschtes! Die
letzten Tropfen mußten mit Mohnsalz versetzt seyn, denn Sie schliefen unter dem
Reden ein und in Einem fort bis den Abend. Herr Sabathier besuchte Sie
inzwischen dreymal, ohne daß Sie ihn hörten; aber Ihr Puls und ihr hochrothes
Gesicht wollten ihm keinmal gefallen. —
„Es ist noch nicht der Schlaf, den ich wünsche,“ sagte er zu mir im Weggehen,
„und ich fürchte sehr für den neunten Tag.“ —
Ach er hatte nur zu wahr gesprochen; denn mit dem Eintritte desselben ward Ihr
Zustand immer furchtbarer, bis zum zwölften. Ihr unbekannter Wohlthäter verließ
Sie so wenig als Herr Passerino diese Zeit über einen Augenblick, und hatte
sich ein Feldbette neben dem Ihrigen aufschlagen lassen. Sie fielen aus einer
Phantasie in die andere. — Wenn Sie
sprachen, war Ihre Stimme laut, feyerlich und erhaben. Ihre Reden an Gott, die
Natur, und an Sich selbst hätten verdient aufgeschrieben zu werden, und kein
Regent würde die Strafpredigten, die Sie als Hofcapellan an einen der Deutschen
Fürsten zu richten schienen, ohne Erschütterung angehört haben. — Dieß waren —
nicht Bemerkungen von mir, sondern die Urtheile Ihres Arztes und des fremden
Herrn, die sich oft beyde über die hohen Wahrheiten wunderten, die in Ihren
Schwärmereyen lagen. Sobald Sie Sich aber zu den armen Mönchen und in unsere
Kirchen verirrten, da ward einem nicht wohl zu Muthe in Ihrer Nähe. Ich habe
oft Gott gebeten, Ihnen die Schmähungen nicht zuzurechnen, die Sie in der
Heftigkeit Ihres Wahnsinns gegen unsere geheiligte Religion ausstießen. — Einmal schrien Sie: „O des gottlosen
Papsts! seine glühenden Schlüssel leuchten mir vor auf dem Wege zur Hölle.“ — Dann und wann hatten Sie es mit der
Buhlerin zu thun. Dann hielten Sie gemeiniglich die Hände vor das Gesicht,
schluchzten und schlugen Sich vor die Stirn. Sie erschreckten uns oft
außerordentlich, besonders einmal den armen Passerino, der sich einfallen ließ,
Ihre feurigen Augen zu copiren — zu
seinen Studien, wie er sagte. Sie fuhren ihm so geschwind nach der Gurgel, daß
er kaum Zeit hatte, sich zu retten. —
„Elendes Schlachtvieh!“ riefen Sie mit durchdringender Stimme, „bücke dich
nieder, damit ich dich an dem Altare des Neptuns erwürge. Stümper aller
Stümper, wie konntest du die Größe der Natur so verkleinern? — Das tobende Meer liegt vor deinen Augen,
und du malst einen Sumpf. Dein Mond ist ein Irrwisch, und dein Aether grobfädig
und verschossen, wie dein Staatsrock. Gedenkst du mich auch, wie unsre arme
Angola in dem Gestanke deiner Farben zu ersticken? Du willst mich malen? Du?“ — „Ach, der arme Herr,“ seufzte Passerino,
welcher bejammernswürdige Zustand! Das war unstreitig der stärkste Paroxismus
seiner ganzen Krankheit. Am besten, ich schleiche mich weg, damit er meiner
nicht gewahr wird. Lassen Sie mir es sagen, wenn er wieder bey Verstande ist.“ — Er ging und kam auch wirklich nicht eher
wieder. — Ein andermal = = = doch wie
mag ich mich dabey aufhalten? Sie waren ja nicht bey Sich. — Ist das nicht mit einem Worte Alles
gesagt?“ — „Nein, nein, Bastian,
damit kommst du nicht los. Was meintest du?“ —
„Ein andermal also bekamen Sie einen heftigen Anfall über eine Kleinigkeit, die
wir vergessen hatten, bey Seite zu schaffen —
über die Klingel neben Ihrem Bette. —
„Gott Lob,“ sagten Sie, „daß ich die Quaste habe! Jetzt will ich schellen, daß
man es in Domingo hören soll.“ — Der
Wirth kam gelaufen und machte Vorstellungen dagegen. Es blieb uns nichts übrig,
um Ihnen den Einfall aus dem Kopfe zu bringen, als daß ich außen am Bette in
die Höhe stieg, und die Schnur vom Drahtzuge abschnitt. So phantasirten Sie
auch viel von Sparte, Athen und von dem Pontus Euxinus.“
Nun halt ein, Bastian, ich möchte noch gern einige
vernünftige Worte mit meinem Eduard allein sprechen, ehe mein Bogen zu Ende
geht. Das soll mir lieb seyn, höre ich dich sagen: denn was in aller Welt soll
ich mit deinem Fiebergeschwätz anfangen? —
O, hättest du nur mein Tagebuch gelesen, so wäre mir dafür nicht leid. Das
liegt nun freylich ganz in der Asche; indeß ist wenigstens durch dieses Blatt
das Register davon gerettet. Meine Phantasien sind, als abgerissene Fäden aus
dem Gewebe des Lebens, mir immer noch wichtig, und können mir zum Leitfaden
dienen, wenn du einst neugierig auf den Stoff werden solltest, den ich in der
Fremde verarbeitet habe — den Nutzen
ungerechnet, den diese Nachlese für mich hat. Keine moralische Betrachtung hat
mich je so aufmerksam auf die Irrthümer meines gesunden Gehirns gemacht, als
die Schwärmerey meines kranken, und kein Auszug aus den Schriften der
Weltweisen hat mir mehr Anlaß zum Nachdenken gegeben, als Bastians Auszug aus
meinem hitzigen Fieber. Wenn ich einmal, diese Bogen in der Hand, neben dir
sitzen und dir meine wahnsinnigen Reden commentiren werde; so wirst du so gut
einsehen als ich, warum unter den Gespenstern, die mein von Angstschweiß
triefendes Herz bis in den Abgrund des Grabes zu verfolgen schienen, die
einzige freundliche Erscheinung der guten Margot mein Blut besänftigte, und
kühlenden Balsam in meine Wunden goß. Ach! wie wurde nicht meine
Einbildungskraft durch jeden Tritt gefoltert, den ich mir erlaubt hatte neben
dem geraden Wege zu thun! Und doch hatten mich —
wie dir mein Commentar zeigen wird —
nur Zufall und Leichtsinn nicht weiter verlockt, als bis an den bedeckten
Schmutzgang des casuistischen Lehrgebäudes; und die Flecken lassen sich
allenfalls in einem reinen Brunnen noch abwaschen, die ich davon trug. Wie aber
muß erst einem Herzen in dem Augenblicke, wo es brechen will, zu Muthe seyn,
das, aus einem schlüpfrigen Irrwege in den andern verführt, mit immer berauschteren
Sinnen, bis in das Innere der Freystätte vorgedrungen ist, die in jener
unseligen Sittenlehre den scheußlichsten Verbrechen offen steht! In welchem
Vorgefühl der Verdammniß muß sich nicht eine Seele vor ihrem Hinüberschweben in
die Ewigkeit herumtreiben, wenn der annähernde Todesengel mit seinen Schwingen
die Nebel religiöser Täuschung und die Wolken des Weihrauchs zertheilt, die ihr
Bewußtsein umzogen! Wie gewaltig muß der Strom des Lichts den seiner Binde
entledigten Geist ergreifen, wenn nun die Gegenstände seines Glaubens hinter
dem schillernden Schleyer hervor treten, der ihre Häßlichkeit so lange verbarg!
Welch eine Uebersicht der schrecklichsten Wahrheiten! Blutqualm steigt ihm von
den Altären entgegen, auf denen Aberglaube, Religionshaß und Priesterstolz ihre
Schlachtopfer erwürgten. — Falsche
durch vorsetzlichen Selbstbetrug gerechtfertigte Eide zerreißen ihm das Ohr. — Manche dem Hohngelächter der Wollust
preis gegebene und nach den gotteslästerlichen Regeln der Entsündigung
ermordeten Unschuld wimmert zu seinen Füßen, und abgetriebene Kinder faulen
unter dem Lampenscheine des Götzenbildes, das ihm auf dem dunklen Hingange in
das Unabsehliche vorleuchten soll. —
Wird das In profundis
des Mönchs, der vor dem Bette des Kranken kniet —
wird das Weihwasser, das über seine heiße Stirn fließt — wird die letzte Oelung, die seine Schläfe salbet — die Schreckensbilder verscheuchen können,
die ihn umgaukeln? Wird der ganze Plunder der geheiligten Spielwerke, die jene
gewissenslose Schwärmer als Hülfsmittel zur Seligkeit ihren Anhängern feil
bieten, die Beängstigung eines Sterbenden zu lindern vermögen, der die reinen
Gefühle der Natur gegen so heillose Grundsätze vertauscht hat, die, wie Opium,
den Verstand in Träumereyen voll süßen Gifts, das Herz in tödtlichen Schlaf
verwickeln? — Doch es ist eine
glückliche Galgenfrist für die Herren, die damit wuchern, daß die angewiesenen
Gränzen meines Bogens mir Stillstand gebieten. Auch selbst mir ist es räthlich,
daß ich die Feder weglege, denn der Verdruß, den es mir verursacht, daß ich nur
die Waaren ihres Schleichhandels beschauen, und mich in gedankenloser
Verwegenheit ihren schädlichen Dünsten nähern mochte, treibt mir das Blut nach
dem Kopfe. Träte jetzt mein Arzt herein, er würde es nur zu gewiß an meinem Pulse
merken, wie nahe ich daran war, den Vertrag zu verletzen, der unter uns beyden
besteht.
* * *
den 17. Februar.
O daß sich mir in diesem Augenblicke, da ich mich
hinsetze, um dir den ersten Festtag meiner Freylassung zu schildern, der fromme
Unbekannte darstellte, dem ich die Rückkehr in das Leben verdanke! Ach warum
zögert er? — Ich bin ja wieder stark
genug zu erhabenen Empfindungen, und habe heute davon die vollständigste Probe
gegeben. Wenn es, wie mich mein Arzt vermuthen läßt, ein edler Mann von hohem
menschlichen Gefühl ist, den ein Gelübde bindet, Kranken beyzustehn,
Nothleidenden zu helfen, so sollte er ja wissen, wie lästig einem guten Herzen
Wohlthaten werden, die sich unserm Händedrucke, unsern Umarmungen entziehen. — Er komme, er komme! Und wenn es ein Mönch
wäre, ich wollte ihm für das verdienstliche Werk, das er an mir Armen
verrichtet hat, zu Füßen fallen und seine Kutte mit Ehrfurcht berühren. —
* * *
Mein trefflicher Arzt besuchte mich diesen Morgen
eine Stunde früher als gewöhnlich, war, wie es schien, mit meinem Pulse und
meinen Augen zufrieden, und nachdem er auch in meiner gestrigen Schreiberey
nichts zu tadeln fand, sprach er mir mit der Stimme eines Engels zu: „Ihr
Erntentag ist gekommen, lieber Freund. Genießen Sie von nun an der Früchte,
die in den schwülen Stunden Ihrer Krankheit greift sind — aber genießen Sie solche mit der Behutsamkeit eines
vernünftigen Wesens. Dieser Rath gehört so gut zu meiner Gerichtsbarkeit, als
Körper und Seele zu dem Gebäude gehören, das unsere beschränkte Kunst in Bau
und Besserung erhalten, vor feindseligen Erschütterungen schützen, und vor
seinem zu frühen Einsturze bewahren soll. Folgen Sie, um der mißlichen Hülfe
der Kunst zu entbehren — nur den
mütterlichen Anweisungen der Natur“ —
„Das,“ fiel ich ihm in die Rede, „hat mir schon ein anderer großer Arzt
gerathen, der Jerom heißt.“ — „Aber
wohl zu merken,“ fuhr er fort, „der schönen Natur.“ — „Diesen Beysatz“ erwiederte ich, „hat Jerom vergessen. — „Desto schlimmer,“ antwortete der brave
Mann; „ohne diesen ist der ganze Rath nicht viel werth, und giebt in
unbewachten Stunden zu großen Mißdeutungen Anlaß. — Doch ich bin ja nicht hergekommen, um Ihre vorigen Aerzte zu
mustern, sondern Ihnen noch eine Arzney zu verschreiben, deren erste Wirkung
ich noch abwarten will, ehe ich Sie ganz entlasse.“ — „Was für eine?“ fragte ich erschrocken. Aber kaum antwortete
er: „Die frische stärkende Luft“ — so
lag ich mit Freudenthränen an seinem Halse —
flog ich von ihm nach dem Fenster, nach meinem Hute, nach meinem Mantel — so winkte ich Bastianen, mir meine
Latwergenbüchsen und Pulverschachteln aus den Augen zu schaffen — so war ich in einer Minute gekleidet und
fertig, um meinem Befreyer zu folgen. Er schien selbst von dem Strudel meines
Entzückens ergriffen zu werden. —
„Kommen Sie,“ rief er mir zu, „wir wollen den reinen Aether zu Wasser, zu Lande
— und überall aufsuchen, wo er sein
Spiel hat.“
Heute also, den 17. Februar Morgens drey Viertel auf
neun Uhr, war es, wo ich an dem Arme des besten und edelsten aller Aerzte,
neugeboren an Leib und Seele, meine Marterkammer verließ. Alle meine Nerven
bebten wie die Saiten einer Aeolsharfe, als ich in den Wagen meines Apollo
stieg. — Aber in welcher Harmonie
stimmten sie nicht erst zusammen, als wir in dem Hafen ausstiegen! So
unglaublich groß hatte ich mir den Gewinn meiner Krankheit nicht vorgestellt,
als er jetzt meinen offenen neu geschärften Sinnen zu-strömte. — Mein erster Hinblick in das Freye setzte
mich in das wollüstige Erstaunen eines Blindgebornen, der unter der
Beleuchtung der Morgensonne, umgeben von dem Kreise blühender Mädchen, in dem
ersten Erwachen des Jünglingsalters, den Gebrauch seines Gesichts erlangt. Alle
diese glücklichen Umstände müssen bey ihm zusammen treffen, wenn ich mich
herablassen soll, den Umfang meiner Empfindungen mit den seinigen zu
vergleichen. Begreife es, Eduard, wenn du kannst. Der Winter war während meiner
Gefangenschaft, ohne daß ich seinen Abzug nur von weitem geahndet hatte. in
den schönsten Frühling übergegangen, der mich jetzt in seinem ganzen Schmuck
empfing — die damals kahlen
Gesträuche der stürmischen Küste zogen sich jetzt, wie ein Kranz von
Sprößlingen geflochten, um das sanft glänzende Meer herum — mancher Baum, den ich bey meinem letzten
Frühstück als das Geripp eines erfrornen Unbekannten, meiner Blicke nicht
werth hielt, begrüßte mich jetzt wie einen alten Freund, als Palme — Lorber —
Cytisus oder Sumack — die vergilbten
runzligen Hügel hatten sich die Zeit über, wo ich dem Verdorren so nahe war,
mit frischem Rasen bekleidet, und selbst der Felsen der Madonna spielte ins
Grünliche. — Nur an den widrigen
Bastiden bemerkte ich nicht die kleinste Veränderung; sie blickten aus ihrer
hohen Ferne noch immer so albern, so vornehm, so versteinert herunter, wie
vormals. In jedem kleinen Matrosengärtchen hingegen, über dessen Schilfzaun ich
wegsehen konnte, jagten schon halb nackende Kinder unter blühenden Mandelbäumen
nach Schmetterlingen und Käfern — und
das Gedränge der Blumen aus der lockeren Erde, und das Zwitschern der Vögel um
und neben mir, und der Wiederschein des azurnen Gezeltes, das so viele Freuden
bedeckte — wie fühlbar machte mir nicht dieses herrliche Ganze das schwer
errungene Bewußtseyn eines neu angehenden Lebens. Ich glaubte nicht eher, daß
noch etwas die süße Behaglichkeit meines Gefühls vermehren könnte, als da mich
die freundliche Gondel aufnahm, in welcher Sabathier ein paar Plätze für uns
besprochen hatte. Eine Luft, kaum stark genug um einen Schmerlenbach zu
kreiseln, spielte über die schillernde Fläche des Meers; die Inseln Pomegue
auf der einen Seite, Ratonneau auf der andern, in der Mitte das Schloß If, auf
welches wir zusteuerten, lagen duftend vor uns, wie auf einem Gemälde von
Zeemann. Dieses lachende Ziel unserer Spazierfahrt zog so sehr meine Blicke an
sich, daß ich beynahe einen Unglücklichen übersehen hätte, der zu einer ganz
andern Bestimmung, unter der Bewachung einiger Soldaten, mit mir zugleich in
das Boot stieg.
Es war der Sohn eines reichen Kaufmanns — ein junger Wüstling, den vielleicht auch
ein hitziges Fieber zur rechten Stunde dem Sturm entrissen hätte, der ihn jetzt
aus den Festtagen des Frühlings in die schreckliche Stille eines öden Thurmes
verschlug. Wie verschieden wirkten nicht hier die Reitze der Natur auf zwey
verbrüderte Wesen! Während ich mit freundlichen Augen die spielenden Wellen
verfolgte, die das Schiffchen sanft hoben und senkten, während ich mich in den
süßesten Träumereyen wiegte, saß der von seinem Gewissen gefolterte Jüngling,
mürrisch und menschenscheu, in der fernsten Ecke der Barke, warf dann und wann
einen finstern Blick auf das plätschernde Ruder, das ihn mit jeder Minute
seiner Bestrafung näher brachte, nahm keinen Antheil an unsern Gesprächen, und
schien, wenn er mich ansah, selbst dem Mitleiden zu fluchen, das sich für ihn
dann und wann mit meinem Frohsinne vermischte. Ach er schien nur in dem Verlust
seiner Freyheit den Verlust ihres Mißbrauchs zu fühlen, und nur an die bunten
Karten, an die feilen Dirnen und an die wilden Gelage zu denken, denen er
einen ganzen lustigen Sommer hindurch entsagen sollte. Seine glückliche Bildung
war durch Ausschweifungen entstellt, und noch zeigte sich keine Spur von Reue,
Trost, oder männlichem Entschlusse zur Tugend in seinen funkelnden Blicken. O
möchte er doch, durch Ruhe, Einsamkeit, mäßige Kost und durch bittere
Erfahrung geläutert, mit gesunderm Blute und bessern Neigungen in einen
weiseren Wirkungskreis zurück treten, als er heute zu verlassen gezwungen wird.
Mit diesem stillen bänglichen Wunsch begleiteten meine Augen den armen
Verzweifelten bis an den Eingang seiner düstern Behausung, wohin ihn seine
Wache sogleich abführte, als wir angelandet waren. Diese Absonderung von dem
Lebendigen — diese Versetzung eines meiner Mitgeschöpfe, aus den Sinnlichkeiten
einer blühenden Handelsstadt in die Felsenburg, in die Vergessenheit, in die
Nebel eines stürmischen Eilandes —
diese tragischen Bilder, die sich mir hier, als Augenzeugen, in ihrer ganzen
fürchterlichen Wahrheit darstellten, würden nur zu gewiß alle frohen
Empfindungen aus meiner Seele verscheucht haben, wäre nicht der glücklichste
Zufall, der mir nur begegnen konnte, dazwischen getreten.
Aus dem Trupp einiger Officiere, die sich von der
Festung her der Barke näherten, drängte sich einer unter wiederholtem Ausruf
meines Namens auf mich zu, und ich lag in seinen Armen, ehe ich noch begreifen
konnte, wer es wohl seyn möchte. —
Aber wie beschreib' ich dir mein Glück, als ich ihn erkannte! Es war einer der
schätzbarsten Menschen, die ich je geliebt habe —
der Marquis von Saint-Sauveur, der vor neun Jahren zu Berlin alle Zirkel
belebte, in die er eintrat. Damals war er auf Reisen. Jetzt steht er als
Brigadier unter dem Regimente, das zu Marseille liegt, und würde mir keinen
Augenblick fremd vorgekommen seyn, wenn ich mir ihn unter einer Uniform gedacht
hätte. Wie schnell verlosch das Trauerbild des Gefangenen vor seiner
himmlischen Erscheinung! Die Gewalt des reinsten Vergnügens bemächtigte sich
meiner Seele, und der auffallende Beweis, den mir hier ein Jugendfreund gab,
daß weder Zeit noch Krankheit die Physiognomie zerstört hatte, die mir zuerst
sein Zutrauen erwarb, setzte mich in eine Selbstzufriedenheit, die ich diesen
Morgen vor meinem Spiegel nimmermehr erwarten konnte. Es ist mir noch ein
Räthsel, und wäre mir viel begreiflicher gewesen, wenn er mich für einen andern
genommen, wenn ihn meine skeletirte Figur, mein Anlanden an diese Insel der
Buße, und die verdächtige Bangigkeit irre geführt hätten, der ich mich niemals
in der Nähe eines Zuchthauses erwehren kann. Am wenigsten konnte ich es in
diesem Augenblicke, wo ich ein Chor Officiere auf mich zukommen und einen aus
ihrem Kreise heraus stürzen sah, der mich umarmte. Dieser jählinge Uebergang
von Erschrecken zum Entzücken konnte nicht wohl ohne Erschütterung des Herzens
abgehen. Ich fühlte, daß ich der glücklichste Mensch sey, den dieser Felsen
wohl seit seiner Erschaffung getragen; aber ich war nicht vermögend, es auszudrücken
— ich konnte aus beyden Sprachen nur
Ausrufungen der Freude zusammen bringen, meine Zunge sträubte sich gegen jedes
andere Wort. So wankte ich an dem Arme meines Freundes auf und ab an dem
Gestade, bis uns der Bootsmann zurief, daß alles zur Abfahrt bereit sey. Der
muntere, schwatzhafte freundliche Mann gehörte mir bis zum Austritte aus der
Gondel allein zu. Ich war neidisch auf jeden Laut von ihm, den ein anderer
vernahm, sah niemanden als ihn, und würde ihm auf dem Fuße gefolgt seyn, hätte
auch seine gastfreye Einladung mich und meinen Aufseher nicht schon dazu
berechtigt. Das prächtigste Haus, auf dem schönsten Platze der Stadt, empfing
uns in dem reitzendsten Zimmer. Hier legten sich endlich meine innern Wellen — hier in diesem kleinen Zirkel ward ich
mir erst selbst und meinem Freunde verständlich, und hier nahm ich an seiner
Seite und unter den Augen meines trefflichen Arztes ein Mittagsmahl ein, das
auch den Unzufriedensten mit dem Gange der Welt versöhnt haben würde. Doch ehe
ich weiter erzähle, muß ich dir wohl den Mann genauer kennen lernen, den ich
mit allem meinem Verstande in der weiten Welt nicht besser hätte auftreiben
können, um das Fest meiner Wiedergenesung zu feyern. Ich würde meine
unvollkommene Schilderung freylich ersparen können, wenn du nur vier Wochen seines
Umganges froh geworden wärest; aber Gier nach Kenntnissen des Auslandes, die
ihn nach Deutschland verschlug, hatte dich um dieselbe Zeit nach Frankreich
getrieben, und du kamst mit dem erbeuteten Honig aus seiner Heimat zurück,
als er mit dem Salze aus der unsern wieder abzog. So trifft es sich oft in dem
geistigen Tauschhandel wie in dem bürgerlichen, daß zufällig die vornehmsten
Händler en gros einander aus dem Wege fahren, und darüber den kleinen Krämern
gut Spiel geben. Ich gewann offenbar durch deine Abwesenheit. Da du fehltest,
mußte er sich wohl mit meines Gleichen begnügen. Er kam von ungefähr mit mir
unter Einem Dache zu wohnen. Unsre nahe Nachbarschaft ging geschwind in eine
Gemeinschaft unsrer Vergnügungen, unsrer Studien, und zuletzt in eine
gegenseitige Anhänglichkeit über, die zehn Monate nachher, als wir uns
trennten, eine Traurigkeit bey mir zurück ließ, die mich selbst in der ersten
Zeit zu deinem Umgange verstimmte. Erinnere dich dieses Umstandes, lieber
Eduard! Ich kann dir keinen stärkern Beweis von dem Werthe dieses damals so liebenswürdigen
Jünglings geben, der jetzt als der gebildetste Mann über viele meiner Freunde,
und als der glücklichste über sie alle hervorragt. Reisen, Menschen- und
Weltkenntniß, und die Leichtigkeit, bey seinem großen Vermögen jeden Wunsch der
Sinnlichkeit zu befriedigen, und durch täglich wiederholte Versuche die
Hungerquelle des Vergnügens zu erschöpfen, würden ihn so gut als die meisten
in seiner fürstlichen Lage zu dem spätern Genusse des Lebens abgestumpft und
verdorben haben, wäre sein origineller Verstand und sein richtiges Gefühl nicht
in Zeiten diesen gemeinen Folgen eines zu frühen Wohlstandes zuvorgekommen.
Doch du sollst ihn selbst hierüber mit mir sprechen hören.
Wie viel, sagte er, hat man nicht Lehrgebäude zur
Beförderung menschlicher Glückseligkeit aufgeführt, besonders in deinem sinnreichen
Vaterlande, lieber Wilhelm! Sie können im Allgemeinen recht gut seyn; aber es
gehören manchmal verdammt subtile Wendungen dazu, um sie uns anzupassen.
Jedermann sollte nach seiner individuellen Lage und Empfindung sein eigenes
für sich haben. Ich habe mir eins erdacht, das mir recht wohl bekommt, wovon
ich aber sehr wenig brauchen könnte, wenn ich zum Beyspiele in einem Bergwerke
arbeiten, und die Ausbeute erst zu Tage fördern müßte, die ich ungesucht und
schon von meiner Geburt an besitze. Mein Reichthum, zu groß für das gewöhnliche
Leben, wäre mir, wie andern, zur Last geworden, hätte ich ihm nicht einen
Ausweg verschafft, den ich einzig meiner Eigenheit angemessen fand, die,
lieber Wilhelm, besonders darin besteht, daß mir nichts in der Welt behagen
will, was den Reitz der Neuheit bey mir verloren hat. Die ganze Masse der moralischen
und sinnlichen Freuden lag vor mir; aber bey keiner konnte ich den
enthusiastischen Eindruck wieder erringen, durch den ihre erste Bekanntschaft
meine Organe so unendlich beseligt hatte. In dem stolzen Nil admirari der
Philosophen entdeckte ich einen hohlen widrigen Schall, aber nichts weniger
als einen Ersatz. Mein Leben mußte immer abschmeckender werden, je länger es
dauerte. Wie sollte ich den Nachtheil der Erfahrung von ihm entfernen? Wodurch
sollte ich das störende Gefühl, das mir bey jedem Genuß in den Weg trat, vertreiben?
Das waren die schweren Fragen, die ich mir unaufhörlich vorlegte. Ich versuchte
alle Hülfsmittel, die mir Kunst und Natur anboten, durchkroch alle Systeme.
Endlich blieb ich bey einem stehen, das mir noch am besten zuschlug — bey dem, wie ich es benamen möchte, der
Ueberraschung. Hier findet sich gleich eine gute Gelegenheit, es dir in seinen
Grundtheilen zu entwickeln. Dieser Teller mit Pfirsichen, den man eben
aufsetzt, diese unerwartete Erscheinung in der jetzigen Jahreszeit, die unsern
Augen auf das freundlichste zuwinkt, und, so satt wir sind, dennoch den Mund
voll Wasser drängt, soll hoffentlich meiner Demonstration leichten Eingang bey
dir verschaffen. Wie mein Koch angewiesen ist, lieber Wilhelm, nicht nur die
gewöhnlichen Gerichte für den Hunger durch neue Brühen zu erhöhen, sondern
jeden Mittag unter meinen Schüsseln wenigstens Eine einzureichen, die für die
Sinne von gleichem Werth ist als diese, ohne sie mir erst durch einen
Küchenzettel anzukündigen — so ist
jedes, dem ein Geschäft in meiner Haushaltung obliegt, dahin verpflichtet,
seinen Herrn vor dem Anblicke des ewigen Einerleys zu schützen, und gegen die
Ermüdung zu arbeiten, die in der Einförmigkeit liegt. Es ist oft zum
Verwundern, wie gut es meinen Provinsalen in ihrem Wettstreite gelingt, mir
durch immer veränderte Decorationen das Spiel des Lebens nicht nur erträglich,
sondern auch angenehm zu machen. Die Abwechselung, die sie mir verschaffen,
wirkt auf ihren Dienst selbst zurück, dem seine Zwanglosigkeit alles
Mechanische und Unterwürfige benimmt. Sie dienen mir mit einem stolzen
glücklichen Bewußtseyn; denn sie halten sich nicht für Maschinen, sondern für
Erfinder, und sie haben Recht. Freylich erfordert diese Einrichtung
betriebsamere Schwungräder, gespanntere Federn, als die gewöhnlich das rostige
Uhrwerk eines kleinen Deutschen Hofs im Gange erhalten — das jeder Stunde des Tags, jedem Tage des Jahrs dieselbe
Langeweile in demselben Anstande vorzeichnet, wie sie hundert Jahre
hinter einander dem Ahnherrn und dem Enkel in derselben Minute vortrat — die oft den armen Fürsten, dessen
Regierungsperiode sich eben abwindet, in einen solchen ekeln, erschlafften und
ungeduldigen Zustand versetzt, daß er seinen Stand und sein Daseyn verflucht,
und lieber, wie Nero, seine Residenz anzünden möchte, um nur etwas Neues zu
sehen, etwas anders zu fühlen, als ihm das Furierbuch für den gegenwärtigen Augenblick
vorschreibt. Ich habe es den Romanschreibern abgelernt, welcher Zauber in dem
Unerwarteten liegt, und welche widrige Wirkung die Episoden thun, die man viele
Blätter voraus sieht. Wird nicht oft der kleinste Garten durch eine verständige
Benutzung seiner geringen Fläche unendlich erweitert, und durch schlängelnde
Nebenwege nach verschiedenen Aussichten so in die Länge gezogen, daß sich eine
so süße Ermüdung darin erholen läßt, als in den größten Anlagen? Warum sollten
wir denn nicht auf gleiche Art Mannigfaltigkeit in unser beschränktes Leben zu
bringen, und die kurze Dauer desselben, ohne Zuthun der Langenweile, durch
einen desto reichhaltigern Genuß zu verlängern vermögend seyn? Du findest mein
Zimmer hoffentlich schön, behaglich und freundlich? Ich auch. Und warum? Weil
es uns beyden gleich neu ist. Ich befinde mich wohl darin, weil ich es gestern
nicht sah und morgen nicht sehen werde. Es stoßen ihrer fünfzehn an einander,
davon ich jedes nur einen Tag hinwärts, einen Tag herwärts, auf einem
monatlichen Durchzug bewohne. Keines wird eher geöffnet, als bis die Reihe
daran kommt, und jedes, das ich auf diese Weise zweymal gesehen habe, erwartet
mich in dem folgenden Monat unter einer andern Bekleidung. So wird dem
Ueberdrusse keine Zeit gelassen, sich bey mir einzunisten. Nichts ist, Gott
sey Dank, mein eigen, als mein Reichthum, dem ich, durch die Ausdehnung, die
ich ihm mit meinen Gehülfen zu geben weiß, alles das Lästige und Klebende
benehme, das sonst mit ihm verbunden ist. So habe ich keine Bibliothek; aber
einen gelehrten und geschmackvollen Bibliothekar, der das Gold, das er in dem
Kothe der Schriftsteller findet, für mich bey Seite legt, und wo nicht ein Buch
ganz gelesen zu werden verdient, —
und wie wenig sind deren! — mir bloß
die Stellen anstreicht, die sich auszeichnen. Hierdurch sind meine Studien mir
erst lieb und nützlich geworden; und da ich sonach das Schlechte und
Mittelmäßige in der Litteratur gar nicht kennen lerne, bleibt mir die Wahl nur
unter dem Neuen, Guten und Vortrefflichen, und ich bin sicher mein Gedächtniß
nicht zu überladen. Eben so wenig kommt meine Einbildungskraft, die nur über
frisch duftende Blumen gleitet, in Gefahr durch abgestorbene, welke oder faule
Blätter in ihrem Schwunge gehemmt zu werden. Was noch das beste dabey ist, so
trage ich weder Brustschmerzen, Kopf= und Augenweh, oder üble Launen aus der
moralischen Welt in meine physische über; und da ich in dieser wie ein Seefisch
in immer frischem Wasser auf dem Ocean der Zeit schwimme, und mich, kraft
meiner Richtung, keine Welle berührt, die der vorhergehenden gleicht, so
siehst du wohl ein, lieber Wilhelm, daß vielleicht kein philosophisches
Lehrgebäude dem Gefühl, das die Natur in mich legte, den Verhältnissen, in die
mich der Zufall versetzte, und der geistigen und körperlichen Gesundheit
angemessener seyn kann, als das meinige. Keines schmiegt und biegt sich mit
minderm Zwange nach der Veränderlichkeit unserer Natur, nach der Wandelbarkeit
menschlicher Freuden und Güter, von denen nichts unter der Sonne selbständig
ist und alle Reitze der Neuheit behält, als die Tugend — nichts an Gehalt und Seltenheit zunimmt, je älter es wird,
als die Freundschaft. — Aber daß auch
selbst diese noch durch mein System gewinnt, hat mich heute dein überraschender
Anblick gelehrt. Wie geschmückt und bevölkert schien mir in dem Augenblicke
unserer Umarmung der nackende Felsen, der uns nach einer langen Trennung wieder
vereinigte! — Wie erweiterte sich
selbst vor meinen umfassenden Augen das Meer, das uns umgab, und welch ein
Freudenfest ist aus meinem Mittage geworden, durch die Sonderbarkeit, daß du — mein Gast bist! O bleibe nur so lange,
als du mir neu und lieb seyn wirst —
fechte in meinem ewigen Krieg gegen die Langeweile an meiner Seite, und lerne
von mir die mancherley Schwenkungen und Wendungen, — um als Militär zu sprechen —
durch die ich meinen Feind irre mache und in die Flucht jage. Welchen Abbruch
thust du ihm schon durch deine Gegenwart! —
Jedes Vergnügen, das sich in diesem Lande aufstören läßt, hätte ich es auch
noch so oft genossen, wird mir durch deine Theilnahme neu werden: denn die
Ueberraschung, die es bey mir verlor, werde ich in der wiederfinden, die
es dir verursacht.“ — Hier unterbrach
ihn ein Glas Maderawein, der dreymal die Linie passirt, und nur seit gestern
in seinem Keller gelandet war, nach der Versicherung des Mundschenken, der es
ihm brachte.
Ich benutzte geschwind den Augenblick, den seine
schwatzhafte Zunge der meinigen frey ließ. —
„O Freund,“ rief ich, „bey allen den fein gesponnenen Netzen, die du überall
ausgestellt hast, um die flüchtigen Lebensfreuden einzufangen, bey aller der
Kunst, mit der du ihre Schmetterlingsflügel zu fassen verstehst, ohne daß sich
ein buntes Stäubchen davon verliere, glaube ich doch für ihren höchsten Genuß
ein Mittel entdeckt zu haben, das weit über die deinigen geht — das dem erschlafftesten Gefühl seine
Schnellkraft, den abgenutztesten Befriedigungen ihren ersten Firniß
wiedergiebt, alles verjüngt, erneuert und verschönert, was unsere Sinne
umfassen, und gleich einem Talismann über die gleichgültigsten Dinge ein magisches
Licht verbreitet. — Sie lachen,
lieber Sabathier, als hörten Sie ein paar Charlatans, deren jeder den Vorzug
seines Arkanums gegen den andern heraus streicht, aber ich hoffe, sie sollen
als unparteyischer Richter dem meinigen den Preis zuerkennen. — Erschrick nur nicht, lieber
Saint-Sauveur, wenn ich es nenne. —
Es heißt mit Einem Worte: das hitzige Fieber. Wie hat es meine geistigen
Federn gespannt, und die fünf Schwungräder meiner Sinne geschärft! Von dem Bissen
trockenen Brodes an bis zu deinen herrlichen Pfirsichen, ist mir alles, was über
meine Zunge geht, willkommen und schmackhaft. Die Welt scheint mir so
frischfarbig und kräftig, als feyerte sie heute ihren ersten Schöpfüngstag. Was
meine Blicke berühren, schwimmt in einem ätherischen Schimmer, und jedes Wort,
das mein Ohr erreicht, jedes, das über meine Lippen rieselt, — wäre es auch noch so albern — kommt mir, als ein Beweis, daß ich lebe,
überaus wohlklingend und witzig vor. Du weißt es, theuerster Saint=Sauveur, wie
lange ich Dich liebe; aber selbst meine Freundschaft seit ihrer Entstehung
reicht nicht an das dem warmen Herzen entströmende Gefühl, das mich jetzt an
dich fesselt. Wie segne ich meine Krankheit! Sie hat das staubige Triebwerk
meiner Seele gereinigt, meine Adern mit Rosenöl ausgespritzt und meine Nerven
= = =
„Lassen Sie uns aufstehen, Herr von Saint-Sauveur,“
fiel mir hier der Arzt in meine wohlklingende Rede, indem er mir das Glas, das
ich zu leeren im Begriff war, unter dem Vorwande, über den ich mir noch eine
Erklärung von ihm ausbitten möchte, aus der Hand nahm: „Der Wein würde Gift
werden, wenn er zum viertenmal die Linie passirte. — Ich dächte,“ fuhr er fort und sah nach der Uhr, „wir besuchten
den Hafen. In einer halben Stunde wird ein Schiff vom Stapel gelassen; ein
Schauspiel, das Ihrem Berliner Freunde seltener wohl ist als jedes andere, und
ihn zu einem gesündern Schlafe vorbereiten wird, als der Tri=Madera.“ — Sein medicinischer Vorschlag wurde so
geschwind angenommen als ausgeführt: denn in diesem Hause braucht man nicht
auf das Anspannen des Wagens zu warten.
Möchte doch der Traum meines Lebens und mein neues
Tagebuch nie andere Stunden enthalten, als mir heute zu Theil wurden! Welch ein
herzerhebender Anblick für einen, der kaum aus seinem einsamen, sonnenlosen
Kerker getreten war, als wir in den Hafen ankamen - als meine heitern Augen
über den gedrängten Zirkel fröhlichmüßiger Zuschauer hinblickte, der jene
fleißigen Männer umgab, die in voller Anstrengung ihrer Riesenkräfte das stolze
Gebäude aus seinem Schwerpunkte von dem Boden zu heben suchten, auf dem es
errichtet war, um es auf kreischenden Walzen in das Meer zu rollen! Bey dem
Werft stiegen wir aus. — Indem wir
uns dem neu erbauten Schiffe näherten, machte mich Saint=Sauveur besonders auf
das Verdeck aufmerksam, das mit einer Menge Neugieriger besetzt war, die schon
Stunden lang auf den Augenblick lauerten, der die Masse in einen blitzschnellen
Schwung setzen und einem andern Elemente übergeben würde. — „Dort,“ sagte er lächelnd, „ist eine Empfindung
zu holen, die dir noch fremd und auf das sonderbarste angenehm ist, wie das
schon die Menge schließen läßt, die Geld und Zeit dafür hingiebt.“ — Ich sah mich ungewiß nach dem Arzte um. — „O,“ sagte dieser, „ich habe gar nichts
dawider. Es ist der unschuldigste mechanische Versuch mit sich selbst, den ich
kenne, und zugleich ein stärkendes Luftbad. Wenn nur Ein Blutkügelchen, das in
Ihrer Lunge stockt, mit dem Schiffe zugleich flott wird, so trägt es Ihnen
vielleicht mehr ein, als dem Eigenthümer, der es nach China schickt. Gehen
Sie. Ehe es dahin segelt, wollen wir Sie schon wieder abgeholt haben.“
Ich that mir heute, wie ein lebhaftes Kind, dem man das
Gängelband abnimmt, so viel auf die kleinste Bewegung zu gute, daß ich zwar
herzhaft die Strickleiter ergriff, aber nach dem ersten Tritte auf dieser
schwankenden Stiege alle Mühe hatte, mich bey Muth zu erhalten. Steigst du
doch, sagte ich spöttisch zu mir, so scheu und zitternd deiner Neugier nach,
wie ein unerfahrenes Mädchen in das Brautbette. Zufällig kam ich auf dem
Verdeck neben einem zu stehen, das jung und reitzend genug war, um meinen
unbedeutenden Einfall erst gefährlich zu machen. Still vor sich hin blickte sie
über das Geländer, als ich zu ihr trat. —
„Ist es auch das erstemal?“ redete ich sie nachbarlich an. — „Ja“ drehte sie ihr Köpfchen nach mir;
„auch erwarte ich schon lange den Schwung mit Ungeduld, von dem die Leute so
viel Wesens machen. Meine Brust ist mir unbeschreiblich beklommen.“ — „Mir geht es auch so,“ erwiederte ich,
„und wenn es erlaubt ist, eine Kleinigkeit philosopisch zu betrachten, so
schwebt das Herz auch hier, wie bey jedem Uebergange zu einer unbekannten
Erfahrung, zwischen — wie soll ich sagen = = = “ —
„Nach meiner Empfindung,“ fiel sie mir ins Wort, „schwebt es zwischen einer
süßen Angst und einem ungestümen Verlangen.“ —
„Richtig, mein schönes Kind!“ fuhr ich fort: „aber deshalb fürchte ich auch,
daß der kritische flüchtige Moment der Belehrung der angenehmen Unruhe unserer
pochenden Herzen kaum werth seyn wird; und in dieser Rücksicht thut es mir
beynahe leid, daß wir — oder wenigstens,
daß Sie hier sind.“ — Sie warf
ein Paar große fragende Augen auf mich. —
„Weil“ antwortete ich, „Ihnen nun künftig nichts Aehnliches mehr vorfallen
kann, was nicht durch das Gegenwärtige etwas von dem Reitz seiner Neuheit
verlor. Sie nehmen jetzt eine Erfahrung voraus, die Ihnen zu einer andern Zeit
= = Denken Sie an mich, ob ich nicht wahr rede.“ —
„Das will ich thun,“ erwiederte sie lächelnd; „denn jetzt verstehe ich Sie
nicht.“ — Und das war kein Wunder,
Eduard; verstand ich mich doch selbst nicht. Offenbar hatte die Theorie meines
Freundes, die mir von heute Mittag her noch in dem Sinne schwebte, Schuld an
diesem Geschwätze mit dem Mädchen. Ich hatte sie selbst noch nicht ganz
begriffen, und suchte sie doch schon einem Kinderkopfe verständlich zu machen — ganz im Geschmack unsers philosophischen
Zeitalters. Meine Einbildungskraft, sah ich wohl, war leichter in Bewegung zu
setzen als das Frachtschiff. Dieses lag noch eine Weile nachher, als jene sich
schon warm geflogen hatte, unerschütterlich auf dem Werfte. Endlich, als ob es
einen kurzen heroischen Entschluß faßte, fing es —
das Mädchen klammerte sich fest an mich —
zu rollen an, schlug Flammen in die Höh, und einen Pulsschlag nachher schwebte
es auf dem wogigen Meere. Fröhliches Getöse auf dem Verdecke begleitete es,
Jubelgeschrey vom Ufer her wirbelte ihm nach, und die junge, seufzende,
zitternde Schöne — Gott segne ihre
fühlbaren Nerven — wußte jetzt wie
ihr war, und ließ meinen Arm fahren. Ach, ich hätte ihr ihn gern noch länger
geliehen, und, wie man dem Probegang einer ausgebesserten Uhr nachspürt, gern
noch länger jene leisen Schwingungen verfolgt, die der Druck von ein Paar
weiblichen Händen auf meine Fibern erregte. Aber jetzt bekümmerte sich weiter
keine Seele um die andere. Was die Neugier vereinigt hatte, trennte die
Befriedigung. Die Gesellschaft flog nun auf die vielen kleinen Boote aus
einander, die sich zu ihrer Aufnahme näherten, und Saint=Sauveur erwartete mich
in dem seinigen. — „Ich komme recht
sehr zufrieden,“ rief ich ihm entgegen, als ich einstieg, „von dem Versuche mit
mir selbst zurück, und deine Theorie enthält mehr Wahres als ich gedacht habe.“
Indem ruderte das Boot, auf dem sich meine neue Bekannte befand, bey dem
unsrigen vorüber. Ich hätte wohl gewünscht mit ihr zugleich an das Ufer zu
steigen; aber ich landete einige Augenblicke —
an denen vielleicht ein ganzer Roman hing —
zu spät an.
Auf dem Hingange nach unserm Wagen kamen wir bey der
Wohnung des ehrlichen Passerino vorbey. Die schwarze Tafel über der Hausthüre,
sein Sortiment menschlicher Gebrechen, mein Frühstück bey ihm, und die
martervollen Tage, die gleich darauf folgten —
alles trat in einem Blicke mir jetzt vor die Seele. Mit feuchten Augen theilte
ich meinen Begleitern die Empfindung, die mir anflog, und zugleich die
Nachricht mit, die ihnen freylich wenig verschlagen konnte, daß in diesem Hause
der brave Mann wohne, der mein Lehrmeister in der Baukunst gewesen sey. Um
meine ehemaligen Spöttereyen über ihn, zu denen ich alleweil kein Herz hatte,
wieder gut zu machen, und um seiner Kundschaft nicht Abbruch zu thun, lobte ich
ihn als einen zweyten Vitruv. — „Ich
habe ihm vieles zu danken,“ sagte ich. —
„Besonders auch,“ fiel mir Sabathier in das Wort, „als ein Krankenwärter. Man
las es in seinem verstörten Gesichte, wie sehr ihm Ihr Aufkommen am Herzen
lag.“ — „Das kann ich um so viel
leichter glauben,“ antwortete ich, „als an meinem Leben die Erfüllung eines
Versprechens, eine Spazierfahrt hing, zu der schon der Wagen angespannt war,
als ich mich legen mußte, und auf der er nichts geringeres zu holen gedenkt,
als sein zeitliches Glück und seine Unsterblichkeit. Diese wichtige Schuld
hoffe ich morgenden Tages abzutragen.“ — „Morgen?“ fragte Saint=Saveur
verwundert. „Einen Weg zur Unsterblichkeit — in der Nähe von Marseille? Das ist
mir etwas ganz Neues. Wie heißt denn dieses Ziel der Glorie?“ — „Cotignac,“
antwortete ich, und erregte damit ein lautes Gelächter. — „Nein,“ rief
Sabathier, „das könnte meinem guten Rufe schaden, wenn ich es zugäbe“ — und —
„Nein,“ rief der Marquis, „denn von morgen an, Freund, lege ich für die ganze
Woche Beschlag auf dich und deine Talente. Ich kann dir davon zu deiner
Spazierfahrt keinen Tag frey geben, als den letzten, wo ich das angenehme
Geschäft über mich habe, den Flügelmann meines Regiments zum Tode zu führen —
um den armen Sünder in dem Augenblicke, der ihm drey Kugeln durch das Herz
jagen soll, durch ein harmonisches Pardon zu überraschen.“ — „Und
womit,“ fragte ich hastig, „hat denn der Unglückliche verschuldet, daß er
deinem System zum Experimente dienen soll?“ — „Nach seinem Verbrechen,“
antwortete Saint=Sauveur räthselhaft, „darf ein Berliner nicht fragen. Bey euch
wird deshalb kein Flügelmann der Todesangst ausgesetzt.“ — Was wollte der
Marquis damit sagen, Eduard? und was wollte er vorhin mit meinen Talenten? Ich
begreife eins sowenig als das andere. Ueber meine Zeit, die er auf Wochen in
Beschlag nimmt, muß ich mich auch noch mit ihm verständigen. Ich habe deren
nicht viele mehr in diesem Lande zu verlieren, wenn ich anders mein Gerippe in
Sicherheit haben will, ehe die Sonne noch glühender wird. Und doch kann ich an
unsere baldige Trennung ohne Schaudern nicht denken. Wie kam es mir nicht schon
so schwer an, daß ich die wenigen Stunden, die mir von heute noch übrig
blieben, ohne ihn hinbringen sollte! — Aber mein strenger Arzt riß mich
unbarmherzig von seiner Seite, und verwies mich, aus Furcht vor der Abendluft,
in meine einsame Herberge. — „Wenn Ihnen,“ tröstete er mich, „Ihre heutigen
Lebensversuche wohl bekommen und zu einer guten Nacht verhelfen, so öffne ich
Ihnen morgen die weite Welt, und überlasse Sie Ihrem Freund — zur Nachcur.“ —
Möge er es zur guten Stunde gesagt haben.
* * *
Marseille.
Den 18. Februar.
So hätte ich denn seit zwo Stunden das Lenkseil
meiner selbst, das mir auf der Rennbahn des Lebens aus den Händen geschlüpft
war, wieder in meiner Gewalt! Sabathier hat es mir so feyerlich, als wenn es
ein Doctorhut wäre, überreicht. Kaum war ich mit einem Gesichte ohne Runzeln
aus meinem Bette ohne Falten gestiegen, und lächelte in dem frohesten
Vorgeschmacke meinem Frühstück zu, das man herein trug, als mir sein Morgengruß
so süß entgegen tönte, wie eine Geßnerische Schäferflöte in meinem funfzehnten
Jahre. Wie reichhaltig kam mir nicht sein freundliches Gespräch vor! Es würzte
meinen guten Coffee noch mehr. Es belehrte mich ohne mir weh zu thun, und
rührte mich durch die genauere Entwicklung des Wunders meiner Genesung.
Du weißt, Eduard, ich habe mich immer für ein Kind des
Glücks, für einen Liebling des Zufalls gehalten, und finde so wenig Anmaßliches
in dieser Vorstellung, daß ich keinen Gesichtspunkt kenne, aus welchem sich der
Mensch gelassener betrachten könnte, als aus diesem. Die Eigenliebe, die dabey
eine Rolle spielen wollte, müßte stockblind seyn. Daher habe ich es auch immer
für den besten Zug meines Herzens gehalten, daß ich keinen Beweis, der mich
darauf zurückführen kann, übersehe, und nicht, wie andere, mir jeden zufrieden
Augenblick als Folge meiner klugen Einrichtung anrechne. In meiner jetzigen
glücklichen Lage wäre es vollends unverzeihlich. An meinem hitzigen Fieber mag
ich wohl schuld seyn, aber nicht an meiner Genesung. Diese lag weit außer
meinem Gesichtskreise, und es mußten die sonderbarsten Umstände zusammen treffen,
um sie möglich zu machen. Das seltenste Ungefähr entriß mich nicht nur den
Klauen des Marktschreyers, sondern auch, wie du gleich hören wirst, den harten
Fäusten der hiesigen Aerzte — die, da sie nur selten feinere Maschinen zu
behandeln haben als Matrosen und Kaufleute, jeder andern, die nicht eben so
derb zusammen gesetzt ist, fast so gefährlich sind, als die ausgemachtesten
Stümper. Welche Proben der Angst würde mein armer Körper nicht noch vor seiner
gänzlichen Auflösung haben ausstehen müssen, wenn nach dem Marktschreiyer auch
noch so ein Praktikus über ihn hergefallen wäre! Sabathier, mußt du wissen,
gehört nicht zu dieser Zunft, ist Mitglied der preiswürdigen Facultät zu
Montpellier, und gegenwärtig auf einer wissenschaftlichen Reise begriffen, die
er über Holland nach Edinburg thun will. Mein anonymer Wohlthäter, — Gott segne
ihn — der einen natürlichen Haß gegen alle Charlatane hat, wie die
Pharaos=Ratze *)
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*) Viverra Ichneumon. Linn.
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gegen die Crocodille, schlich und stieg dem nomadischen
Medicaster bis vor mein Bett nach, verscheuchte den Geyer, und sah sich eben
ängstlich nach Hülfe für das gerupfte Täubchen um, das zappelnd da lag, als —
der gute Sabathier vor dem heiligen Geiste ausstieg, und der Schall seines
berühmten Namens an alle Wände des Gasthofes anschlug. Unverzüglich trat ihm
der Unbekannte in den Weg, erzählte ihm schon auf der Treppe meine verzweifelte
Lage, ließ ihm kaum Zeit sich umzukleiden, und, nachdem er sein Mitleiden auf
das stärkste erregt hatte, führte er ihn vor mein Bette, und nahm ihm, unter
meinen schon gebrochenen Augen, das Ehrenwort ab, seine Reise aufzuschieben,
und den kranken Deutschen nicht zu verlassen, bis nicht sein Schicksal
entschieden sey. Der menschenfreundliche Arzt versprach es, und hat es
gehalten. Mein bösartiges Fieber fand in ihm einen Beschwörer, wie es einen
bedurfte. Selbst die kleinsten Nebenverhältnisse, in die er sich mit mir
gesetzt fand, so unwichtig sie auch scheinen, waren hier nichts weniger als gleichgültig.
Schon der Umstand einer gemeinschaftlichen Herberge mit ihm mußte mir den
größten Vortheil gewähren. Dadurch ward es ihm möglich, mich zu allen Stunden
zu beobachten, und meine Narrheiten abzuwarten, als ob ich der vornehmste Herr
und er mein Leibmedicus wäre. Ich brauchte nicht mit andern zehn Elenden zu
kämpfen, um einen Theil seiner Zeit, ein Wort von seiner ermatteten Zunge, ein
Recept aus seinem zerstreuten Gehirne zu erhaschen. Auch hatte seine Hand, ehe
sie die meinige berührte, nicht wie die Faust, die dir einst dein Aeskulap
prahlenden Andenkens entgegenstreckte, des Morgens zwölf Kindern die Blattern
eingeimpft, des Nachmittags eine Comödiantin entbunden, und des Abends einen
Neapolitaner zergliedert, und seine Perücke schüttelte keine in der Charité
angesteckte Lufttheilchen in meine Atmosphäre. Wenn ich starb, war ich sicher,
daß es an meiner eigenen Krankheit geschah. Glücklich ist wohl jeder zu nennen,
der in dem Nebel, den das unzählbare Heer von Seuchen um ihn herzieht, in dem Gedränge
so vieler schwankenden Irrlichter, die dieser Duft bildet und nährt, und die
sich ihm bey seiner Wanderschaft über das allgemeine Leichengefilde als
Wegweiser anbieten, auf den Genius eines Kapps, Grimms, Meckels oder Tissots
trifft, der ihm vorleuchtet. Ist sein Gewebe nun vollends schon von der Natur
locker gesponnen, durch die Hände seiner Erzieher verworren, und von allen den
Modefarben, in die es getaucht wurde, so mürbe gebeizt, als das meinige, und es
findet sich, eben da der Lebensfaden zerreißen will, ein solcher Kunstweber als
Sabathier zu ihm, der an der laufenden Spule die Fasern noch zu erwischen und
so geschickt anzuknüpfen versteht, daß auch nicht der kleinste Knoten zurück
bleibt, der das Flickwerk verrathen könnte: so weiß ich nicht wie groß das
Verdienst des Kranken seyn müßte, daß diesem seinem Glücke gleich kommen
sollte.
Diese Betrachtungen machten mir es recht schwer, mich
von dem Manne zu trennen, der sie veranlaßte, und der — ohne daß ich damit
andern Aerzten zu nahe treten will — einzig in seiner Art ist. — Denn wo hat
wohl einer vor ihm einen solchen Abschied von seinem Kranken genommen, als Er
von mir? Er faßte mich mit ernstem Anstande bey der Hand, setzte sich neben mir
auf den Sopha, und ehe ich mich des Textes versah, über den er seine Beredsamkeit
spannte, lag das menschliche Herz so meisterhaft zergliedert vor mir, als wenn
Locke und Boerhave in ihm zusammen getreten wären, um mir zu demonstriren, wie
wenig ich, moralisch und physisch, werth sey. Ich mußte bey jedem Fetzen, den
er mit seiner Sonde in die Höhe hob, heimlich gestehen, daß es ein Theil von
mir war. In jeder Beule, die er öffnete, erkannte ich mein eigenes Geschwür,
und fühlte in meinen [sic] Innern jeden Schnitt, den er doch nichts weniger als
in meinem Cadaver zu thun schien. Es ward mir, mit Einem Worte, immer klärer,
daß die Casuisten zu Avignon und der getaufte Jude so vielen Antheil an meinem
hitzigen Fieber hatten, als Clärchen und der Seefisch — daß ich in meiner
Gesundheit nie weiter aus dem Wege gekommen sey, als in der Zeit, da ich sie
suchte — und daß Sabathier, der, gleich dem großen Arzte des Lazarus, meine
Heilung mit Stehe auf angefangen hatte, jetzt auch, wie er, sie mit
keinem bessern Rathe zu beschließen wisse, als mit einem wohlgemeinten Gehe
heim.
Ja, ja, Eduard; unstreitig ist es das klügste, was ich
thun kann. Ich brauch wahrlich keine Erfahrungen mehr zu dem bewiesenen Satze
zu sammeln, daß meiner Diät und meiner Tugend auf Reisen noch weniger zu trauen
ist, als in meiner Heimath. Das Ueberraschungs=System meines Freundes soll mich
nicht aufhalten. Gott weiß, was ich mir damit über den Hals ziehen könnte, wenn
ich es so gründlich studiren wollte, als manches andere, das mich irre geführt
hat.
Wie Sabathier am Ende seine lehrreichen Gesprächs nach
dem Hute griff, verstand ich das Zeichen, flog in die Kammer vor meinen
Schreibtisch, und — indem ich geschwind berechtnete, daß, wenn ich die Summe
meines baren Reisegeldes gerade mit ihm theilte, ich in Verhältniß meiner
vorigen täglichen Ausgaben immer noch durch mein hitziges Fieber gewönne —
packte ich zwey Rollen zusammen, die einen ziemlich starken Beweis enthielten,
wie hoch ich mein Leben schätzte, und trat damit in der Demuth eines
Genesenden, der dem Apollo nur einen schlechten Hahn opfert, vor meinen
trefflichen Arzt. Aber dieser, als schwebe er in der Glorie jenes Gottes, erhob
sich in demselben Augenblicke über alle gemeine Mitgesellen seiner Kunst. —
„Sie vergessen, lieber Freund,“ sagte er, „wie theuer Sie Ihr Leben schon bey
dem Quacksalber gelöst haben, den ich vertrieb. Ich bin belohnt genug, daß ich
nicht zu spät kam, um seine Rechnung und sein Vergehen gegen Sie ins Gleiche zu
bringen, und durch meine Anzeige die Polizey aufzufordern, ihm das Handwerk, wo
nicht ganz zu legen, doch solchem eine zweckmäßigere Richtung für das gemeine
Beste zu geben.“ — „Edler, großmüthiger Mann,“ sagte ich, legte meine
Geldrollen aus der Hand, und trocknete mir die Augen. — „Und was ist denn,“
fuhr ich kleinlaut fort, „aus dem Quacksalber geworden?“ — „Man ließ ihm,“
antwortete Sabathier, die Wahl, sich nach seinen Verdiensten entweder
bestrafen, oder belohnen zu lassen — entweder mit einem Wahrzeichen an der
Stirn das Reich zu räumen, oder in demselben — Mäuse zu fangen. Er entschloß sich
zu letzterm, unter der Bedingung, die man ihm gern zugestand, daß er den
Doktortitel fortführen dürfe, den er in Erfurt gekauft habe. Er ist bey den
hiesigen Hanf= und Taumagazinen angestellt, wo er gewiß von Nutzen seyn wird.“
— Ich läugne nicht, Eduard, diese Nachricht machte mir Freude. Nicht, als ob
ich gerade sehr stolz darauf gewesen wäre, durch meine unschuldige Vermittlung
einen solchen Landsmann in Königlich Französische Dienste gebracht zu haben;
sondern weil es mir, bey meiner ewigen Speculation über die Bestimmung des
Menschen, wohl thut, wenn ich einmal auf einen treffe, dem das Schicksal die
seinige so deutlich anweist als diesem. — Uebrigens mußte es mir wohl auf alle
Weise lieber seyn, daß der Zufall, neben vieler meiner Mitmenschen Erhaltung,
nur den Tod der Mäuse mit meiner Genesung verkettet hatte, als umgekehrt — wie
das bey vornehmern Kranken als ich bin wohl manchmal der Fall seyn mag.
„Sehen Sie,“ fuhr Sabathier fort, „so ist alles in
seiner Ordnung. — Der Verzug meiner Reise ist mir hinlänglich durch das Studium
Ihrer Krankheit bezahlt: denn schwerlich werde ich in Edinburg eine versäumt
haben, die aus mehrern Fehlern gegen die Diätetik zusammen gesetzt, aus so
bösartigem Stoff entwickelt, den Nachforschungen eines Arztes würdiger und mir
belehrender gewesen wäre als diese. Auch soll sie mir bey meiner Aufnahme in
die dortige Academie zu einem sonorischen Perioden in meiner Antrittsrede
verhelfen.“ — Ich machte — einfältig genug — meinem medizinischen Freunde für
dieses Lob meiner Krankheit eine tiefe Verbeugung, als ob er mir eine
Schmeicheley gesagt hätte, erschrak über diesen neuen Mißgriff meiner
Eigenliebe, und stotterte nun voller Verlegenheit: — „Ihre Rechnung im Gasthofe
werden Sie mir doch = = — „Diese,“ fiel er mir ins Wort, „ist durch den braven
Mann berichtigt worden, der mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat.“ —
„Lieber Sabathier,“ drängte ich mich jetzt näher an ihn, „Sie dürfen mich nicht
verlassen, ohne mir den Schutzengel genannt zu haben, bey dem ich in einer so
großen Schuld stehe, und die ich durchaus abtragen muß, wenn ich ruhig werden
soll.“ — „Ich würde es gern thun,“ versetzte er, „hätte seine uneigennützige
Tugend mir nicht Stillschweigen geboten. Wir wollen dem wackern Manne seinen
eigenen Gang lassen, und uns im Stillen begnügen, eine Seele zu bewundern, die
sich über das Geräusch menschlicher Beyfalls = Aeußerungen des Danks und den
Schimmer ihrer eigenen Seltenheit erhaben fühlt.“ — „O mein Freund,“ erwiederte
ich voller Betrübniß, „wie gern möchte ich dieser übermenschlichen Tugend
huldigen! — Aber ich kann — wahrlich ich kann nicht. Eine so heldenmüthige
Verläugnung der allen Herzen angebornen Schwachheiten erweckt — = = = — ich
hielt inne. — „Was erweckt sie denn?“ fragte Sabathier. — „Den Verdacht, von
dem ich meinen Wohlthäter gern frey sprechen möchte, eines übermäßigen Stolzes,
der seine Blöße nur desto künstlicher versteckt, je lebhafter sein geheimer
Wunsch ist, daß die Neugier sie enthülle. Eine Größe, die andere Menschen so
sehr verkleinert, ist nicht nach meinem Geschmacke. Die Gleichgültigkeit des
Unbekannten gegen meinen Dank ist sehr demüthigend, und ich fühle es wahrlich
auf das schmerzhafteste, wie viel Unbarmherzigkeit in seiner Großmuth liegt.“ —
„Oder wie viel Schonung,“ sagte Sabathier lächelnd, umarmte mich noch einmal
zum Abschiede, bat sich ein Empfehlungsschreiben nach Leyden an Jerom aus — und
unter tausend Segnungen, die meiner stammelnden Zunge entströmten, eilte er in
sein Zimmer den Anstalten seiner nahen Abreise zu.
* * *
Kaum war er fort, so stützte ich meinen Kopf auf den
Arm. — „Schonung?“ wiederholte ich, „was will er mit diesem räthselhaften
Worte?“ und es beschäftigte mein Nachdenken bey einer halben Stunde. Ich wollte
lange nicht daran, die Erklärung als wahr anzunehmen, die sich mir aufdrang;
aber, so wenig sich auch Schmeichelhaftes für mich enthält, so bleibt mir doch
keine andre übrig. Der Unbekannte, stelle ich mir vor, mochte es wohl nach
seiner Eigenheit eben so sehr für Pflicht halten, so lange ich krank lag, als mir
aus dem Wege zu gehen, so bald ich gesund ward. Die Beichte meines hitzigen
Fiebers — ob das nicht wohl auch bey andern Ohrenbeichten manchmal der Fall
seyn mag? — hat ihm wahrscheinlich nichts weniger als Neigung gegen mich
eingeflößt, und in dieser Rücksicht verräth seine stillschweigende Entfernung
unstreitig seine seltene Schonung. Ein eifriger Katholik, — mein Gott, — kann
ja unmöglich einen Menschen lieben, schätzen und seiner Freundschaft werth
halten, der die heilige Clara von Montefalcone mit ihren drey Blasensteinen
verspottete, den Papst Alexander zur Hölle verwies, und selbst bey dem Anblicke
der drohenden Ewigkeit keine Reue fühlte, Mariens Strumpfband vertauscht zu
haben. Ich darf froh seyn, daß der gute Mann meiner Rettung schon den Schwung
gegeben hatte, ehe er verfuhr, wie wenig ich ihrer werth sey. Mir thut es zwar
weh, daß zwey Herzen, die bereits nacheinander so nahe waren, durch solche
Windstöße wieder getrennt werden mußten; aber was kann ich dafür?
Um jedoch den Druck meiner Dankbarkeit los zu werden,
will ich zum Ersatz meiner Schuld ein Geschenk in das Hospital schicken, und es
als eine Nothhülfe, die ich gegen den sonderbaren Heiligen nehme, der
Versteckens mit mir spielt, in dem Wochenblatte anzeigen lassen. Das, hoffe
ich, wird nach seinem Sinne seyn. — Edler Sabathier! — Liebenswürdiger Jerom!
Dächten alle Menschen wie ihr und ich, wie leicht würde es werden, die drey
Religionen, denen wir anhängen, unter Einen Hut zu bringen! Wie geehrt fühle
ich mich in diesem Augenblicke, wo ich durch einen Zug meiner Feder eure beyden
verwandten Seelen vereinigen soll! — Doch da kommt mir ein Briefchen von
Saint=Sauveur dazwischen, das ich erst lesen muß! —
* * *
Das war ein thätiger reichhaltiger Morgen! Meine
dringenden Geschäfte auf der vorigen Seite sind nun alle besorgt, und ich wende
meine Augen, die unter blendenden Thränen den guten Sabathier abfahren sahen,
wieder nach dir, mein Eduard, der mir sie von jeher immer am geschwindesten
getrocknet hat. — Es ist zwey Uhr. Nur noch einige Zeilen, und ich unterwerfe
mich sodann ganz sorgen= gedanken= und willenlos der Leitung des reichen
romanhaften Marquis, dem meine Nachcur übertragen ist. Sein Wagen erwartet
mich; seine heutige Ordre liegt vor mir. Geht er auch so ziemlich mit mir um
wie mit einer Sache, — ich lasse mir alles gefallen, ob mir gleich nicht alles
gefällt; so kirre hat mich leider das Mißtrauen gemacht, das mir Sabathier
gegen die eigene Aufsicht meiner selbst in den Kopf gesetzt hat. Da will er,
zum Beyspiel, daß ich heute nach Tische eine Lustreise mit ihm antrete, die
eine Hälfte des Weges im Wagen, die andere zu Fuße, nach seiner Bastide, die
drey Stunden von hier und auf der Straße nach Toulon zu liegt, wohin ich ihn
morgen früh begleiten soll. Mit diesem Herumstreifen würden, wie er mir
vorrechnet, die nächsten vier Tage bis auf den bewußten Sonnabend verstreichen,
den er mir schon gestern zu meiner Wallfahrt nach Cotignac frey gab. Diese
Eintheilung meiner Woche ist mir nur halb recht, Eduard; Alzire wird heute,
morgen wird Mahomet aufgeführt, und ich soll, statt dieser trefflichen
Schauspiele, einem so widrigen Dinge nachgehen, als mir eine Bastide ist, um
dort meinen Wettlauf nach Gesundheit anzufangen. Der gute Mann bedenkt nicht,
daß ich kaum von einem hitzigen Fieber genesen bin. — Den Tag darauf nach
Toulon! Festungen sind mir aber fast so sehr zuwider als Bastiden. Lieber
Saint=Sauveur! ich hätte mir von deinem Ueberraschungs = System etwas besseres
versprochen, und ich zweifle, ob Sabathier dergleichen Recepte zu meiner
Nachcur billigen würde. Dieses abgerechnet, hätte ich gar nichts dawider, auf
einige Zeit aus meinem häuslichen Zirkel heraus zu treten, der mich mechanisch
in die Tage zurück zaubert, die ich doch gern vergessen möchte. Der überflüssigste
Theil desselben, die beyden Puppenspieler, haben durch ihr Verplaudern meiner
Historie mit Klärchen vollends ihr Bißchen Credit bey mir verloren; und doch
scheinen sie gar nicht zu ahnden, wie unerträglich sie mir sind. Da
unterbrachen sie mich erst vorhin mit dem possenhaftesten Anstande in meiner
Schreiberey, um mich über einen Einfall zu Rathe zu ziehen, der ihnen eine
frohe Zukunft verspräche. — „Elektra,“ — hub der Prologus an, — „Geht zum
Henker,“ fuhr ich sie an, „mit eurer Elektra, und putzt dafür meine Schuhe!“ —
Auch Bastian, der gute Kerl, macht keinen Eindruck mehr auf mich mit dem
Gesichte seiner Schwester; dafür erinnert er mich aber desto lebhafter an die
eklen Chinapulver, die er mir dutzendweise eingerührt hat. Es ist mir immer, so
oft ich ihn ansehe, als ob ich einnehmen müßte. So wunderlich es von mir wäre,
ihm dieses zum Vorwurfe zu machen, so bin ich doch froh, daß er mir einige Tage
aus den Augen seyn wird. Er kann unterdessen hier mit dem Wirthe zusammen
rechnen, und sich mir mit den Anstalten zu meinem Aufbruche beschäftigen, den
ich zu Anfange künftiger Woche festgesetzt habe. Die Freundschaft
Saint=Sauveurs würde mich in jedem andern Lande zurück halten: aber das hiesige
Clima verstattet mir keine Weile, und drängt und treibt mich wie einen Storch
nach meinem Deutschen Schattenneste; ach es würde meine spröden Knochen
vollends zu Pulver zerreiben, wenn ich hier bliebe. Daß ich nicht denselben
Weg, auf dem ich herkam, zurück nehmen werde, kannst du wohl — ohne selbst mein
Tagebuch betrübten Andenkens gelesen zu haben — bey einem neugierigen Reisenden
voraus setzen, ob dir gleich jenes noch ganz andere Aufschlüsse darüber
vertrauen würde. Nein! ich gedenke über Holland und über mein geliebtes Leyden heim
zu gehen, ohne Avignon, Straßburg und Bruchsal nur in Gedanken zu berühren. In
drey Wochen — ach Gott! kann ich bey Jerom seyn, und selbst, wenn Sabathier so
langsam fortreist, als er anfing, eher sogar als er und mein Brief. Das habe
ich mir an den Fingern abgezählt, als ich ihn schrieb, und sie mir vor Freuden
verbrannt, als ich ihn zusiegelte. So gar viel Papier werde ich wohl nicht mehr
verthun. Ein halbes Buch, denke ich, soll hinreichen, bis ich dir in Berlin
meine schreibselige Feder zu Füßen lege.
* * *
Das in halbdunklen Tinten trefflich gemalte Zimmer,
in welchem mich Saint=Sauveur diesen Mittag aufnahm, war ganz der rührenden
Stimmung angemessen, die ich mitbrachte, und in der er mich — Gott weiß wie er
das anfing! — drey Stunden, bis wir ins Freye kamen, zu erhalten verstand. Es
gehört ein Wirth dazu, wie Er war, damit ein Gast, wie ich bin, nicht bey
Tische den Abgang eines dritten bemerkt. Die hellen Wahrheiten, die zarten
Berührungen der Seele, die menschenfreundlichen Aeußerungen, die in sanften
Adagiotönen seinen Lippen entflossen, und die Gutmüthigkeit, die aus seinen
liebenden Augen wiederschien, erquickten mein schmachtendes Herz mit dem so
lang entbehrten Vollgenusse eines, in der edelsten und weitesten Bedeutung des
Wortes, guten Gesellschafters. Er überraschte mich an dem heutigen
Mittage um vieles angenehmer noch als an dem gestrigen — nicht durch die neu
ersonnenen Gerichte, die er mir vorsetzte, sondern durch die Menge seiner
Empfindungen, denen er in meiner Seele mit Sokratischer Empfindungskunst Luft
machte. Sie erschienen mir, wie Vertriebene, die sich unter einer tyrannischen
Regierung versteckt hielten, von weitem herzukommen, einander zu ihrer
Erhaltung Glück zu wünschen, und das Fest ihrer Wiederkehr in der alten Hütte
zu feyern, aus der sie sich so lange verdrängt sahen. So sehr ich auch jetzt
hinterher mich gerecht genug fühlte, das Uebergewicht seines Geistes in dem
warmen Gespräche, das sich unter uns entspann, anzuerkennen, so wußte er doch
während desselben den Schwerpunkt so geschickt zu vertheilen, daß es mir
vorkam, wir hielten einander vollkommen die Wage. Sein Herz schien,
schmeichelhaft für mich, vorauszusetzen, es werde von dem meinigen verstanden.
Die Blitze, die sein Witz von sich warf, spalteten sich so leicht an dem Prisma
des meinigen, mit welchem ich sie auffing, daß ich nur meiner Kunst den schönen
farbigen Strahlenkreis zuschrieb, den es hervorbrachte. Ich hörte ihm so lange
mit dem lautersten Vergnügen zu, als mir noch seine Unterhaltung Veranlassung
gab, mir eine Verbeugung über meine tiefen Einsichten und mein zartes Gefühl zu
machen.
Auf einmal aber trieb mich eine Kleinigkeit von dem
erhabenen Standpunkte herunter, auf den mich meine Eigenliebe gestellt hatte.
Wir sprachen eben von dem Hange zweyer gleich gestimmter Herzen, die, indem sie
wie Magnete einander anziehen, auch, wie diese, alles Ungleichartige von sich
abstoßen, und ungenutzt ihre Kraft in sich verzehren, wenn sie auf keinen
Gegenstand treffen, der in ihren Wirkungskreis taugt. Ich gefiel mir außerordentlich
in diesen zugespitzten Einfällen, die ich vorbrachte, und gerieth darüber so in
Feuer, daß ich nicht gewahr ward, was neben mir vorging — nicht eher sah, daß
der Mundschenk eine Flasche Champagner lüftete, bis der Schall des heraus
getriebenen Korks — bis der Name Sylleri — bis das schäumende Glas, das er mir
vorhielt, sich meiner Einbildungskraft schon bemeisterte, und mich sechs Wochen
zurück in das Bachanal versetzt hatten, das ich am achten Januar mit jenem
Gesindel feyerte, das leider nur allzu magnetartig auf mich gewirkt hat.
Heftiger kann in einer belagerten Stadt ein spielendes Kind nicht erschreckt
und aus der Wiege geworfen werden, wenn das feindliche Signal in die Höhe
steigt und der allgemeine Sturmlärm nachfolgt, als ich in diesem Augenblicke
der widrigsten Erinnerung. Mag dir diese Vergleichung noch so poetisch
vorkommen, sie ist darum nicht weniger treffend und wahr. Ich fühlte mich von
dem unglücklichen Bilde, in welchem ich mich wie in dem niedrigsten Stücke von
Teniers abgemalt sah, so gepreßt, daß mir die Lippen bebten, und mein Auge in
Thränen stand, noch ehe der Schaum im Glase zerronnen war. Armer Wein, seufzte
ich im Stillen, der auf demselben Berge gewonnen, vielleicht auf demselben
Stocke mit jenem gereift ist, der mir das häßliche Herz einer Heuchlerin
enthüllte! Wäre mir dort dein Aufbrausen nicht zum Mißlaute geworden, wie süß
würdest du hier, an der Seite eines edlen Freundes, mir schmecken, und mit
welchem Feuer würdest du meine Lobrede auf die gesellige Tugend beleben!
Saint=Sauveur, ob er gleich meine innere Bewegung gar
nicht zu bemerken schien, kam ihr doch auf das thätigste zu Hülfe; denn er
unterbrach mein angreifendes Selbstgespräch, indem er den Stuhl rückte und
aufstand. Es ist die leichteste Art, der Seele eine andre Richtung zu geben, in
dem man dem Körper eine andre anweist. Der Unterschied, ob mich der Wind von
der oder jener Seite anbläst, ob ich rechter oder linker Hand an meinem
Schreibtische sitze, ob ich in einen Garten oder in einen Kirchhof blicke, bewirkt
bey mir, wo nicht eine gänzliche Umschaffung meiner Denkungsart, doch eine
merkbare Verschiedenheit der Begriffe. So ging es mir auch dießmal. Der Zauber,
der mich nach Avignon versetzte, schien nur innerhalb des Zirkels meines Stuhls
zu liegen. Sobald ich über ihn hinaus in das Fenster getreten war, will ich
zwar nicht geradezu behaupten, daß ich mich meiner reuvollen Empfindungen
schämte, aber ich bekam doch Fassung genug, den ganzen Auftritt für einen
seltsamen Beweis der Nervenschwäche auszugeben, die mir noch von meiner
Krankheit anhing, und mein Freund war auch so gut, es für bekannt anzunehmen. —
„Wenn ich nur,“ sagte er scherzhaft, indem er zugleich befahl, daß sein
Phaeeton vorrücken sollte, „der Lärm nicht zu sehr erschüttert, den jetzt die schlagenden
Nachtigallen in dem Birkenwalde treiben, wo ich dich hinführen will.“ — Das
brachte mich auf einmal aus meiner weinerlichen in ein bitter spaßhafte
Stimmung. — „Birkenwald? Nachtigallen?“ fing ich mit spottendem Tone seine
Worte auf, „das klingt ungefähr in diesem Lande so hohl, als wenn man in Novazembla
von Schmetterlingen und Orangen spräche.“
Ich habe gewiß schon in meinem Leben witzigere Einfälle
gehabt, und beißendere Antworten ausgetheilt, als diese war, ohne mich ihrer zu
rühmen; besonders seitdem ich bemerkt hatte, daß ein Bonmot Dienstags eine
ganze Gesellschaft belustigen konnte, welches Mittwochs, wenn es der Erfinder
als bewährt in andere Häuser herumtrug oder in seine Schriften aufnahm,
gleichgültig angehört und gelesen wurde. Der scharfsinnige Herr mochte noch so
genau Zeit, Gelegenheit und Umstände seines Epigramms angeben, keine Seele
bekümmerte sich um den kleinen Balg, sobald er über die Geburtsstunde hinaus
war. So würde ich also auch dießmal meine spitzige Gegenrede gar nicht erwähnt
haben, hätte sich nicht ihr schlaffer Stachel eine Stunde nachher gegen mich
selbst gekehrt, und mir eine Beule zugezogen, die ich nicht anders zu heilen
wußte, als daß ich sie, unter großen Schmerzen, aufstach. Gott bewahre doch
jedermann von witzig=üblen Launen! Ich konnte die meinigen nicht mehr Herr
werden. So abschmeckend sie Anfangs war, eine so laugenhafte Schärfe nahm sie
an, als wir bey dem Schauspielhause und der bunten Menschenmenge, die dahin
strömte, vorbey fuhren; und sie ward noch beißender, als wir unter die
Frachtwagen auf der staubigen Chaussee geriethen: denn, statt es lieber gerade
heraus zu sagen, wie ungern ich heute die Stadt und Alziren um die
Bekanntschaft einer Bastide vertauschte, gab ich es durch mein Bezeigen auf eine
viel auffallendere Weise zu erkennen. Ich schmiegte mich quer über die Ecke des
Wagens, drückte meinen runden Hut in die Augen, und bey jeder Staubwolke, die
aufstieg, hielt ich Mund und Nase so geziert zu, als ob die Sandstraßen um
Berlin mit Teppichen belegt wären. Jeder Sonnenstich schien ein Epigramm in mir
zu entwickeln, und mir zu eine sinnreichen Anspielung zu verhelfen, die den
contrastirenden Unterschied meines fruchtbaren Vaterlandes mit der dürren
Provence auf die ungesuchteste Art, wie ich glaubte, in das Licht setzte. Indem
ich mich mit meinem Handschuh fächelte und mir den Hals lüftete, sprach ich
entweder von den schattigen Alleen, die nach Charlottenburg führen, oder
erinnerte meinen Freund an unsere kleinen Soupers in den Lauben zu Sanssouci.
Ich war wie ausgetauscht, Eduard, fühlte in meiner Ungezogenheit weder den
scharfen Verweis, der in dem Stillschweigen des Marquis lag, noch ließ ich mich
durch den Gedanken, wie er doch nicht mehr, als sein Land erlaube, zu meinem
Zeitvertreib gewähren könne, so wenig irre machen, daß ich endlich sogar
Hagedornen und Kleisten zu Hülfe nahm, um die große Wahrheit zu bestätigen, daß
nichts in der Natur an Reitz über den Eintritt des Frühlings in Deutschland und
unsern Maymonat ginge. Das Blut trat mir bey dieser vaterländischen Erinnerung
in das Gesicht. — Ich blickte wild meinem Freund in die Augen. Er faßte mich
bey der Hand und: „Was ist dir, lieber Wilhelm?“ fragte er verwundert. — „O der
herrlichen Dichter!“ antwortete ich mit beschwerter Stimme. „Sie haben das Bild
des May mit einer solchen Gewalt in mir rege gemacht, daß ich dich bey Gott
versichern kann, lieber Saint=Sauveur, ich glaube in diesem Augenblicke jenen
Monat erreicht zu haben, unsre Frühlingsvögel zu hören, und den balsamischen
Duft unsrer jungen Birken zu athmen. Eine lebhafte Einbildungskraft ist doch
eins der wichtigsten Geschenke Gottes. Sie weiß dem Betrug die Gestalt der
Wahrheit zu geben, und unsre Wünsche in wirklichen Genuß zu verwandeln.“ — „So
wie sie,“ fiel mir Saint=Sauveur in das Wort, „die auffallendste Wahrheit zu
Betrug herabwürdigen kann.“ — Dieser Einwurf meines Freundes war so paradox,
daß ich ihn unmöglich ungerügt hingehen lassen konnte. — „Ein ganz neuer Satz,“
sagte ich höhnisch: „aber wo ist der Beweis dazu, lieber Marquis? Willst du ihn
führen?“ — „Ja,“ war sein bestimmte Antwort; und wahrlich, Eduard, er führte
ihn, und wie? Ganz nach seinem gestrigen System: denn nie hat mich ein
philosophischer Beweis durch eine angenehme Evidenz überrascht als
dieser. Die Wendung, deren er sich dabey bediente — sehr verschieden von den
Subtilitäten der Scholastik — kam aus seiner und seines Kutschers Hand, an
dessen Arm die Schnur befestigt war, die er anzog. Ein Griff in die Zügel, ein
Hieb mit der Peitsche, und seine Behauptung — ich hätte vor Scham vergehen
mögen — war vollständig erwiesen. Was ich eine Minute vorher für Magie der
Einbildungskraft hielt, war Wirklichkeit. Ich hörte die Nachtigallen mit meinen
körperlichen Ohren, und zog die besungene Deutsche Mayluft mit beyden
Lungenflügeln in mich — denn — hier siehst du die Beule, die ich aufstechen muß
— wir befanden uns, wie durch einen Zauberstab, in eine lange Allee von
hundertjährigen Birken versetzt.
Ich konnte in der Fülle meines Erstaunens nicht zu
Worte kommen, so gewaltig sie sich auch bis zu meinen Lippen vordrängten, war
lange verloren in meinem Gefühl, ehe meine scheuen Blicke sich an meinen Freund
wagten, und um Vergebung des Unsinns der vergangenen Stunde anflehten. Er
verstand sie: aber er bestrafte mich nicht durch Gegenspott, so sehr ich ihn
auch verdiente, sondern durch Güte. — „Reisende,“ sagte er mit freundlicher
Stimme, „sollten nie absprechende Urtheile über ein fremdes Land fällen, bis
sie nicht alle seine Winkel durchkrochen haben. Könnte ich dich doch, lieber
Wilhelm, von allen deinen kleinen Vorutheilen so glücklich heilen, als es mir
bey diesen gelang! denn sie hauptsächlich sind es, deren Cur mit
Sabathier überlassen hat. Wie froh bin ich, daß ich dich bis jetzt ruhig in
deiner trotzigen Lage erhalten konnte! Ein einziger Blick deiner Augen neben
der Querlinie, auf der sie hinstarrten, würde dir schon von weitem das Ziel der
Belehrung, die ich dir aufhob, entdeckt, und ihre gute Wirkung und deine
Epigrammen geschwächt haben. Jetzt blicke nur, ohne dich weiter zu schämen, an
diese hohen Birken hinauf. Giebt es wohl in Charlottenburg ihres gleichen?
Siehe, mit welcher Pracht unsere immer grünende Eiche sich hier ausbreitet. Wie
reich würde sich euer König dünken, wenn ein solcher Fremdling seinen Park
verschönerte! Sättige dein Auge an unserem Besenreisig, an dem gelb blühenden
Geniste, das als eine Seltenheit in euern Gewächshäusern gepflegt wird, bade
dich in dem Aushauche unserer würzhaften Kräuter, und gestehe, — ich verlange
keine andere Genugthuung — daß euer Wonnemonat nicht reitzener seyn kann als
unser Hornung.“ — Es hätte mir die hartnäckigste Vorliebe meiner Heimath so
fest in dem Herzen sitzen müssen als einem Lappländer, wenn ich nur ein Wort
gegen die offenen Beweise und die billige Forderung meines Freundes hätte
vorbringen wollen. Seitdem ich Athem schöpfe, hat mich von allen den Maytagen,
die ich in Deutschland erlebte, keiner in ein solches Wohlbehagen versetzt, als
die gegenwärtig Stunde. Das konnte ich ihm mit Wahrheit sagen. Es war seit
meiner Krankheit der erste Ausflug ins Grüne, und die Sinnlichkeit hatte ein so
leichteres Spiel, als die Saiten, die sie rührte, frisch aufgezogen und zur
Freude gestimmt waren. In dem sultanischen Gefühle eines mühelosen Genusses lag
ich in dem schaukelnden Phaeton, freute mich der wohlriechenden Bogengewölbe
über mir und des begleitenden Gesangs der Vögel, wovon ich bey dem gehemmten
Trabe der Pferde keine Note verlor. Wie ein kraftvoller Jüngling, dem ein
langes frohes Leben vorliegt, sich am Ausgange desselben seinen nebligen
Grabhügel als eine Ruhebank denkt, die seiner Ermüdung wartet, so blickte auch
ich auf den geraden breiten Weg hin, der sich durch den unabsehlichen Wald zog
— dachte mir an dessen Ende die enge heiße Bastide meines Freundes, zwar nicht
als einen Lustort, aber als eine Schlafstätte, die mir desto erträglicher
vorkam, je später ich sie zu erreichen hoffte. War es also nicht Schade, daß
dieses wollüstige Hingeben meiner selbst, diese auf Genuß und Zeitgewinn
gezogene fröhliche Rechnung, durch eine Grille des Marquis gestört wurde, zu
der ich mir noch dazu vorwerfen mußte, ihm die erste Veranlassung gegeben zu
haben?
Er befahl seinem Kutscher zu halten, blickte mir in
meine sanft hinsterbenden Augen, und nöthigte mich doch unter folgendem
Gespräche aus dem Wagen. — „Guter Wilhelm! wenn ich dich so über die Natur
brüten sehe, sollte es mir beynahe leid thun, dich von deinem behaglichen Neste
aufzuscheuchen.“ — „Wie so, lieber Marquis?“ — „Ja nun, hier müssen wir uns auf
die Füße machen und einen andern Weg suchen.“ — „Einen andern Weg? Wohin denn?“
— „Nach meiner Bastide. Du denkst doch wohl nicht, daß sie am Ende der großen
Allee liegt? Das wäre der Rede noch einmal werth.“ — „Das — bester Mann — habe
ich wirklich geglaubt,“ — „Nun so hast du dich wieder einmal in dein Vaterland
verflogen gehabt. Ein Schlag von Sommerhäusern wie die unsern, und eine
prächtige Deutsche Allee zum Zugange würde gut passen.“ — „Aber, um Himmels
willen, wie kommt man denn zu deiner Bastide?“ — „Eigentlich, lieber Freund,
aus der Chaussee, die wir halben Weges verlassen haben; kürzer aber um vieles,
wenn wir uns hier seitwärts, so gut es gehen will, durch das Gebüsch helfen. Es
kommt auf eine böse Viertelstunde an, so treffen wir auf einen verlassenen
Steinbruch hinter welchem meine kleine Besitzung liegt. Ich habe ihn kürzlich
dazu gekauft, ihn vollends durchbrechen lassen, und mir dadurch einen weit
nähern Eingang verschafft, der nur einige äußere Verzierung bedarf, um als
etwas Rechtes in die Augen zu fallen. Da sind mir nun eine Menge Pläne durch
den Kopf gegangen, ohne daß ich noch mit mir einig geworden bin. — Du kamst mir
wie gerufen. Dein Ausspruch soll entscheiden. Das beschloß ich gestern vor dem
Hause des Italienischen Baumeisters, bey dem du in der Lehre gewesen bist,
legte deswegen Beschlag auf dich und deine Talente, und rechnete auf deine
Vergebung, wenn ich dich mit dieser Spazierfahrt überlistete, trotz der Alzire,
die dich beynahe mir abwendig gemacht hätte. Du siehst, daß ich meine eigennützigen
Absichten gar nicht beschönigen will. Wie leicht könnte ich sie sonst hinter
deine Nachcur verstecken! In Rücksicht dieser müßtest du mir noch danken, daß
ich dein welkes Gesicht an die Sonne gebracht habe.“ — Hol der Henker seine
kahlen Entschuldigungen,“ murmelte ich in den Bart; „die machen weder seinen
Antrag noch den Gang besser. Meine Talente? Das ist eine triftige Ursache!
Ihretwegen konnten wir sitzen bleiben.“ Und so stieg ich aus.
Es ist doch in Wahrheit eine Verlegenheit wie es nur
eine giebt, wenn man durch unverdientes Zutrauen anderer zu unsern bessern
Einsichten sich mit seiner Ignoranz aus einem schönen gebahnten auf einen so
holprigen, verwachsenen Weg gedrängt sieht, als der war, den wir jetzt
einschlugen — um am Ende eines ermüdenden Gangs oder einer verlornen Lehrstunde
seinem Gönner darzuthun, daß er sich in der Wahl unser geirrt habe. Mit hundert
Dingen in der Welt bin ich in dergleichen Gedränge gekommen; aber mit der
Baukunst widerfuhr es mir heute zum erstenmal. Bey alle dem fehlte es mir an
Entschlusse, meiner falschen Scham herzhaft entgegen zu treten, mich aufs Maul
zu schlagen, und mich durch ehrlichen Widerruf einen Ausweg zu bahnen. Das wäre
unstreitig das klügste gewesen: aber es fiel mir nicht bey, und um so viel
weniger, als mich schon jede unerwartete Aufforderung so aus der Fassung
bringt, daß ich mich immer auf das verkehrteste dabey benehme. Wenn ich etwas
ähnliches von Jean Jacques habe, so besteht es darin. Fragt man wohl doch bey
mir zehnmal umsonst nach Dingen, die ich im Schubsack trage, geschweige bey
solchen, die man gütigst voraussetzt. Geht man zum Beyspiel in der Gesellschaft
— und wie oft geschieht das nicht! — auf mich los: „Sagen Sie mir doch, mein
Herr — Sie, als ein Litterator, als ein Dichter, als ein Hofmann, müssen ja das
am besten wissen = = = so weiß ich es gewiß nicht, und wenn es das Einmal Eins
wäre.
So betroffen, daß ich mich nicht besinnen konnte,
schlich ich denn auch hier dem Marquis nach, ritzte mich in allerley Dornen,
lernte alle Gattungen von Kletten und Nesseln der Provence kennen, und nach
manchen Fehltritten, die mich aufhielten, sah ich denn endlich auch an dem
unförmlichen Steinbruche, der die Mitte einer Gebirgkette einnahm, die nach
allen Seiten hin die Gegend sperrte, jene schwere Aufgabe liegen, die ich zu
lösen beschieden war. — „Nun, was meinst du?“ fragte der Marquis, und blickte
mir forschend in die Augen, die ich geschwind in Ordnung gebracht hatte, und
dann den Felsen so listig nachdenkend anstarrte, wie dieser und jener eine
Skitze von Raphael. Da stand ich nun wie am Pranger, und brachte nach einer
ängstlichen Weile doch nur ein paar abgebrochene Worte hervor. — Ob ich
wirklich die Ausrottung des nahen Gesträuchs zur Gewinnung eines Vorplatzes und
die Erweiterung des Berggangs in Vorschlag brachte, lasse ich dahin gestellt
seyn; es war wenigstens der Sinn, den Saint=Sauveur meiner verworrenen Rede
unterschob und mit seinem Beyfall beehrte. Er hätte mir jede andere Meinung
andichten können, ich würde sie in der Verlegenheit für die meinige erkannt
haben. — „Wenn diese nothwendige Vorkehrung,“ fuhr ich nun schon mit festerer
Stimme fort, „getroffen ist, würde ich das Portal mit zwey Toscanischen oder
lieber noch Korinthischen Säulen verzieren, und oben darüber eine Marmortafel
mit einer passenden Inschrift aus dem Virgil oder Horaz setzen lassen: Orus, zum Beyspiel, quando te adspiciam, oder so
etwas dergleiche.“ — „Das läßt sich hören,“ sagte mein Freund; „nur will ich
dich bitten, lieber Wilhelm, wenn wir ins Haus kommen, mir deine Idee durch
eine kleine Handzeichnung deutlicher zu machen: denn aufrichtig zu gestehen,
weiß ich nicht einmal, wie sich die Toscanische Säulenordnung von der
Korinthischen unterscheidet.“ — Unter uns, Eduard, war das eben auch mein
Fall! — „Ich bin,“ fiel ich ihm ins Wort, „in architektonischen Zeichnungen
seit einigen Jahren ganz aus der Uebung.“ — „Nun gut,“ erwiederte er, „so thue
mir nur den Gefallen, deinem Italienischen Lehrmeister den Riß anzugeben, wenn
wir wieder in die Stadt kommen. Einstweilen laß uns auf jenem bemoosten Stein
ausruhen, und uns über dieses Gebirge hinweg in dein prächtiges Sanssouci
zaubern. Ich sitze oft Stunden lang in meinem beschränkten Gärtchen, und weiß
mir es in Gedanken durch die malerischen Aussichten zu erweitern, die mir vor
neun Jahren dein Vaterland öffnete.“
Der gute Saint=Sauveur! Er hätte mir zur Erholung von
meinen Baugeschäften nichts dienlicheres bieten können. Ich ward dir auf einmal
so beredt und anmaßlich, als ich mich kurz vorher verlegen und gedemüthigt
gefühlt hatte, und auch Er — ohne des Schaustücks seiner Birkenallee weiter zu
erwähnen — irrte gutmüthig und heiter mit mir durch alle die niedlichen
Sandgänge, die labyrinthisch unsere Berlinischen Lustfärten durchschlängeln, die
sanfte Luft, die uns umwehte, war ihm nur ein Vehikel jener aromatischen Düfte,
die unser Thiergarten seinen jüngern Wangen zuspielte, und die er damals nicht
sinnlicher in sich ziehen konnte, als er sie jetzt durch die Organe der Erinnerung
einsog. Ach, wäre sie nicht, diese gutmüthige Begleiterin auf unsern
Wanderschaften, so würde das längste Leben, wenn es einmal hinter uns liegt,
nur ein verlorenes Geschenk, und nicht viel besser als das Leben einer Mücke —
eingeschränkt auf einen einzigen Tag seyn! — „Ein schöner wahrer Gedanke!“
sagte der Marquis, als ich ihm solchen mittheilte. „Er soll uns, wie der Faden
der Ariadne, durch den dunklen Irrgang meines Vorgebirges leiten. Folge mir nur
beherzt, lieber Wilhelm, und werde nicht mißlaunig über die hundert bösen
Schritte, die du etwa noch bis zu meinem Sopha zu thun hast.“
Ich ergriff geschwind den Rockzipfel meines Führers, um
seine Spur nicht zu verlieren, und tappte ihm nun, unsicher wie in der Nacht,
durch die kühle Bergkluft nach, die so im Finstern fortlief, daß ich den
Ausgang noch für sehr entfernt hielt, als auf einmal — Gott im Himmel! wie ward
mir zu Muthe! — eine Thür vor mir aufsprang, und mir — welch ein Uebergang von
Blindheit zum Licht! — ein Thal — ein unübersehbares und so entzückendes Thal
öffnete, daß mein äußerer Mensch durch die heftige Bewegung, in die mein
innerer bey diesem unnennbaren überraschenden Anblicke verfiel, wie
gelähmt davor stand, und mein Puls einige Secunden stockte, ehe sich meine gen
Himmel strebenden Hände erheben, und ein Strom von empfindsamen Thränen dem
gepreßten Herzen Luft machen konnte. Ich habe dich oft, freundlich, schön und
groß gesehen, mannigfaltige Natur, habe dich in der Pracht deines Schmuckes
bewundert, den dir deine Freunde, und aus dem Flitterstaate gehoben, den deine
Feinde dir anlegten; aber noch nie hattest du dich mir in deiner höchsten
Herrlichkeit — nie zur Anbetung deines unermeßlichen Schöpfers in so
unwiderstehlich anlockenden Reitzen offenbart, als an diesem glücklichen
Abende! Was faselte ich vorhin von Nachgeschmack des Vergangenen, von der
Erinnerung eines Lebens, das hinter uns liegt! Mein Vaterland, die Stadt meiner
Geburt sammt den jugendlichen Freuden, die ich jemals genoß — alles war jetzt
aus meinem Bewußtseyn verschwunden. Ich fühlte nur das Gegenwärtige, und war
auschließend glücklich in ihm.
Bin ich denn der erste Reisende, der hierher kam? da
ich mich keines erinnere, der dieses Elysiums der Provence gedacht hat. Sollte
sich denn nie einer diesen Anblick, wie ich ihn genoß, erkauft, erstohlen, oder
erschlichen haben, um ihn mit Farben oder mit Worten zu malen? Nein, Eduard,
der Glückliche allein vermag es, der ihn, wie ich, als ein Geschenk aus der
Hand der erfindungsreichen Freundschaft und als ihre geheimste höchste Gunstbezeigung
erhält, — wenn anders die Verzweiflung über die Unzulänglichkeit menschlicher
Sprache, die auch in meinen Adern kocht, ihm erlaubt diesen reinen Abdruck des
Himmels zu schildern. Nur ein Mann, der aus der Fülle der Natur ihre
rührendsten Stunden zu heben, und aus ihren flüchtig hinduftenden Tageszeiten
die Balsamtheile aufzufassen versteht, die am wirksamsten sind die Quetschungen
der Seele zu lindern — nur ein Weiser, der die Sehnen und Fasern des
menschlichen Herzens oft und mit Glück entwickelt, und die Einbildungskraft bis
in ihre feinsten Blutgänge zergliedert hat — nur der edle Saint=Sauveur, der
diesen Solitair von Felsen sein nennt, hat zu dem dahinter liegenden Heiligthum
allein den Schlüssel. Man muß sein Freund seyn, um auf den Standpunkt dieses
magischen Lichtes zu gelangen, in welchem, von allen Bewohnern dieses
herrlichen Thals, er allein nur es zu zeigen im Stande ist. Kein menschliches
Auge, es schweife und schwebe wo und über was es will, kann mehr Reitze auf
einmal umfassen, als das meine in dem Augenblicke, da ich, wie von der Erde in
den Himmel gehoben, aus dem Felsen trat.
Die Scheibe der Sonne, als wäre sie allein für dieses
Thal geschaffen, hing, zu ihrem Untergange geneigt, gerade vor mir. Ein
breiter, schäumender, in die Tiefe stürzender Wasserfall schien ihr anzuhängen,
und die letzten Goldmassen ihrer heutigen Spende zu übernehmen, um sie in
flimmernden Körnern über das Abendbrod dieser glücklichen Thalbewohner zu
streuen. Die Spitzen der hohen Berge=Träger des blauen Baldachins, der über der
Königin schwebte, rötheten sich in ihrem Abglanz, und der Schimmer ihres
Heimgangs flog zitternd über die unzähligen Gärten und Lusthäuser, die sich von
allen Seiten in den sanftesten Abhang herunter zogen. Der mit ihrem wallenden
Lichte überschwemmte Teppich grünender Triften, der sich, so weit der Blick
reichen konnte, in dem Grunde verbreitete, warf, mit den Gruppen ruhender
Herden, in seiner unglaublich sanften Verschmelzung einen Wiederschein in die
Höhe, der selbst ein sterbendes Auge noch würde erquickt haben. Die meinigen —
ach! wie soll ich dir das Wohlbehagen versinnlichen, in dem sie schwammen! —
Alle bessere Empfindungen meiner Seele schienen sich gegen meine Sehnerven zu
drängen, und aus ihnen Dank gegen Gott, Freude des Lebens und Zufriedenheit mit
der Welt zu saugen. Wie liebt, wie ehrt man sein Selbst in solcher Stimmung!
Wie gereinigt fühlt sich das Herz von allen verächtlichen Wünschen, die es in
so seligen Augenblicken nicht einmal zu begreifen vermag! O könnte ich den
rauhen schmalen Eingang dieses Berges für mehrere Seelen zu einer so edlen
Absicht benutzen, als mein trefflicher Freund durch ihn bey mir einzelnen
Kranken erreicht hat! Ich würde seine dahinter ruhenden Geheimnisse durch ein
vorgezogenes Tuch so ganz versperren, wie sie es mir bis auf diesen Augenblick
waren, und würde euch, meine Freunde und Bekannten, an einem Festtage auf einem
Kreis von Rasenbänken um das Amphitheater dieser Steinmasse versammeln, euch,
die ihr Stunden lang seines Stolzes und seiner Talente nur ein armseliger
Stümper in seinen Nachahmungen der unerreichbaren Natur, und ein undankbarer
Schwächling gegen jenen fühlbaren und doch unbekannten Werkmeister sey, der die
Sonne in seiner Gewalt hat, und die Kräfte des Universums leitet wohin er will.
Doch ist es nicht schon eine strafbare Thorheit, das Staubkorn gegen den
Unermeßlichen zu wären, das er, ohne zu achten wohin es flog, von dem
Saume seines Kleides abblies — seines mit jenen Flittern, die wir
Sonnensysteme, Stern und leuchtende Welten nennen, besetzen, ernsten, ewigen
Kleides? —
Mein Freund, durch das Mitgefühl meines Entzückens,
dessen Schöpfer er war, auf das innigste gerührt, reichte mir stillschweigend
die Hand, um mich an dem Bande der eingebrochenen Abendröthe, die wie ein Brautgürtel
dieses Thal der Freude umschlang, in seine Wohnung zu führen. Ich sah mich noch
einmal nach dem Felsen um, und fand hier am rechten Ort den Plan der
Verzierung, mit der ich die Gegenseite zu verkrüppeln gedachte, einfacher und
edler ausgeführt, als ich ihn entwarf. Hier war der aus einem dunklen Haine
hervortretende Theil des Gebirges mit einem Portale bekleidet, das an den
Janustempel erinnerte, der, von Numa erbaut, nur in einem Durchgange bestand.
Seine Pforte, die von dieser Friedensseite nie geöffnet wird, schließt sich nur
von innen armen Flüchtlingen auf, die, von äußern oder innern Stürmen
aufgeschreckt, Wildniß und Einsamkeit suchen. Von dem Ungefähr und ihrem
Mißmuth bis vor diesen Felsen getrieben, zittern sie scheu und gescheucht durch
die Dunkelheit dieses Schlupfwinkels, und fallen — statt in einen Abgrund, den
sie in ihrem Ingrimm wünschen und fürchten — fallen sie — ach wie sanft! — in
die umschlingenden Arme der lieben und tröstenden Natur! In diesem Sinne hat
Saint=Sauveur, schon vor mir, manchen durch das Gaukelspiel der Welt verdrehten
Kopf, manches kranke Herz, das seiner Besserung werth war, hierher verlockt, und
durch einen Blick in dieß Thal und dieß Sonnenbad geheilt. Nie ist wohl eine
romantische Anlage glücklicher ausgeführt und zu einem edlern Zwecke benutzt
worden, als diese.
Mein Freund hatte nicht nöthig, und seine Gutmüthigkeit
ließ es auch nicht zu, mich an meine Korinthischen oder Toscanischen Säulen zu
erinnern: ich schämte mich schon selbst genug alles dessen, was ich seit
gestern und heute Unwahres und Anmaßliches über Talente und Lehrmeister,
Bastiden und Baukunst vorgebracht, und besonders der Kennermiene, mit der ich,
im Widerspruch meines Bewußtseyns, gegen den Marquis groß gethan hatte. In dem
Schlage jeder Nachtigall, auf jedem Schritte, den ich that, fand ich meine
verdiente Bestrafung. Unter hohen Akazienbäumen, die in diesem mit Bergen
umzäunten Thale, wie in einem Treibhause, schon Schatten gaben und blühten,
gelangten wir in die Wohnung meines lieben Begleiters, und traten in einen
Saal, der selbst in seinen reichen Verzierungen das warme Herz des Besitzers
und seinen unverdorbenen Geschmack verrieth. Rührende Gemälde der größten
Meister sprachen hier zum Auge; mich zog aber noch zu sehr das mit meiner Seele
verschmolzene Bild der Natur von allem ab, was Menschenwerk war. Ein Blick bald
durch dieses, bald durch jenes Fenster, suchte noch einen Reitz von ihr hinter
dem Florkleide zu erhaschen, das der Abend über sie herwarf, bis die verdickte
Dämmerung sie ganz meinen Augen entzog, die Vorhänge an den Fenstern herab
fielen, ein duftendes Mahl meinen Hunger weckte, und mich überzeugte, daß ich
noch nicht so ganz zu den ätherischen Geistern gehöre, als mir mein beseligtes
Herz gern weiß gemacht hätte.
„Iß nicht so hastig — trink mit Bedacht von diesem Wein
— er reift auf jenen vergoldeten Bergen,“ wiederholte mein Freund mehrmalen.
Ich sah ihn lächelnd an, glaubte ihm zu folgen, aber Schwärmerey trat immer
meinem Vorsatz in den Weg. Ich aß und trank wie ein Verliebter, und antwortete
verkehrt auf alles, was nicht Bezug auf das Wunderbare hatte, das mir
vorschwebte. — „Ich sehe wohl,“ sagte endlich der Marquis, „ich bewirthe dich
nicht, wie es dein Taumel verlangt. So laß uns denn von ihr sprechen, die sich
durch einen Blick aller deiner Kräfte bemeistert hat. O du kennst die Göttliche
noch nicht in ihrer größten Schönheit. Morgen — ist der Mensch nicht glücklich,
der das zu einem andern Sterblichen sagen kann? — morgen will ich dir ein Schauspiel
geben, das einen Gottesläugner bekehren würde. — Du hast wohl, als ein wahrer
Berliner, gar nicht daran gedacht, daß die Sonne auch aufgeht?“ — „Ja, Freund,“
rief ich, und klatschte in die Hände, „das Schauspiel sollst du mir geben.“ —
„Ehe wir nach Toulon aufbrechen,“ fuhr er fort = = = — „Ach das abscheuliche
Toulon!“ fiel ich ihm in die Rede; was sehe ich an seinen Bastionen, Galeeren
und seinem Arsenal? Ich bitte dich, laß mich hier, lieber Saint=Sauveur.“ —
„Ich glaube,“ sagte der Marquis lächelnd, „die Bewunderung der Natur könnte
dich, wie das Gebet einen Mönche, bis zur Unthätigkeit entzücken. Sie thut es
schon jetzt. Du schwärmst von ihr und vernachlässigst sie, denkst nicht daran,
sie in ihrem Nachtputze zu überfallen, und ihrem Busen noch einen Liebeskuß
aufzudrücken, ehe sie einschläft.“ — Ungeachtet meiner dichterischen Stimmung
verstand ich den Marquis nicht ganz, bis der Wink eines Bedienten ihn von
seinem Stuhl aufjagte, der Vorhang aufflog, und er mich in der schauerlich
festlichen Minute an das Fenster stellte, wo der volle Mond in dem reinsten
Ergusse seines Schimmers zwischen zwey Bergen herauf stieg.
Wie vorhängend in dem dunkelblauen Gewölbe, gleich
einer aus Topas geschliffenen Lampe, blickte nicht dieser glänzende Körper, als
ob er in der heutigen Nacht jede andere neben ihm spielende Welt von seiner
Umarmung ausschlösse, auf seine kleine freundliche Thalschöne herunter, die,
wie abgesondert von dem übrigen Erdballe, zitternd ihre verstecktesten Reitze
seinem liebkosenden Lichte zu enthüllen schien! Das Säuseln des Abendwindes in
den jungen Sprößlingen, Blättern und Blüthen, das dem Geräusch der Küsse, dem
Lispeln der Liebe glich, und der Einklang des Wasserfalls in der Ferne — alles
was ich sah, hörte und ahndete, traf einen Berührungspunkt in meinem der Weihe
der Natur geheiligten Herzen. Mit gefalteten Händen blickte ich in dieses
nächtliche Fest. Ich konnte mich ungestört in Betrachtungen versenken; denn
mein Freund, der neben mir stand, schonte schweigend meine zarten Empfindungen.
Der Mond hatte schon viele Meilengrade seines Bogens durchlaufen — nach stand
ich da, und sah ihm nach, und maß ihn, und lächelte ihm zu. Endlich riß ich
mich loß. — „Was für ein glücklicher Mann bist du!“ wendete ich mich gegen
meinen Freund mit schwacher Stimme, drückte ihm die Hand, und folgte der Kerze,
die mich in mein Schlafzimmer leuchtete.
Ich war so vertieft in meine Mondscene, daß ich den
jungen Menschen, der mich bediente, nicht eher gewahr ward, als bis er mir
meine Halbstiefeln auszog, die zwar von dem Dornenwege, durch den sie mir heute
halfen, hier und da zerkratzt, übrigens aber so wenig beschmutzt waren, daß
selbst unser reinlicher Freund Jean Paul keiner noch so weißen Chemise würde
gewehrt haben sich ihnen zu nähern. Ehe ich den Bedienten entließ, bat ich ihn,
mich morgen ja vor Aufgang der Sonne zu wecken. „Dafür sorgen Sie nicht,“
antwortete er; „unser ganzes Haus ist alsdann munter vom Größten bis zum
Kleinsten. So oft wir in dieß Thal kommen, versäumt gewiß keiner von uns
fünfen, die stets um den Herrn sind, diesen rührenden Anblick. Wir waren
armselige Menschen, ehe wir in seine Dienste traten — Trunkenbolde und Spieler,
besonders der Kutscher, der ein Thüringer ist. Einer nach dem andern wurde von
seiner Untugend geheilt. Ich war — ich gestehe es zu meiner Schande — ein
verlorner Wollüstling; aber kaum drey Tage hatte ich in diesem Paradiese
gelebt, dreymal nur die Sonne aufgehen sehen, als mir die Schuppen von den
Augen fielen, ohne daß ich sonst etwas dagegen gebraucht hätte.“ — Ich schob
meine Nachtmütze etwas ungläubig zu rechte. — „Trauen Sie meiner Erfahrung,“
erwiederte er mir, nahm meine Halbstiefeln unter den Arm und wünschte mir eine
ruhige Nacht. Wäre es möglich, dachte ich zuletzt noch im Bette, daß diese solarische
Cur bey Clärchen anschlüge? Vielleicht! Sobald nur kein Domherr mit ihr an das
Fenster tritt.
* * *
Toulon.
In der Nacht, den 19. Februar.
Ich hörte Saint=Sauveurs Stimme schon im Saale bey
meinem Erwachen, sprang gestärkt von meinem Lager auf und eilte zu ihm. Die
Nacht war im Scheiden, als ich eintrat. Eine kühle Luft drang auf mich ein, als
ich das Fenster öffnete, und verstärkte den Schauer, den der Mensch, wie die
unbelebte Natur, in der Nähe der Beglückung empfindet. Desto willkommener war
mir das warme Getränk, das man mir reichte. Noch dauerte es einige Pulsschläge,
ehe die ersten Vorläufer des Tags den Himmel begrüßten. Einzelne Vögel
zwitscherten ihnen entgegen. — Als aber der Saum des Horizonts sich mit einem
Bande umzog, das mit Rubinen — armselige Vergleichung! — gestickt schien,
bereiteten sich schon tausend singende Stimmen, blökende Kehlen, seufzende und
betende Herzen, zu dem Einklange in den großen Choral, zur Zustimmung in den
allgemeinen Dank vor; und als der erste kleine Bogen des Zirkels über den
silbernen Wasserfall blinkte, und als er schon so feurige Strahlen ausspie, um
dem geblendeten Auge für die folgenden Hinblicke bange zu machen, in denen er
höher, immer brennender höher trat, und als sich nun zwischen dem Einschnitte
des Gebirgs die ganze große flammende Rundung unaufhaltsam in das blaue
Weltmeer des Aethers stürzte — da erwachte alles, da dankten, jauchzten, bebten
ihr alle Organe der Schöpfung entgegen. Ein Kind weinte bey einem heftigen
Schalle — Erstaunen läßt seine Augen trocknen. Der Mann von Gefühl staunt,
empfindet und weint. Keine andere Sprache hatten wir jetzt, ich und mein
Freund.
Die Vergoldung des Thals war vollendet — vollendet in
seiner ganzen Pracht. Lasurgrün umzitterte Blätter und Bäume, ihre Schäfte
waren Gold, die Dächer sprühten Funken, die Fenster flimmerten, das Gewölbe
über ihnen allen glühte, und meine Brust hob sich unter den Schlägen des
überwältigten Herzens. Jetzt drangen von den Hügeln die Schalmeyen der Hirten
in mein Ohr. Die Melodie ihres Baskischen Gesangs, die Andacht ihrer
Morgenlieder ergriff mich, und ich theilte nun den Reichthum meiner von den
myriadenfältigen Schönheiten überschwängerten Blicke, und warf, so viele ich
deren von den Gegenständen meiner Bewunderung loszureißen vermochte, auf das
freundschaftliche Wesen in mir, das jeden Thautropfen der äußern Sinne mit
dürstendem Verlangen auffing, und zu einer Schnur für die Ewigkeit an einander
reihte. Seines edlen Geschäftes bewußt, würde es jeden unächten Blendling, der
ihm zugeflossen wäre, erkannt und verachtend weit von sich geworfen haben — den
Stolz mit allen seinen Kronen und Zeptern, den Neid, den Menschenhaß und die
Rachsucht. — Die Schmeicheleyen der Wollust glitten von ihm ab, wie Fliegen von
einer polirten Stuhlfläche. Ohne Gehör für die Stimme der Sirenen, ohne Augen
für ihre Reitze, ohne Gefühl für den Druck ihrer Hände, beantwortete es ihre
zugeworfenen Küsse mit Ekel. Zu reich für das Almosen verrufener Münze, zu
große für gemeine Freuden, schwamm es in reinem Schwanengefieder weit von der
schlammigen Erde, leicht, vertrauend und froh, dem Throne der Unerforschlichen
zu. Seine Empfindungen waren Gebete, und der Drang seiner Wünsche war, sich
mitzutheilen und wohlzuthun.
O du holder Vertrauter meines heutigen Entzückens,
schöner, schlanker, süß träumender Genius, den der Zufall mit einer irdischen
Hülle bekleidet hat, die seiner nicht werth ist, könntest du erscheinen, wie
ich dich ahnde, und einst die Unsterblichkeit dich ausmalen und ausstellen wird;
der Tyrann würd abstehen, sein Schwert, die Verleumdung, den Dolch ihrer Zunge
gegen dich zu wetzen — der Geitz würde dir seine Schätze anbieten, und der
Fürstenstolz selbst vor deiner Hoheit sich bücken. Möge nie ein stinkender
Nebel aus den Sümpfen der Welt mir die Würde deiner Schönheit verstecken, nie
ein unreiner Hauch deine himmlische Klarheit verunkeln, und jede Perle, die du
in dem Oceane der verflossenen Stunde geschöpft hast, sich in dem Hauptschmucke
deiner Ewigkeit wiederfinden!
Wenn Schwärmerey Vergebung verdient, so ist es die für
die Tugend, und an einem so heilig romantischen Morgen, als mein heutiger war.
Ach das häßliche Toulon! Der Wagen meines Freundes hielt am Ende seines Parks.
Seine Rosse schnauften und stampften und wieherten im Gefühl ihres Muths. Und
ich mußte dich verlassen, Thal der Unschuld und Freude, dich, Sonne über ihm? —
Ach mir war, als könne nur Finsterniß hinter den Bergen liegen. Ich blickte
noch einmal wonnetrunken in ihr heiliges Antlitz, und breitete meine Arme aus,
als wollte ich den ganzen Weltkreis an mein liebendes Herz drücken — ich
blickte noch einmal zu ihr hinauf, und unwillkürlicht entschwebte der
harmonische Ausruf meinen Lippen:
Staub, der, zu Gott emporgedrungen,
Am Fußtritt seines Thrones glimmt!
und so so bot ich meinem freundlichen Geleiter die Hand,
stieg hastigen Schritts aus seinem Tempel, durch den Park, in den Phaeton. Hier
faßte er stillschweigend die Zügel, überließ mich ungestört der obern Region,
und sorgte nur, daß wir in der untern nicht aus dem Gleise kämen. Indem wir
über den Steinweg flogen, ergriff ich meine Harfe, und stimmte mit allen Saiten
in den Psalm ein, der seit den zwo Noten, mit denen ich anschlug, in mir
forttönte. — Jetzt waren die Beweise meiner Genesung vollständig; die Natur
hatte den letzten beygebracht, denn sie hatte mein Dichtergefühl wieder
erweckt. Mein Herz schwoll, meine dunklen Empfindungen bildeten sich zu
harmonischen Worten, ätherisches Feuer erhellte den Blick, den ich dankend gen
Himmel schlug, eine singende Lerche stieg und funkelte mit ihm zugleich in die
Höhe, und mein Lied begann.
Staub, der, zu Gott empor gedrungen,
Am Fußtritt seines Thrones glimmt,
Ziel meines Psalms, im Chor gesungen,
Das jubelnd, dich umschlungen,
In deinem Aether schwimmt!
Seit du, der leeren Nacht entsunken,
Dein stolzes Licht von Ihm geholt,
Sah es in dem Gewühl der Funken,
Die durch den Luftraum prunken,
Schon manchen Stern verkohlt.
Nur deinem Urgestirn veraltet
Kein Reitz! Mit gleicher Kraft beflammt,
Treibt es sein großes Rad, entfaltet
Die Zeiten, und verwaltet,
Wie sonst, sein Mittleramt.
Und lenken aller Erden Psalmen
Gleich nicht den Ausfluß seines Strahls,
Doch überkleidest du die Palmen
Des Athos, wie die Halmen
Des rauhsten Schweizerthals!
Hat nicht ein Geist, aus dir geboren,
Der Liebe Freudenquell gewürzt,
Der aus den Urnen aller Horen,
Vertheilt, doch unverloren
In alles Wesen stürzt?
Juwel in des Erschaffers Kranze,
Und erstes Wunder seines Hauchs,
Du leitest, schmückst, vereinst das Ganze —
Eins fehlt nur deinem Glanze —
Bewußtsein des Gebrauchs.
So viel dir Kraft ward, doch entquellen
Dir Triebe nie, die, warm und rein,
Die Brust des edlen Mannes schwellen,
Freund seiner Mitgesellen
Am Bau der Welt zu seyn.
Du stehst im größten Wirkungskreise,
Als Sklave, der im Joche prangt —
Beherrscher seiner kurzen Reise
Durchs Leben, dringt der Weise,
Wohin sein Herz gelangt.
Er wägt sein Daseyn nur nach Thaten,
Nach Pfunden, die sein Geist erringt,
Froh, wenn der Hoffnung seiner Saaten
Auch nur ein Keim gerathen,
Der in die Zukunft dringt.
Sey größer noch! Um deine Würde
Vertauscht, selbst auf dem Weg ins Grab,
Der Staubbewohner einer Hürde
Nicht seines Lebens Bürde,
Nicht seinen Wanderstab.
Denn bald zu höhern Geistesproben
Entrückt den Prüfungen der Zeit,
Schwingt ihn die Hand, die dich erhoben,
Von diesem niedern Globen
In die Unsterblichkeit.
Durch diesen heitern Blick ins Freye
Verliert im Nebel meiner Bahn
Sich keine Stunde mir — ich weihe
Dem Ausgang sie, und reihe
Sie meiner Zukunft an;
Daß, wenn ich einst zu höhern Spähren
Aus deinem Lichtweg übergeh´,
Der Fruchtstaub vieler guter Aehren
Noch in dem Thal der Zähren
Um meinen Hügel weh´.
* * *
Als meine Harfe verklungen war, und mein begeisterter
Blick aus seiner Höhe zurück auf die Erde fiel, hätte ich gern meine
abgestimmten Saiten aufs neue gespannt, wäre ich nicht zu erschöpft gewesen, um
mich mit Hülfe ihrer Harmonie eben so vogelleicht über den rauhen Weg zu
schwingen, der in einem Zusammenhange von Felsenstücken und Bergklüften vor mir
lag, als sie mich unvermerkt über seine erste Hälfte gebracht hatte. Es ärgerte
mich, daß mein Führer das stolze Gefühl meiner Schwungkraft durch eine
Bemerkung zu necken suchte, die ziemlich spöttisch heraus kam. — Ich sehe dir
an,“ sagte er, „daß du mit deinem Ausfluge in das Reich der Ideen nicht übel
zufrieden bist. Ich wünsche dir Glück dazu: nur dünkt mir, du hättest besser
gethan, ihn auf den schicklichern Zeitpunkt aufzuschieben, in den wir jetzt
eintreten. Erst hier, wo leider der Weg äußerst schlecht zu werden anfängt,
hätte auch deine Verzückung anheben sollen. Hier würdest du so vie dabey
gewinnen, als du auf dem eben zurück gelegten dadurch verloren hast. Ich kann
dir, da ich dich jetzt nicht störe, wohl sagen, daß es einer der angenehmsten
ist, den ich kenne, ist nicht nur die ungleich bessere Hälfte des Ganzen,
sondern an romantischen Aussichten und lachenden Gegenständen fast so reich,
als das Thal meiner Bastide. Alle diese freundlichen Winke der Natur sind dir,
während deiner Unterhaltung mit der Sonne, entschlüpft. — Es ist,“ fuhr er mit
einem philosophischen Seitenblicke fort, „nur zu oft der Fall bey euch sublimen
Leuten, daß ihr eure geistigen und leiblichen Gelüste nicht haushälterisch
genug gegen einander abzuwägen und nach dem jedesmaligen Stundenbedürfnisse zu
vertheilen versteht. Ein gen Himmel geschlagenes Auge nimmt offenbar eine
falsche Richtung, wenn fröhliche Kinder, farbige Blumen unter ihm spielen und
sprossen, oder menschliches Elend um seinen theilnehmenden Blick bettelt. So
lange Milton noch sehen konnte, überließ er sich allen sinnlichen Freuden des
irdischen Paradieses seiner Heimath, und dachte nicht eher daran, sich eins zu
dichten und seinen Verlust zu besingen, als bis ihm seine Blindheit keinen
andern Zeitvertreib zuließ. Auch euer Kleist, wie mir seine Freunde erzählt
haben, saugte mit thierischem Wohlbehagen jeden Balsamtropfen des Frühlings
ein, so lange er dauerte. Erst in den rauhen Wintertagen wiederkäute und malte
er ihn. Die Dichtkunst, wie jede Schwelgerey des Geistes, sollte dem Weltbürger
zu keiner andern, als zur Zeit der Entbehrung, unter dem Drucke des Müßiggangs,
oder wenn sonst irgend ein Zufall seine äußern Sinne gelähmt hat, zur Krücke
dienen.“ — Bey meiner dichterischen Erhitzung, die mir noch im Blute lag, mußte
mich ein so kalter gemeiner Ausdruck nothwendig verschnupfen: doch fehlte mir
in diesem Augenblicke die Stimme, nur ein Wort dagegen vorzubringen; so sehr
wurde ich durch einen jähen Abgrund erschreckt, an dem wir nahe vorbey
schwebten. Ich schmiegte mich, so lange dieser furchtbare Anblick dauerte, mit
klopfendem Herzen an den Marquis, und erst als wir hinter Aubogne in einen
Hohlweg lenkten, kam ich wider zur Sprache. — „Du hast mich mit deiner vorigen
Aeußerung,“ wendete ich mich nun zu ihm, „ganz in Erstaunen gesetzt, lieber
Saint=Sauveur, weil ich sie dir am wenigsten zutraute. Ich habe immer die
Entwicklung großer Gedanken durch Philosophie oder Dichtkunst, jedes Nachspüren
unserer feinen Empfindungen, jenes Brüten über uns selbst, und alles, was du
Krücken des Müßiggangs zu nennen beliebst, für die nützlichste Beschäftigung,
für die edelste Bestimmung des Menschen gehalten; und ich kann meine wichtigen
Zweifel gegen deine Behauptung = = = — „Nicht leicht,“ fiel mir der Marquis in
das Wort, „unter einem stärkern Widerspruch von Umständen vortragen, als so
kurz nach dem Schrecken, den du gehabt hast. Müßig und dem Schicksale
überlassen, wie du neben mir da sitzest und zitterst, was könnte ich dir
besseres für deine Beruhigung empfehlen, als eben die Krücke, die auf jenem
gebahnten Wege dir ganz entbehrlich war? Wie hinderlich hingegen müßte sie
nicht einem in Thätigkeit gesetzten Manne werden, der, wie ich zum Beyspiele,
unvernünftige Geschöpfe vor sich, ihr Lenkseil in Händen, einer Menge Gefahren
auszuweichen, mit Einem Worte, statt in dem Empireo, auf der Erde zu thun hat!“
— „Du hast vollkommen Recht,“ antwortete ich unter Zittern und Beben; denn in
der Hitze des Streits — wie dankte ich Gott, daß er in einem Hohlwege vorfiel!
— hob und schwenkte mein Opponent seine Peitsche. Es war nur ein Luftstreich,
eine von den unwillkürlichen Bewegungen, die wohl einem Redner entwischen
können, der Eindruck zu machen sucht: aber selbst mit dem scharfsinnigsten
Vorbedachte würde er schwerlich vermocht haben, zur Unterstützung seines Satzes
einen kräftigern Beweis aufzutreiben, als diesen Hieb in den Wind; denn seine
vier Schweißfüchse verstanden diese Redefigur unrecht, bäumten sich, schlugen
über die Stränge, und wollten sich lange nicht besänftigen lassen. Ich
verlangte es weiter nicht bewiesen zu haben, daß Philosophen so gut wie Dichter
bedenkliche Führer, und in Vorfällen des täglichen Lebens nicht halb so viel
werth sind, als ein besonnener Mann. Aber — mein Gott — dachte ich so vor mich
hin — warum fährt doch der liebe Marquis selber, und läßt seinen Kutscher
hintenauf stehen, der doch sicherlich den Müßiggang nicht zu benutzen weiß, den
er ihm läßt?
Unter diesem Selbstgespräche, das ich so oft wiederholte,
als der Wagen schief ging, erkletterten wir endlich die Höhe eines steilen
Berges, von der sogleich unser leichtes Fuhrwerk über Stock und Stein in den
Kessel einer rußigen Stadt rollte, die man Ollioules nennt. Hier, wo wir einige
Stunden anhielten, nahm ich die Gelegenheit wahr, mich heimlich von dem Marquis
weg in den Stall zu meinem Landsmanne zu stehlen — nicht so wohl um sein
Deutsch, als seine Meinung über die Statthaftigkeit meiner Besorgniß an der
Seite meines vornehmen Führers zu hören. Nachdem er meine freundliche Ansprache
höflich beantwortet, mir seine Pferde von den Zähnen an bis zum Schweife,
wortreich wie ein Roßtäuscher, gerühmt, und mir im Verfolg seiner
Dienstgeschäfte alle die Waren nach ihren verschiedenen Benennungen an den
Fingern hergezählt hatte, die außer dem Phaeton noch unter seinen
Hauptschlüssel ständen, dachte ich, ich müßte mich doch auch zeigen. Ich fing
also damit an, meinem Schulfreunde Ovid die Trauergeschichte des jungen
Waghalses, der unserm heutigen Fuhrwerke den Namen gegeben, sehr gelehrt
nachzuerzählen, und so kam ich denn ganz natürlich, wie du selbst siehst, auf
den Hauptknoten. — „Ich bin zwar nicht furchtsam,“ sagte ich, „doch muß ich
gestehen, daß ich mich sehr ungern von jemandem fahren lasse, dessen Beruf es
nicht ist. Es bleibt immer, zumal bey schlechtem Wege, ein Wagstück.“ — „Das
läßt Sie Gott reden,“ versetzte der Thüringer und klopfte mich auf die Achsel.
„Was deines Amts nicht ist, sagt das Sprichwort, laß deinen Vorwitz. Wer denkt,
daß ich Gefallen an so einer Fahrerey habe, betrügt sich. Es geht einem
ehrlichen Kutscher, der das Seinige gelernt hat, bitter ein, wenn er von hinten
her zusehen soll, wie vorn alles der Kreuz und Quere geht. Die Regierungskunst
— in dem Sinne, wie ichs nehme — fliegt niemanden an, er mag so vornehm seyn
als er will. Er muß sie aus dem Fundamente gelernt, muß den Blick frey, Ehre im
Leibe, Augen im Kopfe haben, und ein handfester Kerl seyn. Ich sage immer: Der
Stein weicht nicht aus, du mußt ihm ausweichen, und wer sich in die Gefahr
begiebt, der kommt darin um. Mit meinem gnädigen Herrn wagt man zwar weniger
als mit andern seines Gleichen. Er versteht sich so ziemlich auf die Pferde, und,
sehen Sie, ich spanne ihm keins vor, das nicht auf den Wink gehorcht; und so
geht es denn tolle genug, so lange er nur nicht mit der Peitsche vagirt, wie
vorhin; denn das können nun einmal meine Füchse nicht leiden. Da war ich aber,
noch als ein junger Kerl, in Franken, bey einem — Gott vergebe mir die Sünde! —
fürstlichen Marstall angestellt. Die Gespanne waren gut und brav, das muß ich
sagen, und der Kutscher = = = doch Eigenlob stinkt. Mein damaliger Herr aber
glaubte in seinem Dunkel, das Handwerk, das mir manchen sauern Schweißtropfen
gekostet hatte, wäre ihm angeboren, und verstand doch, wenn ich hinten auf der
verteufelten Perutsche stand, nicht einmal meinen Zuruf. Es war zum Wälzen.
Nicht zehn Schritte konnte er fahren, so waren auch schon die Zügel verwickelt.
Nun verlor er den Kopf — nun legte er sie, statt mir das Wort zu gönnen, in die
Hände seiner Frau Gemahlin, die ihm nie von der Seite wich. Die wirrte sie nun,
das Gott erbarm, so aus einander, daß mir grün und gehl vor den Augen ward; denn
nun wußte gewiß weder das Handpferd noch das Sattelpferd, welchen Strang es
anziehen sollte, und doch sollte unser eins Acht geben, daß die Räder im Gleise
blieben. Der Teufel hätte das gekonnt und ich nicht! Wenn ich Hott schrie,
lenkten sie wüste. Rief ich: Vorgesehen Ihre Durchlaucht, es kommt ein Graben!
so waren die Vorderpferde schon drin; denn es ging rasch, müssen Sie wissen.
Blieben nun die gnädigstn Herrschaften mit der Axe hängen oder kippten um, so
gaben sie es nicht ihrer Ungeschicklichkeit, — mit allem Respekt gesprochen —
sondern lieber dem Kutscher und den Pferden Schuld, zogen jenem an Lohn, diesen
an Hafer ab, weil der eine zu dumm, die andern zu muthig wären. Wie das ewige
Umwerfen endlich dem Wagen bekam, das können Sie Sich vorstellen. Alles ward
morsch, brach, und zerriß. Nun trommelte man Sattler und Wagner, die nicht
bezahlt wurden, zusammen, um das Zerbrochene zu flicken und das Geflickte zu
lakiren. Deswegen hielt es nicht eine Minute länger, als Wurm und Rost wollten.
Um es kurz zu machen, da das hohe Brautpaar, trotz der täglichen Erfahrung,
sich weder rathen noch warnen ließ, und ich mich vor den fremden Kutschern, die
von dieser Stallwirthschaft hörten, und davon einige mit mir zugleich in der
Lehre gestanden hatten, zu schämen anfing, legte ich eines schönen Morgens
meine Striegel und Peitsche vor das Schloßthor, machte mich mit meinem
Schnurrbart aus dem Staube, und, so viel ich weiß, liegt Perutsche und
Staatswagen noch heutigen Tags in der Reparatur. Wie es mir nachher erging, ist
auch drollig. — Das lassen Sie Sich noch erzählen = = = — „Auf ein andermal,“
unterbrach ich ungern den treuherzigen Schwätzer; aber ich durfte mich
doch länger nicht vor meinem Freunde versteckt halten, der schon ein paarmal
nach mir gerufen hatte.
Er erwartete mich an einer runden Tafel, die, mit einem
Schinken zwischen zwey Weingläsern besetzt, wie ein Still=leben von de Herem
aussah. Der Hunger würzte indeß die mäßige Kost, und ich setzte mich eine
Stunde nachher gesättigt und um vieles beruhigter zu meinem Führer in den
Phaeton. Der Kutscher war mein Freund geworden, die Pferde waren erfrischt, und
gegen den Weg war nichts einzuwenden. Sobald wir auf die Höhe kamen, sah ich
Toulon mit seinen Thürmen und Wällen hinter einem Haine von Oelbäumen hervor
schimmern. Die Straße zog sich, wie der Gang in einem Englischen Garten, sanft
durch ihre Beschattung hindurch, die Strahlen der Sonne brachen sich an ihren
Zweigen, und die schönen Aussichten nahmen an Mannigfaltigkeit, wie mein Herz
an Frohsinn, zu, je näher wir der Stadt kamen. Desto mehr befremdete mich die
Stille des Marquis, und der Ernst, den ich auf seinem sonst so heitern Gesichte
bemerkte, und ich weiß mir es auch jetzt noch durch nichts zu erklären, als
durch die mir unbekannten Geschäfte, die ihn nöthigten, sein schönes Thal
diesen Morgen, und diesen Abend seinen Freund mit dem Rücken anzusehen; denn
sobald wir in dem silbernen Anker abgestiegen waren, kleidete er sich nur um,
übergab mich dem Wirthe, und ließ mich in einer großen Stube allein.
Ob wohl, dachte ich, indem er sich eiligst mit dem
Wunsche einer guten Nacht von mir entfernte, die Langeweile, in der er dich da
in einem fremden Hause sitzen läßt, auch zu deiner Nachcur gehören soll? und
that durch den Sinn dieser Frage wohl niemanden mehr Unrecht als mir selbst.
Bin ich denn nicht Philosoph? bin ich nicht Dichter? empfindsam im höchsten
Grade, und mir selbst Gesellschafters genug? Das kann vielleicht wahr, diese
Hülfsmittel können auch vortrefflich seyn, davon ist die Rede nicht; nur kann
man sie, wie ich das heute schon einmal erfahren habe, meistens nicht so geschwind
herbey schaffen, als man ihrer benöthigt ist. Was aber ein Deutscher zu allen
Zeiten bey der Hand hat, ist die fruchtbare Mutter so vieler Raritäten und
Sammlungen, ist die Neigung der Seele, die man Liebhaberey nennt. Wenn
er diese zu befriedigen Gelegenheit findet, ist er an jedem Orte geborgen. Sie
macht in unserm National-Charakter unstreitig einen Hauptzug aus, der, ob er
schon den cultivirten Classen anderer Völker nicht ganz fehlt, doch bey ihnen
ungleich oberflächlicher, und lange nicht so ausgebreitet ist als bey uns. Wer
kann die Spur dieses Naturtriebes in unsern Cabinetten und Bibliotheken
verkennen? Ohne bloß bey dem ersten Endzwecke der Anhäufung litterarischer und
artistischer Schätze stehen zu bleiben, hat der Deutsche gewiß immer noch ein
Lieblingsfach nebenbey. Hier ist das gemeine Nützliche oft den unbrauchbarsten
Dingen untergeordnet, sobald sie nur ein Zeichen des idealischen Werths an sich
tragen, den ihnen der Sammler beylegt. Daher sucht der eine vorzüglich alte
Drucke, der andere nicht sowohl Meisterstücke des Grabstichels, als Blätter,
die sich manchmal nur dadurch rar gemacht haben, weil sie bey ihrer ersten
Erscheinung nicht geachtet oder zu Pfefferdüten verbraucht wurden. Wird nicht
oft das Bildniß eines Feldherrn, Arztes und Fürsten, das sich aus angeführter
Ursache verlor, theuer bezahlt, als sein ganzer Nachruhm werth ist, nicht des
schönen Stichs, sondern der Vollständigkeit der Sammlung wegen, in der es eine
Lücke ausfüllen soll? Nur ein Deutscher kann auf den Einfall kommen, Bibliothecam Donquichottianam
anzulegen, und mit der mühseligsten und kostbarsten Beharrlichkeit die Bücher,
die der Autor des Romans dem Museo seines Ritters andichtete, wirklich in ein
Cabinet zu vereinigen. Nur die Festigkeit, Geduld und Zeit eines Deutschen
konnte hinreichen, den umfassenden Plan auszuführen, nicht allein ein
grundgelehrtes neun Bändes starkes Werk eigenhändig zu schreiben, und ihm zu
Gefallen eine eigene Druckerey in seinem Hause zu errichtten, sondern, um es
sogleich zu dem seltensten aller Bücher und Druckschriften zu erheben, der Zeit
durch den listigen Ausweg zuvorzukommen, daß er nur ein einziges Exemplar davon
abziehen ließ. *)
_____________________
*)
Calendarium Romano-Germanicum medii aevi. etc. Adornavit Anton Ulric ab Eralh —
Exemplar unicum, partim prelo subjectum, partim libera manu successive
impressum etc. in IX. Tomos. Dillenburgi 1761.
_____________________
Ich will zwar nicht läugnen, daß dieser schöne heimische
Aufbewahrungs= und Erhaltungstrieb, wenn er nicht auf ein festes Gehirn trifft,
leicht in die fixe Idee eines Wahnsinnigen ausarten kann; aber genug, er mag
sich zeigen wie er will, daß er da ist, das Herz seines Besitzers füllt und
erwärmt, und ihn, wie die Tugend, auf allen seinen Wegen begleitet. Sein
Städtchen ist so klein, das nicht mehr als Einen Spießbürger einschließt, der
mit dem Scharfblick einer Spinne auf Beute lauert, die in das Gewebe seiner Liebhaberey
taugt, und du wirst selten ein Putzzimmer wohlhabender Handwerker ohne eine
Glas= und Raritätenschrank antreffen, auf dem Platze, wo in andern Ländern ein
Schlafstuhl oder sonst ein brauchbares Möbel steht. Wer an Münz= Muschel= und
Steincabinetten keine Freude findet, setzt an ihre Stelle Sammlungen von
Pfeifenköpfen, Siegeln, Visittenbillets, oder Bußtexten. Ich will keiner — sie
mag bestehen aus was sie will — ihren Nutzen absprechen; aber du kennst die
meinige, Eduard, und ich frage dich auf dein Gewissen, ob es wohl viele giebt,
die ihr an Merkwürdigkeit gleich kommen? Jedes einzelne Stück derselben ist ein
Exemplar unicum, ein Autographum, und um so viel
mehr der Aufbewahrung werth, weil es oft die opera omnia eines berühmten Mannes, oder doch eine
momentane Empfindung desselben, authentisch und diplomatisch darlegt, und
zuweilen selbst wichtige historische Zweifel auflöst. Daß mir eine solche
Collection am Herzen liegt, ist mir wohl nicht zu verdenken.
Als ich in Berlin zum Thore hinaus fuhr, schwebte mir,
Gott weiß, kein anderes Bild lebhafter vor der Seele als sie, und von
allen den seltenen Gegenständen, mit denen ich hoffte, auf meiner Reise bekannt
zu werden, waren es die beschriebenen Fensterscheiben, die mir am
meisten in die Augen blinkten. Auch du, mein guter Eduard — um es nur ehrlich
zu bekennen — würdest nicht so leichtes Spiel gehabt haben, mich aus meiner
hypochondrischen Lage zu bringen, wenn nicht ins geheim meine Liebhaberey deine
beredten Vorstellungen unterstützt hätte. So wenig ein junger Botanist ohne
die Ahnung, unbekannte Pflanzen mit nach Hause zu bringen, sich in Wildnisse
wagen würde, die oft kein menschlicher Fuß noch betreten hat, so wenig würde
auch ich, ohne die höhste Wahrscheinlichkeit, meine Sammlung sehr ansehnlich zu
bereichern, von der Stelle gewichen seyn. Jetzt kann ichs sagen, da meine
heimlichen Wünsche über alle Erwartung gelungen sind.
Um nur bey meinem heutigen glücklichen Fund stehen zu
bleiben, so war ich noch keine zwo Minuten allein in der Stube, als meine
spionirenden Blicke ihren Gang und die Urkunden der Fensterscheiben in
Untersuchung nahmen. Ich mußte erst eine Menge unbedeutender Maximen, elender
oder schmutziger und mit einem Demant in das Glas eingegrabener Verse
durchlaufen, ehe ich in dem wehmüthigen Eheu fugaces, Postume, Postume des Horaz auf Worte
traf, die mich fest hielten. Was mir aber die Scheibe erst lieb und meiner
Sammlung würdig machte, war die Unterschrift. Sie erregte alle meine
Empfänglichkeit, zauberte mich in vergangene glückliche Zeiten und in den
Zirkel meiner würdigsten Freunde. Johann George Sulzer stand darunter, Toulon
d. 31. October 1775. — Meine Augen feuchteten sich an, als sie diesen geliebten
Namen, diese bekannte Handschrift eines verlornen Freundes erblickten, und
ihnen, mit der Uebersicht des bemerkten Jahres und Tages, zugleich die
folgenden wenigen vorschwebten, die, wie ein kleiner ermüdeter Nachtrupp,
hinter den schnell voraus gelaufenen herschlichen. — „Guter Mensch!“ stand ich
vor diesem zerbrechlichen Monumente, drückte mir gerührt meine eigenen Hände,
und seufzte: „Ach du glaubtest damals noch nicht deine Forderungen an das
Leben schon so weit abgetragen und den Abschluß deiner Rechnung so nahe; ob du
gleich mit dem bangen Vorgefühl eines Zwiefalters, der, durch die Annäherung
seiner Verwandlung gedrückt, noch einmal seine schlaffen verschlossenen Flügel
in den Sonnenstrahlen auszudehnen versucht, dem warmen Aether dieses Landes
zuschwebtest. — Aber welche Luft ist balsamisch genug, den durch den Wurm des
Todes benagten Lebenskeim wieder in Saft zu setzen! — O wer hätte dir nicht
gern noch länger den Genuß des königlichen Geschenks deiner kleinen Spreeinsel
gegönnt, in deren duftendem Bezirke dir deine und der Natur Freunde so willkommen
warn, und wo du — indem meine frohe Erinnerung seine freundlichen Anlagen
durchstrich — unter den Gesträuchen des Auslandes nur nicht den Giftbaum
hättest aufnehmen sollen, der sich über Gebühr ausbreitete, und so weit um sich
wurzelte, daß deine geheime Sorge vor Unglück mit jedem Frühlinge zunahm! Ich
sehe dich noch, mit welcher ängstlichen Güte du die unerfahrnen Kleinen
abwehrtest, wenn sie unter den Schatten seiner glänzenden Blätter ihren
Spielplatz suchten. Aber du, ehrlicher Schweizer, hattest ihn in der
Unbefangenheit eines Naturforschers, in der Herzenseinfalt gepflanzt, mit
welcher der gutmüthige Träumer Lafontaine seine schlüpfrigen Erzählungen und —
wie weit können uns nicht unsre zufälligen Gedanken verschlagen! — und ich noch
im vergangenen Monate mein Tagebuch schrieb. Gott sey Dank, daß die
gefährlichen Auswüchse desselben in der Asche liegen! Doch ich muß mich von dir
los reißen, liebe Scheibe, damit ich nicht die Zeit verschwatze, die mir zum
Austrocknen einer bessern Lebenspflanze in meinem heutigen Tage für das
Herbarium vivum meines Eduards nöthig ist — und damit du auch nicht mich zu
einer so moralischen Betrachtung verleitest, als die von Swift über einen
Besenstiel.“ — Ich rufte jetzt nur noch den Wirth herein, und fragte ihn, ob
er sich wohl des Mannes noch erinnere, der jenen Tag dieses Zimmer bewohnt
habe. — „Warten Sie einen Augenblick,“ antwortete er, „ich darf nur mein
Contobuch nachschlagen. — Hier habe ich das Blatt. Ach mein Herr! von diesem
flüchtigen Passagier läßt sich nicht viel sagen. Es ist nicht der Mühe werth,
was er in den paar Stunden verzehrt hat, die er hier war. Ich habe von seinem
Gekritzel auf meiner Glastafel nichts gemerkt, sonst hätte ich sie ihm gewiß
angerechnet: denn Sie müssen wissen, daß ich allen den schreibsüchtigen Herren,
die, um ihren Namen glänzen zu sehen, meine Scheiben verdunkeln, eine
verhältnismäßige Abgabe für künftige neue mit in Rechnung bringe.“ — „Das
finde ich nicht mehr als billig,“ antwortete ich; „und damit Sie auf keine
Weise zu kurz kommen, übernehme ich den schuldig gebliebenen Beytrag meines
Landsmannes und das verdorbene Glas für ein neues auf meine Kosten.“ — Der
Wirth — klug wie ein Professor — da er an der angefüllten Scheibe nichts mehr
gewinnen konnte, war froh eine tabula rasa an ihrer Stelle zu sehen. Ich war
es nicht weniger; und da kein Handwerker geschwinder zu haben ist als ein
Glaser, so sah ich mich schon nach zehn Minuten im Besitz des ganzen Namenregisters,
aus welchem gemeinen Wuste ich die Handschrift unsers Freundes, in Form eines
Oktavblatts, behutsam heraus schneiden ließ. Es ist die vierhundert und ein und
dreyßigste Nummer meiner Sammlung, die neune mitgerechnet, die ich — —
da sehe man nur! Ich möchte mich aufs Maul schlagen — die ich dir verheimlichen
wollte, bis ich sie zu meinen herbey strömenden Freunden — dich, als den neugierigsten,
an ihrer Spitze — zur Schau vorlegen, und mich mit eigenen leiblichen Augen an
euer aller Erstaunen ergetzen könnte. Ist denn aber ein Mensch, der von den
Gegenständen seiner Liebhaberey spricht, Herr seiner Worte? Was kann ich nun
thun als fortplaudern? Du würdest es sonst gewaltig übel, oder ich müßte einen
andern Bogen und mich besser in Acht nehmen. Beydes wäre der Mühe nicht werth.
Erfahre denn meinetwegen die ganze weitläuftige Geschichte.
* * *
Ich war, als ich durch Paris ging, noch keine Stunde
daselbst, als der Wirth de
quatre nations es schon weg hatte, zu welcher ich gehörte, und seinen
Zuschnitt darnach machte. Er fing von weitem an von dem Charakter und
Kunsttriebe der Deutschen und ihren mancherley Cabinetten zu sprechen, und da
ließ ich mich denn nicht lange bitten, ihm das meinige zu beschreiben, hatte
aber Mühe, ihm zuvor den Einfluß meiner gläsernen Urkunden auf Politik,
Historie, Chronologie und Kenntniß des menschlichen Herzens begreiflich zu
machen, ehe er den Nutzen einer solchen Sammlung einsah. Mit seiner
Ueberzeugung erwachte auch der Französische Diensteifer. Nachdenkend nahm er
eine Prise Tabak um die andere, schlug dann die Dose mit dem Versprechen zu,
sogleich Stube für Stube seine Fenster in Betrachtung zu ziehen. Es war nicht
ganz umsonst. Der gute Mann brachte mir bald nachher die Handschriften dreyer
merkwürdigen Reisenden, die vormals hier eingekehrt waren, auf eben so viel
wohl erhaltenen Scheiben. Schade nur daß ich keine verstehe; denn, außer dem
Namen eines Türkischen Gesandten auf der einen, enthält die andere, wie es mir
vorkommt, das Russische Einmal Eins, oder sonst eine Rechnung von Peter dem
Großen, und die dritte ein Motto aus den Hetären des Lucians von der Hand der
Königin Christine. — Das war doch gewiß schon ein ganz artiger Erfolg meines
Geplauders, aber für gar nichts gegen den Gewinn der folgenden Stunde zu
rechnen; denn da trat der Wirth zum zweytenmale mit einem andern freundlichen
Manne und den Worten in mein Zimmer: „Gestehen Sie, mein Herr, daß mein Schild
mich nicht umsonst auffordert, jeden Passagier nach seiner Landesart zu bedienen.
Hier stelle ich Ihnen einen meiner Hausfreunde vor, dem eine Fundgrube für Ihr
Cabinet offen steht, als sich wohl keine mehr so ergiebig in der Welt finden
möchte; denn noch hat niemand gewagt, sich ihr mit seiner Wünschelruthe zu
nähern, oder nur den Verstand gehabt, den Schatzgräber zu benutzen, der Ihnen
hier seine Dienste anbietet“ — „Und wer, um Vergebung, ist dieser gütige Herr?“
fragte ich. — Beyde nahmen einander das Wort aus dem Munde: — „Der Glaser aus
der Bastille.“ —
Wie sehr gleicht doch der Eindruck unerwarteter Freude
dem heftigsten Schrecken! Die Wichtigkeit dieser Bekanntschaft trat mir auf
das anschaulichste vor die Seele; und ob mir wohl mein Vortheil immerfort
zuflüsterte, meine innern Bewegungen zu verbergen, so zitterte ich doch an
allen Gliedern, als er zu seiner Beglaubigung eine Schachtel hervor zog, und
mir sechs kleine runde Scheiben in die Hand legte, die vor Alter in die Farben
des Regenbogens spielten, und deren ich nicht viele von gleicher Seltenheit
besitze. Ich hätte sie mir für keinen Preis entgehen lassen, und erhielt sie —
ich schäme mich es zu sagen, wie wohlfeil. Was aber diesem Handel erst die
Krone aufsetzte und mich unendlich beglückt, ist ein Contract von den
erstaunlichsten Folgen, den er auf die billigsten Bedingungen mit mir einging,
unterschrieb und besiegelte. Ich habe schwerlich je einen klügern
abgeschlossen, den — wenn du willst — komischen Anstrich abgerechnet, den er
unvermerkt von der guten Laune annahm, mit der ich ihn zu Papier brachte; denn
meine Zufriedenheit während dieser glücklichen Verhandlung war so ausschweifend
lebhaft, daß, wenn Heinrich der Vierte, als er Paris belagerte, den
Commendanten der Bastille durch Bestechung gewonnen hätte, die seinige nicht
größer hätte seyn können. Und ist es denn zu verwundern? Ueberlege nur selbst,
Eduard; der Mann, der den stillen Herzensergießungen so merkwürdiger Menschen,
als wofür Staatsgefangene überall gelten, näher auf der Spur ist als kein andrer
— dem jeder geheime Wunsch, den diese Unglücklichen gebären, und, gleich
Findelkindern, auf diesen zerbrechlichen Fahrzeugen aussetzen, über lang oder
kurz in die Hände läuft — der selbst, so oft er will, über diejenigen, die dem
Strudel der Zeit entrannen, sein Strandrecht ausüben kann — dieser Mann, sage
ich, steht bey mir als Cabinetsminister in Eid und Pflicht — ein Titel, den ich
ihm in umgekehrten Verhältnisse gegen manche Fürsten, die ihn austheilen,
ernsthafter beylegte, als er ihn annahm. Wie der gemeinste Glaser, bedachte er
nur bescheiden sein Handwerk; ich hingegen würdigte ihn nach seinem gewaltigen
Einflusse auf mein Cabinet, und konnte in dieser Beziehung ihn nicht genug
ehren. Denn welch eine Ausbeute wird seine fleißige Hand nicht aus jenem bis
jetzt unbenutzten Schachte der dort seit Jahrhunderten verhaltenen Klagestimmen
zu Tage fördern! Welches Licht wird nicht mein glänzendes Museum über jene
politischen Todesgewölbe verbreiten! Nicht nur die armen Eingesperrten werden
durch Wegräumung der alten verblichenen Glasscherben heller sehen, sondern
auch unsre blinden Geschichtschreiber, die über den Seelenzustand eines
Staatsverbrechers, über seine Empfindungen in der Einsamkeit des Gefängnisses,
selten so viel zu sagen wissen als solch eine Fensterscheibe. Wäre es in der
Mitternachtsstunde, die mir über den Hals gekommen ist ich weiß nicht wie, für
den Spaß nicht zu spät, einen Catalogue
raisonné von diesen biographischen Bruchstücken zu fertigen, deren
jedes sein eigenes Blatt verdient, so würdest du in den freyen, bittern und
großen Gedanken, mit welchen hier ein Montmoranci, ein Retz, Richelieu,
Fouquet und Voltaire ihren gepreßten Herzen Luft schafften, schon
erstaunungswürdige Belege meiner Angabe finden. Und doch sind selbst diese
Denkmähler der Vorzeit für nichts in Vergleichung einer fast unglaublichen
Urkunde zu achten, die in einer, wenn ich nicht irre, aus den Menechmen des
Plautus genommenen Zeile das größte Geheimniß der vergangenen Zeit enthüllt,
mit der Unterschrift, statt des Namens, Vultus tyranni. Diese zwey mystischen Worte, dieser
schlau gewählte Spruch des Dichters, zusammen gehalten mit der unbefangenen
Aussage des Glasers, der diesen höchst merkwürdigen historischen Splitter aus
dem Fenster eines seit hundert Jahren leer gelassenen Gefängnisses, in das ihm
ein Schloßenwetter verhalf, genommen hat, verwandeln meine erstaunende
Vermuthung in eine Gewißheit, vor der jeder Geschichtsforscher seine Knie beugen
sollte. Sie zeigen unwidersprechlich, daß sie nur von einem verheimlichten
Menschen, verstoßenen Bruder, vernichteten Fürsten, und von keinem andern als
der Masque de fer
herrühren können, und vermuth ich auf der Oberfläche der Erde der einzige
Nachlaß dieses unbekannten Gefangenen sind. Was für Feste erwarten dich,
Eduard, wenn ich diese Schätze einmal vor deinen Augen auspacken, wenn ich
künftig bey jeder ankommenden Pariser Post deinen Beystand anrufen werde, die
eingelaufenen Dokumente zu ordnen und zu schichten! Wie mag sich nicht schon
ihr Ertrag während meiner Reise angehäuft haben, den meine, Gott gebe,
glückliche Zurückkunft sogleich flott machen wird! denn das war die letzte
Verabredung mit meinem Minister. Seitdem ist kein Tag vergangen, wo ich nicht
die Masse meines zunehmenden Reichthums mit kindischer Freude berechnet, mich
nach dem Stapelorte, wo er anlanden wird, zurück gesehnt, und vor den schönen
Mahagonischrank hingeträumt hätte, der ihn aufnehmen soll. — Allerliebst! Da
verplaudere ich nun schon wieder einen Umstand, den ich dir bis jetzt höflich
versteckt hielt — den wahren Grund nämlich meines Heimwehs. Keine Vorwürfe,
lieber Eduard. Freundschaft und Patriotism haben viele anziehende Kräfte, aber
— was wollen wir es läugnen? — Liebhaberey hat deren noch mehr.
Als einen nothwendigen Nachsatz zu meiner Geschichte
muß ich dir doch noch sagen, daß, sobald ich mich mit meiner Ueberlegung allein
sah, ich die rechtliche Gültigkeit meines Tractats in genauere Untersuchung
nahm, denn das fällt einem Sammler immer am letzten ein. Sie lief indessen ab
wie ich wünschte. Mein Cabinetsminister steht zwar bereits als Glaser in
königlichen Pflichten: da ihm aber herkömmlich — ein Wort, das wohl ganz
andere Abweichungen entschuldigt — alle und jede alte Scheiben ohne Ausnahme,
sobald er nur neue an deren Stelle einzieht, eigenthümlich zufallen; so dürfte
sich wohl unter allen Dienern des Staats schwerlich Einer noch finden, der die
Nebenvortheile seines Amts mit so gutem Gewissen rechtfertigen könnte als er;
und da mir ohnehin diese Abfälle der Bastille mein bares Geld kosten, so ging
ich damals so ruhig und zufrieden mit mir zu Bette — als heute.
* * *
Toulon.
den 20. Februar.
Das schauerhafteste Gemälde von Breugeln, dem
Cabinetsmaler der Hölle, kann kein so auffallendes Gegenstück zu einem Claude=Lorrain,
dessen Pinsel in die Sonne getaucht scheint, abgeben, als mein heutiger Morgen
zu meinem gestrigen. Saint-Sauveur, der, wie ich es erst dadurch erfuhr, als
ein vertrauter Freund des Intendanten, bey ihm einkehrt, so oft er hierher
kommt, trat früh in mein Zimmer, brachte mir eine Einladung von ihm für den
Mittag, und, zu meinem Zeitvertreibe für den Morgen, seine schriftliche Erlaubniß,
das Arsenal zu besehen. Ich legte den Zettel neben mir auf das Coffeebret mit
aller der Gleichgültigkeit, die ich für solchen militärischen Prunk
habe, die aber dafür den Brigadier desto mehr verschnupfte. — „Ich sehe
wohl,“ sagte er empfindlich, „du erkennst den Vorzug nicht, wie du solltest,
den dir dieß Einlaßbillet vor so vielen tausend durchreisenden gelehrten
Wanderern verschafft, die vergebens darnach angeln. Du mußt wissen, daß Herr
von Saintaignan es selbst meinen Bitten nicht eher zugestand, als bis ich für
dich gut sagte. Warum rümpfst du die Nase? Glaubst du etwa, daß unsere
Zeughäuser so zugänglich sind, als unsere Theater und Kirchen? O nichts
weniger. Dafür wirken sie aber auch mächtig auf unsere Imagination, wie alles
Große, das sich versteckt hält, und der Glückliche, dem es vergönnt wird sie
in der Nähe zu bewundern, trägt für sein übriges Leben einen auszeichnenden
Glanz davon.“ — „Du sprichst,“ erwiederte ich, „wie ein Soldat; ich aber denke
wie ein Magister, der lieber während seiner Morgenbetrachtungen einer Liqueurbouteille
in den Hals, sieht als einer Kanone, und ungern der leidigen Neugier einen
Mundbissen von seinem Frühstück aufopfert“ — „Kürze es heute immer ein wenig ab,“
versetzte der Marquis, „und hebe auch, wenn ich dir rathen darf, deinen
philosophischen Senf bis auf ein andermal auf. Die kritischen Betrachtungen
eines Magisters über die Kriegskunst ändern den Lauf der Welt nicht um ein
Haar breit; sie stören aber leicht den guten Humor. Davor mußt du dich aber
heute besonders in Acht nehmen; denn die Tafel des Commendanten erwartet an
dir einen muntern Gast, und das schöne Corps unserer Damen einen witzigen
Gesellschafter. Hier ist Stock und Hut. Rühre dich, Wilhelm. Der lahme
Gefreyte, den ich dir zu deiner Begleitung mitgebracht habe = = = — „Du also,“
unterbrach ich ihn, „hast keine Lust?“ — „Meine Geschäfte,“ zuckte er die
Achseln, „wollen mir es nicht erlauben. Doch wirst du mich auch nicht vermissen.
Ich habe dir einen gesprächigen und pünktlichen Mann ausgesucht, der selbst in
dem Palaste wohnt, wo er dich einführen soll, der das weitläuftige Inventarium
davon unter seiner Kreide und Aufsicht, und für keine andern Merkwürdigkeiten
der Welt einen Sinn hat. Ich wünschte nur, dein Verlangen sie zu sehen wäre so
groß, als seine Freude sie dir zu zeigen.“ — Ich fühlte, ob ich meinen Beutel
in der Tasche hätte. — „O nicht etwa,“ widerlegte der Marquis meinen Gedanken,
„als sey es ihm um ein gutes Trinkgeld zu thun. Für einen so gewöhnlichen
Cicerone darfst du deinen Führer nicht halten. Viel zu stolz, neben der
königlichen Pension von einem andern einen Groschen anzunehmen, plaudert er
sich heiser, und schleppt sein gelähmtes Bein nach — ächt Französisch, bloß zur
Ehre seines Monarchen, von dessen Bewunderung er voll ist. Ich will nicht zweifeln,
daß selbst ein Preuße dieses Gefühl mit ihm theilen kann, wenn er die Docke zum
Schiffbau, den Waffensaal, die ungeheuern Vorräthe in den Magazinen an Tauen,
Ankern und Segeln, die Werkstätte des Schreckens in voller Arbeit, das viele
kostbare Geschütz und mehrere andere Wunder unsers Arsenals zu Gesicht bekommt.
Es ist unmöglich, hier nicht von dem höchsten Erstaunen ergriffen und von der
Größe eines Königs von Frankreich durchdrungen zu werden. Gönne immer deinem
Begleiter dieß Schauspiel deines erregten Enthusiasmus zur Belohnung für seine
angestrengten Flechsen. Ein Französischer Invalid verlangt keine andere. —
Ach! ehe ich gehe, noch ein Wort von unserer morgenden Spazierfahrt nach
Hieres. — Diese müssen wir einstellen. Wir sind zu einem Schmause am Bord der
Vengeance gebeten, den die Seeofficiers zur Einweihung dieses neuen
Kriegsschiffs veranstalten. Mich freut es, daß so manches Ungewöhnliche
zusammen trifft, um dir den Aufenthalt in Toulon unvergeßlich zu machen — Lebe
wohl!“ — —
Der liebe Brigadier! Ich verkenne zwar keinesweges
seine guten Absichten; aber die Anordnung meines Zeitvertreibs versteht er
nicht. Mir will nun einmal die große enthusiastische Ehrfurcht für einen
Monarchen, wenn er sie mir nicht, wie unser Friedrich, auf eine feinere
Art abzulocken weiß, als mit Kanonen und Schiffen, so wenig in den Kopf, als
mich witzige Einfälle reitzen, auf die man im voraus bey mir Bestellung macht.
Und wie könnte ich mich vollends über den Verlust der Hierischen Gewürzinseln
trösten, die mir ein Soldatengelag an einer schwankenden Schiffstafel, an die
ich nicht denken darf ohne mich schon im voraus seekrank zu fühlen, so vor der
Nase wegnimmt!
Nach einem solchen grillenhaften Selbstgespräch war es
wohl nicht zu erwarten, daß ich mich den Anmaßungen meines Führers geduldig
preis geben würde. Auch trat ich ihm, um seinem prahlenden Gewäsche in Zeiten
vorzubeugen, mit Worten entgegen, die zur ersten Ansprache wohl etwas
freundlicher hätten seyn dürfen. — „Hinken Sie nur ohne Bedenken und
Complimente vor mir her, Herr Unterofficier, und lassen Sie mir Ihre
Merkwürdigkeiten jetzt unbeschrieben. Ich bin für den Augenschein, und auch
mit dem hat es keine Eile.“ — So trollte ich ihm mit meiner übeln Laune in den
Hafen nach, der, im Vorbeygehen gesagt, sehr verschieden von dem reinen
Wasserbecken zu Marseille, sich einer feinen Nase schon von weitem ankündigt.
Wie mußte ich mein neugieriges Auge hüten, als wir dort ankamen, um nicht mehr
als einen flüchtigen Blick seitwärts zu thun, aus Furcht, die prachtvolle
Facade des Arsenals möchte meinen Entschluß vereiteln, und mir die Lobrede
abzwingen, auf die mein aufgeblasner Begleiter schon seine Ohren gespitzt
hielt! Vielmehr drehte ich mich, wie ein eigensinniges Kind, gerade der Seite
zu, die er am meisten bemüht war meiner Aufmerksamkeit zu entziehen. Daß doch
ein vernünftiger Mann, ohne eben boshaft zu seyn, sich den albernen Spaß machen
kann, den Stolz eines andern zu necken! — „Zu was,“ fragte ich mit verstellter
Neugier, indem ich, statt seinen schlauen Winken zu gehorchen, den stinkenden
Behälter der königlichen Galeeren ins Auge faßte, „zu was dienen denn die
langen schmalen Schiffchen, die in diesem Sumpfe fest liegen?“ — „Zu
Zuchthäusern für unsre Verbrecher,“ war seine kurze Antwort. — „Hat sie wohl
Howard besucht?“ — „Kann seyn,“ erwiederte er, „ich weiß es nicht.“ — „Ich
möchte wohl,“ äußerte ich, im Widerspruche meiner Neigung, den Wunsch, „mit
Besichtigung ihrer den Anfang machen!“ — „Das möchten Sie?“ spöttelte der
Invalide. „Viel Glück zur sentimentalischen Reise! Mir aber werden Sie
vergönnen nicht mitzugehen, sondern Ihre Zurückkunft dort zu erwarten, wo ich
hingehöre.“ — Er kehrte mir nach dieser Erklärung den Rücken, und hinkte dem Portale
des Zeughauses zu. Und ich? Gern hätte ich mein übereiltes Wort wieder zurück
genommen; meine einfältige Laune stellte mir aber das Ding als eine Ehrensache
vor, die ich gegen den Französischen Invaliden verfechten müßte, blieb in ihrer
einmal genommenen Richtung, und zog mich wider Willen mit sich fort bis in die
nächste Galeere.
* * *
Ich habe zwar schon manche öffentliche Anstalten für
das gemeine Beste gesehen, die wenig Raum einnahmen, aber noch keine, wo der
Platz so benutzt und die Ersparniß alles Ueberflüssigen so sichtbar war, als
hier. Ein schwankendes Bret brachte mich zuerst in eine Kajütte, wo ein alter
Kapuziner, zwischen einem Cruzifix und einer Arzeneyschachtel, die Rolle eines
geistlichen und leiblichen Arztes zugleich spielte, und in seinen Bewegungen,
ohne angekettet zu seyn, keinen größern Zirkel beschreiben konnte, als den ich
jetzt durch meine Dazwischenkunft ausfüllte. Seine feurigen Augen, die aus dem
blassen verfallenen Gesichte vorschimmerten, wie glimmende Kohlen in einem
Aschenhaufen, sein langer, vor Alter gebleichter Bart, der ihm bis auf den
Gürtel in krausen Wellen herab floß, und die trübe gefällige Miene, mit der er
mir seinen hölzernen Sessel einräumte, machten schon einen starken Eindruck
auf mein Gefühl: als ich aber von ihm vernahm, daß er, jung hierher versetzt,
auf diesem Vereinigungspunkte der größten physischen und moralischen Herabwürdigungen
des Menschen grau geworden sey — als er einen Blick voll hoher Ergebung gen
Himmel schlug, und mit rührender Stimme bekannte, daß bloß der Gedanke an Gott
und die Unsterblichkeit ihn so lange aufrecht erhalten habe; da beugte sich
mein Geist mit so tiefer Ehrerbietung, als mir schwerlich je ein König durch
den Höllenglanz seiner Zeughäuser abnöthigen wird, freywillig vor diesem edel
denkenden, duldenden Greis. Ich wußte meiner Milzsucht, die mir doch allein das
wehmüthige Vergnügen seiner Bekanntschaft verschafft hatte, nicht freundlich
genug dafür zu danken. Von keiner Kanzel, keinem Katheder ist mir die
wundervollste aller Tugenden, die Tugend der Aufopferung, näher an das Herz
gelegt worden, als an dieser mir heiligen Stäte. Das erhabene Beyspiel dieses
frommen Dulders — wie groß und unverdächtig es auch seyn mochte — wurde jedoch
— o daß ich nur nicht zu voreilig entscheide! — von einem vielleicht einzigen
übertroffen, dessen zu erwähnen ihm der Verfolg seines Gesprächs Gelegenheit
gab. Er blickte mir sanft lächelnd in die feuchten Augen. — „Bemitleiden Sie mich
nicht zu sehr,“ sagte er. „So lange mich noch jugendliche Wünsche bestürmten,
ich die Sonne noch nicht vergessen konnte, die mich in dem kleinen
Klostergärtchen beschien, ich noch an den Lindenbaum dachte, den ich dort
gepflanzt und gepflegt hatte, und der jetzt einen Glücklichern als mich
beschattet — und ach, so lange sich noch mein Herz nach der Stille, der Ordnung
und der Reinlichkeit“ — das, Eduard, sagte ein Kapuziner — „meines Klosters
zurück sehnte, drängten sich freylich wohl manche Seufzer des Unmuths aus meiner
Brust; doch nach und nach, Gott sey gelobt! bin ich meiner strafbaren Ungeduld
Herr geworden. Die Zeit kam, die uns kühl genug macht, alle irdische Freuden so
nichtig und verächtlich zu finden, als sie es in Rücksicht ihres geschwinden
Vorübergehens sind. Die Zeit kam, wo wir unsre schmeichelhaftesten Hoffnungen,
unsere gelungensten Thaten ungewiß anstaunen, und nach einer redlichen Untersuchung
in denjenigen allein einen bleibenden Werth entdecken, die uns mit jener Welt
in Verbindung setzen. Sie kam und brachte mir Trost. Ich habe sogar in meinem
traurigen Wirkungskreise Blumen der Freude aufwachsen sehen, die so herzstärkend
keinem andern entsprießen. Oft nur ein Trunk Wassers, den ich einem Verschmachtenden
reichte, ein kurzes Trostwort, das einen Verzweifelnden aufhielt, erwarb mir
das Zutrauen des Genesenen, die Liebe des Getrösteten, erhob mich zu ihrem
Wohlthäter und machte mir den Posten lieb, auf den mich die Vorsehung gestellt
hat. Gewiß würde das Entsetzen ihrer Strafe viele getödtet haben, die, dem
Kreise ihrer Freunde wieder gegeben, jetzt frohe Tage genießen, hätten sie
nicht gewußt, daß am Eingange ihres Gefängnisses eine Seele noch Theilnahme für
sie empfände, für sie betete, und auf ihr standhaftes Bezeigen Acht gäbe.
Dort,“ — indem er auf ein Paket deutete „hebe ich Briefe auf, wie sie gewiß
kein Roman rührender darlegen wird — ächte Urkunden des menschlichen Herzens,
und sprechende Beweise, daß an keinem zu verzweifeln ist, so lange es der Dankbarkeit
noch Zugang verstattet. Je unverdorbener, desto empfänglicher für diesen
Naturtrieb — je mehr es verdient geliebt zu werden, desto gefühlvoller wird es
sich erwiedern. Da habe ich unter meinen der Kette entlassenen Correspondenten
besonders Einen, der es immer noch nicht vergessen kann, daß ich um seine
Freundschaft als um ein Almosen bettelte, während er, nicht auf einer Prälaten
— sondern auf der Ruderbank saß — ein Mann, mein Herr, den sonderbar genug!
kein Verbrechen, vielmehr die Lauterkeit seiner hohen Seele diesen
Schrecknissen preis gab — der sich als Jüngling allen sinnlichen Freuden
entriß, um die Strafe unserer strengen Gesetze für einen Schuldigen zu büßen,
der — sein Vater war.“ — „Was?“ unterbrach ich den Mönch, „sprechen Sie von dem
edelmüthigen Faber aus Ganges? Der hat auf dieser Galeere = = = und Thränen
verhinderten mich fortzusprechen. — „Sie kennen also, wie ich sehe, einen
Theil seiner Geschichte?“ — „Nein, lieber Pater,“ schluchzte ich, „ich kenne
sie ganz, und habe auch den rechtschaffenen Mann selbst gesehen und
gesprochen.“ — „Ganz?“ wiederholte der Mönch mein Wort; „o dessen, mein
guter Herr, werden Sie Sich erst rühmen dürfen, wenn Sie“ — hier öffnete er
die Thür nach dem Innern des Schiffs — „von daher zurück kommen.“ — Mein Blick
führ erschrocken über dieß Grab der Verzweiflung, und der verpestete Luftstrom,
der mir entgegen stieß, versetzte mir den Athem. Hätte Faber nicht Jahre lang
hier gelitten ohne zu murren, ich ware keinen Schritt weiter gegangen. — Der
gutmüthige Alte, wie er mich dazu entschlossen sah, ergriff meine Hand. — „Ich
will Sie zwar, aus guten Gründen, von Ihrem Unternehmen nicht abhalten: Sie
scheinen jedoch für solch eine Anstrengung des Körpers und Geistes kaum Kraft
genug zu besitzen. Hier, lieber junger Herr, trinken Sie zuvor ein Glas Tinto,
der mit einem Liquor gegen die Ansteckung versetzt ist, und nun gehen Sie in
Gottes Namen. Diese Stunde der Wehmuth stärke alle Ihre übrigen Tage zur
Geduld, zum Erbarmen und zu einem schuldlosen Leben!“ — Mir ward, indem ich
trank, so bänglich zu Muthe, als einem, der, durch das heilige Nachtmahl
vorbereitet, ein tödtliches Wagstück zu bestehen im Begriff ist. Was für ein
Gang war das, Eduard! Ich mag noch so alt werden, ich vergesse ihn nie.
Sobald nur der hohle Schall meiner ersten Tritte auf
das Zwischenverdeck des Schiffs den unglücklichen Bewohnern desselben die Ankunft
eines freyen Mitmenschen verrieth, bewillkommte mich ihr betäubendes
Kettengerassel, das sich von einem Ende zum andern um die offene Seitenvertiefung
herum zog, die unter mir ihre faulenden Körper bis an die Köpfe verbarg — und
in dem Augenblicke streckten sie solche, wie Schildkröten aus ihren Schalen,
hervor. Ich blieb, vor Schrecken gelähmt, eine Weile, wie die Bildsäule des Antonius,
der den Fröschen predigt, auf dem Fußhoden stehen, ehe ich Herz genug fassen
konnte, zwischen die beyden Reihen dieser Gespenster durchzuschlüpfen. = = =
Ach! welche tief gesunkene Menschen! Bey jedem Schritte, der mich bey ihnen
vorbey führte, küßten sie mir die Füße, erhoben sie, flehend um ein Almosen,
ihre gefesselten Hände, und sahen mit Augen voll Schwermuth und Eifersucht mir
auf dem folgenden nach, den ich zu dem Nachbar ihres Elends that. — Athemlos
gelangte ich an das Ende dieser schauderhaften Allee. Hier lehnte ich meinen
Rücken an die breterne Wand, und überblickte mit einem Herzen, das immer höher
schlug, das ganze bewegliche, Grausen erregende Gemälde, hörte in
erschütterndem Einklange die Wehklagen dieser lebendig Begrabenen aus ihrer
gemeinschaftlichen Gruft zu mir herauf steigen, und erst nach einigen
feyerlichen Minuten, die ich stillstehend der schreckenvollsten Betrachtung
weihte, überwand ich die Angst vor meinem Rückwege, und fühlte mich selbst
stark genug, meiner Eil, meiner Sehnsucht nach freyer Luft zu gebieten, um —
dem Elend, das hier weilte, noch einmal bedächtlicher in das hohle Auge zu
sehen, und, ohne mein blutendes Herz zu schonen, ihm die Dolche noch tiefer
einzudrücken, die es zerfleischten.
So gewiß auch von den beyden Gegenbildern — der
menschlichen Würde und ihres Verfalls — der Glanz des ersten eine so schwarze
Unterlage entbehren kann, so dienlich kann uns doch ihr Wiederschein in den
übermüthigen Stunden werden, wo das Gefühl unsrer Cultur uns mehr beweist, und
höher setzt, als es sollte. Denn wer von uns hat nicht Schritte gethan, die ihn
gerade auf die Galeere gebracht haben würden, wären ihm nicht glückliche,
errettende Umstände noch zur rechten Zeit in den Weg getreten? — Diese und
mehr andere Gedanken, die wohl noch spitziger ausfielen, begleiteten mich über
das Verdeck zurück, und schienen mir von jeder um mein Ohr klirrenden Kette
einen Theil des Gewichts an die Füße zu hängen. Hätte ich mich in beschaulicher
Muße auf der Dreßdner Gallerie befunden, und bey Zinks Talenten die Aufgabe zu
lösen gehabt, aus dem Licht und Schatten der Gemälde ihren höhern oder niedern
Werth zu berechnen, meine Schritte würden dort nicht schleichender, nicht
zögernder und der Aesthetik nicht angemessener haben seyn können, als sie es
hier den geheimen Bewegungen meines Herzens waren. Auch glaube ich kaum,
Eduard, daß meiner Aufmerksamkeit nur ein Wort, nur ein Zug von Bedeutung in
den tragischen Reden, in dem convulsivischen Geberdenspiel der armen Schächer
entwischt ist, die ich, ohne mich zu rühmen, mit den Augen und Ohren eines Zentrichters
belauschte.
Ich sah, wie hier das Joch der brüderlichen Strafen
Den steifen Hals der Eigenliebe bog,
Wie mit der Armuth und des Geitzes Sklaven
Der Wollust Sklav´ an Einer Kette zog!
Vom Kelch der Wehmuth trunken, reichte
Ich allen nun mein Geld und Ohr,
Und schrecklich brach die allgemeine Beichte
Der Büßenden aus ihrer Bucht hervor.
Der eine schrie: „O Gott! ich bleicht' an deinem Meere
Mein Bißchen Salz in deinem Sonnenschein,
Und Menschen strafen mich!“ — „Ich“ fiel ein andrer ein,
„Verbüß' an Fesseln der Galeere
Die dreymal ungewisse Ehre,
Von dreyen Weibern Herr zu seyn.“ —
Ein Dritter, stolz auf die Calotte´
Die dem beschornen Haupte blieb, *)
Sprach ernst: „Ich fühlte mich vom Gotte
Der Musen inspirirt, und schrieb —
Ich schrieb der Bücher viel, und alle
Sind längst ins Deutsche übersetzt.
Ich schrieb vom steigenden Verfalle
Des Staats ein Buch im Quart — da, Freund, hat mich zuletzt
Des Königs Wink, und des Ministers Galle,
Und Flaccus Rath: „Was nützet und ergetzt,
Das schreib!“ hierher gebracht. Der Trost in meinen Ketten,
Der einzig noch mein Schicksal mir versüßt,
Ist, daß man Rousseau's Styl am Hof, an den Toiletten,
Nicht halb so gern als meine Prosa liest.“
Beschämt wünscht' ich ihm Glück zu diesem seltnen Grade
Des guten Styls und floh, als mir auf meinem Pfade
Noch ein Gespenst zu Füßen sank:
„Ein Wort — Gott segne Sie! — ein Wörtchen nur zur Gnade,
Mein Herr! Wer hält denn wohl seit mir im Schlangenbade,
In Ems und Ronneburg die Bank?
____________________
*) Der Abbé La Coste, der 1760 auf Zeitlebens zu der Galeerenstrafe verdammt
wurde.
____________________
Und wäre mein von Mitleiden durchdrungenes Herz noch so
geneigt gewesen, die Strafe dieser Unglücklichen und ihre Verschuldung so weit
außer Verhältniß zu finden, als sie selbst davon überzeugt schienen, so würde
mir doch des Spielers Kette, in Rücksicht der Verbrechen, die, wenn ich nicht
sehr falsch las, auf seiner frechen Stirn geschrieben standen, noch zu leicht
und zu lang gedünkt haben. Er richtete sich, so weit sie es zuließ,
unbescheidener als seine Mitgesellen an mir in die Höhe, und bewegte seine um
ein Geschenk bettelnde Hand nicht anders, als wollte er eine Volte schlagen.
Wären mir auch nur zwölf Sous von meiner Spende übrig in meinem Geldbeutel
geblieben, er hätte sie nicht bekommen sollen; denn er würde sie doch nur
gemißbraucht haben, durch ein rouge et noir mein vertheiltes Almosen in seiner
Diebscasse wieder zusammen zu bringen. Ein derber Deutscher Fluch, den er mir
für den verächtlichen Blick nachschickte, den ich ihm zuwarf, statt ihm zu
antworten, prallte mir noch in die Ohren, als ich schon, seines scheußlichen
Anblicks entledigt, mich, von meinem sauern Gange in den Armen des redlichen
Mannes zu erholen suchte, der dieser schrecklichen Gemeine vorstand. Es war
der erste Mönch, den ich küßte. So herzlich habe ich selbst nie die Wange eines
Mädchens geküßt. Nach einigen abgebrochenen Worten, die ihm nur zu deutlich
meine innere Bewegung und meine Ohnmacht, sie ihm besser zu schildern, verriethen,
drückte ich noch einmal seine Hand an mein pochendes Herz — und er — schlug ein
Kreuz über mich, als ich mich von ihm losriß.
* * *
Erquickender hat kaum jemals die freye Luft auf mich
gewirkt, als da ich aus diesem Kerker an das Licht trat. Ich hüpfte mehr als
ich ging meinem sprechsüchtigen Begleiter zu, der mich an dem Thore des
Arsenals ungeduldig erwartete. Er konnte nicht begreifen, wie ich zwey volle
Stunden an die häßliche Galeere habe verschwenden, und sie den Schaustücken
entziehen mögen, die ich ja jetzt nur im Flug würde betrachten können. Da sein
Zeitvertreib ungleich mehr als der meine bey der Sache im Spiel war, so läßt
sich auch mein Verdruß gar nicht mit der Größe des seinigen vergleichen, als
ich dastand, alle meine Taschen umwendete, und endlich mit zitternder Stimme
mein Einlaßbillet für verloren erklären mußte, so wie es mein Schnupftuch war.
Das eine war für mich leichter zu entbehren als das andere. Während sich nun
der Soldat unter lauten Wehklagen, um das wichtige Document zu suchen, so
eilig auf die Beine machte, als ob es sein Gehirn wäre, das ich verloren hätte,
hielt ich es für räthlicher, dem dringenden Beruf meiner Nase zu folgen, und
nach dem Gasthofe zu wandern, als unter freyem Himmel seine hinkenden
Nachrichten zu erwarten; doch rief ich noch zu seinem Troste ihm die
Versicherung nach, daß ich den folgenden Morgen ganz dem Arsenale und ihm
widmen und die heute versäumten Stunden wieder einbringen wollte. Dieser
kleinliche Zufall ist mir eigentlich heute gar sehr zu passe gekommen: denn
ungerechnet den Zwang, dessen er mich zwar nur vor der Hand entledigt, die
Waffen unsers Erbfeindes zu bewundern, so hat er mir doch immer die Muße verschafft,
dir in der ersten Wärme der Empfindung, die doch gewiß am ähnlichsten malt, die
Scenen meines Morgens zu schildern. Zweytens läßt er mir auch Zeit mich
abzukühlen, ehe ich in die vornehme Gesellschaft gehe, in die mich der Mittag
einführen wird. Wohl gut, daß er in der großen Welt drey Stunden später
eintritt als in der physischen. Inzwischen denke ich, sollen die Bilder, die
jetzt noch so lebhaft mir vorschweben, ziemlich verblichen, und brauchbarere pour la belle conversation an
ihre Stelle getreten seyn. Denn welche Dame, ich bitte dich, würde mir zuhören,
wenn meine Erzählung zum Ohnmächtig werden sie aus dem hellen Speisesaale in
jene düstre Sklaven-Barake versetzen wollte? Eben so wenig würde ich Glück bey
ihr machen, wenn ich mir einfallen ließe, während sie mich anlächelt oder die
Zähne stochert, dem heldenmüthigen Kapuziner eine Lobrede zu halten, und an
ihrer Seite seiner fünfzig, der bessern Zukunft geopferten Jahre, und der
widernatürlichen Zufriedenheit zu huldigen, mit der er, ohne nur Einmal in ein
schönes Auge geblickt zu haben, auf seinem heiligen Posten steht. Mit dir,
Eduard, ist es etwas andres. Du mußtest mir wohl Ehren halber Stich halten,
denn du zählst dich zu den philosophischen Köpfen. Doch diese, lieber Gott,
sind mir heute selbst so zum Ekel geworden, daß es mich Wunder nimmt, wie ich
mich noch im geringsten mit ihnen abgeben mag.
Ihr, denen Gott zum Mitgefühle
Des Seneca, des Antonin,
Weich ausgestopfte Rednerstühle
Und einen Doctorhut verliehn,
Bestürmt mich nicht mit euerm Wortgetöse
Von Menschenkraft und Seelengröße,
Seit Fabers Glanz mich überschien!
Beredt, den Widerspruch zu scheiden,
Daß Freysinn in der Sklaverey
Wohl möglich, und im höchsten Leiden
Ein Weiser Herr des Schicksals sey,
Lauscht zwar mein Ohr auf euern Wohlklang: aber
Beredter prediget mir Faber
Der Stoa Wahlspruch: Ich bin frey.
War es der Geist, der in der Schule
Des Zeno Stärkungen verschrieb,
Der ihn von seinem Weberstuhle
In diese Kluft des Jammers trieb,
Wo, von dem Glück der Freundschaft abgeschieden,
Wie von der Liebe, nur der Frieden
Mit sich allein ihm übrig blieb?
Nein, er ging auf dem dunklen Pfade,
Den nur der Göttliche ihm brach,
Der für uns litt, frey und gerade
Der geistigen Belohnung nach:
Sein Herz bedurfte keiner Lehre;
Er rettete der Tugend Ehre;
Er hielt, was Seneca versprach.
* * *
Ein glänzender Mittag, Eduard, ein Gastmahl, wie es
nicht jeder Intendant der königlichen Marine zu geben vermag, wenn er es nicht
von Toulon ist, an dessen Küste die berühmten Dattelmuscheln zu Hause sind, die
ihm als ein ausschließendes Vorrecht zu kommen. Ich fand an diesem Beherrscher
der Hölle, die ich heute Morgens bestieg, zu meiner Verwunderung einen sanften,
liebreichen Mann in seinen besten Jahren. Er empfing mich als den Freund seines
Freundes mit Güte und Achtung. Unsere erste Zusprache inzwischen — ob sie
gleich von beyden Theilen nur auf gemeine Höflichkeiten beschränkt war —
mißlang jedoch ein wenig; so sehr hat man selbst bey gleichgültigen Gesprächen
es für ein Glück zu achten, wenn man in dem Innern des andern keine verborgene
Saite berührt, die traurig oder widrig zurück tönt. Seine Worte kehrten mir
immer eine Spitze zu, und meine Antworten? du magst selbst urtheilen, wie klug
und artig sie ausfielen.Gleich seine Frage, wie mir das Arsenal gefallen, gab
mir einen Stich in das Herz. Roth bis über die Ohren, dankte ich ihm bloß für
seinen Erlaubnißschein, ohne meiner Unachtsamkeit zu gedenken,die ihn vereitelt
hatte. Zu sehr Weltmann, um eine unbeantwortete Frage zu wiederholen, brachte
er mich sehr ungesucht auf unsern König zu reden. Mein Lob, in das er herzlich
einstimmte, wäre auch nicht übel gewesen, wenn ich nur nicht dabey — ich weiß
auch nicht wie mir war — einen Tadel seiner Vorliebe für die Franzosen mit eingewebt
hätte; denn dazu war doch hier in der That der recht Ort nicht. Von ihm ging er
auf die Annehmlichkeiten Berlins, und zugleich auf die Energie — wie er es
ausdrückte — der Deutschen Nation über, ohne nur im mindesten ihren Mangel an
andern guten Eigenschaften zu erwähnen. Ich hätte mich gern im Namen aller dazu
bekannt, um das Schmeichelhafte, das auch für mich in seinem allgemeinen
Urtheile lag, ein wenig zu mäßigen; aber ich wußte in diesem Augenblicke vor
lauter erregten Patriotismus nichts an uns auszusetzen, was sich der Mühe
verlohnte. — „Ich kenne zwar Ihr Vaterland nur aus einer nichts weniger als
empfindsamen Reise, die ich im siebenjährigen Kriege dahin als Fähnrich that,
und von der ich als Oberster einer Brigade wieder zurück kam.“ — „Ew. Excellenz
wohnten also wohl der schrecklichen Schlacht bey Minden mit bey?“ — „Ja,“
antwortete er, „ich führte in derselben die Grenadiere von La Tour gegen Ihre
Dragoner an.“ — Diese hingeworfenen wenigen Worte rissen — ist es glaublich? —
eine alte, längst verharschte Wunde meines Herzens auf. — „So ist denn,“ sagte
ich heimlich zu mir, „über dieselbe Zunge, die jetzt so freundlich mit dir
spricht, das Schreckenswort: Gebt Feuer“ gegangen, das deinen armen Bruder zu
Boden streckte!“ Die Thränen meines Vaters, die Verzweiflung meiner Mutter und
mein eigener kindischer Schmerz traten mir jetzt so lebhaft vor die Seele, daß
ich diese traurige Erinnerung nicht wieder los zu werden vermochte, ohne sie
dem mitzutheilen, der sie unschuldiger Weise erregt hatte. — „Er stand,“ sagte
ich, „unter demselben Regimente, das von dem Ihrigen so übel empfangen wurde,
war der edelste beste Jüngling, erst achtzehn Jahre alt, als er blieb, und
schon Adjudant.“ — „Schon Adjudant?“ fing er meine Worte auf; „das will im
Preußischen Dienste etwas sagen, und giebt allein schon einen hohen Begriff von
seinen ausgezeichneten Talenten.“ — „Das nun eben nicht,“ glaubte ich
bescheiden zu antworten; die beyden Armeen arbeiteten in diesem blutigen Kriege
nur zu gut für den Abgang, daß oft das ganze Verdienst, dem ein junger Officier
seine schnelle Beförderung verdankte, bloß auf dem Unstande beruhte, aus einer
Schlacht nach der andern gesund zurück zu kommen. Hätten meinem guten Bruder,
statt selbst zu fallen, die Leichen seiner Kameraden als Stufen gedient, um so
fortzusteigen wie er anfing, so zweifle ich nicht, er würde jetzt so gewiß als
Ew. Excellenz = = = — Hier faßte mich der General lächelnd bey der Hand, ohne
das Ende meiner Militärrechnung abzuwarten, und stellte mich der übrigen Gesellschaft
vor.
Bald nachher setzten wir uns zur Tafel. Hier bekam ich
meinen Platz neben zwo Damen, von denen mich sogleich die eine in ein Gespräch
zu ziehen wußte, das jedem, der hungriger darnach gewesen wäre als ich,
vollkommene Sättigung gewähren konnte; denn es gehörte als geistige Nahrung in
die Classe der Schüsseln, die man durch immer neuen Zusatz so sehr verlängern
kann als man will. War ihr weiß gemacht, daß ich ein Litterator sey, oder
glaubte sie es meiner listigen Miene anzusehen; genug, ich hatte noch nicht
drey Löffel von der Suppe genossen, als ich schon mit ihren zwey vorzüglichsten
Lieblingen des vergangenen und des laufenden gelehrten Jahrhunderts, mit
Molieren und Büffon, bekannt war. — „Niemand,“ sagte sie von dem ersten, „hat feiner
unsere kleinen Blößen an das Licht gezogen, und die Schleichwege zu dem
Labyrinthe des weiblichen Herzens deutlicher angegeben, so daß man schwerlich
jetzt einen derselben ohne Gefahr einschlagen könnte, von Männeraugen ertappt
zu werden.“ — Sie blickte mir dabey so herzhaft in die meinen, daß ich sie
niederschlug. — „Dadurch,“ fuhr sie fort, ist ein gewissen Zutrauen unter
beyden Geschlechtern entstanden, das vieles abkürzt, und desto anziehender ist,
je steifer es sich auf die Kenntniß gegenseitiger Schwächen gründet.“ — Ich
hätte gern der Dame mein Compliment über den neuen Gesichtspunkt gemacht, aus
welchem sie den Werth des Komikers beurtheilte; aber sie ließ mich noch nicht
zum Worte. — „Er hat gewiß,“ entwickelte sie ihren Satz mit selbstgefälligem
Tone, „als ein guter Bürger, der bessern Erziehung und dem natürlichen Gange
unsers Jahrhunderts vorgearbeitet. Denn wer hat die Misanthrope, die Tartüffe,
die Précieuses ridicules
aus unserm gesellschaftlichen Zirkel vertrieben als Er?“ — „Ich dächte, Madam =
= = — „Und der Zweyte,“ fuhr sie fort ohne mich anzuhören, „wie hat er sein
menschenfreundliches Herz, seine umfassenden Kenntnisse, und die Harmonie der
Sprache benutzt, um uns in lauter Spaziergängen zu der Quelle der wahren Natur
zu führen, zu der wir ehedem höchst langweilige Umweg machen mußten! Sein
Grundsatz von der Liebe, der jetzt allgemein angenommen wird, wie viel hat er
nicht zur Ersparung unserer kostbaren Zeit beygetragen!“ — „Welcher, um
Vergebung?“ fiel ich ihr in die Rede. — „Daß in dieser Leidenschaft,“
antwortete sie mit einer dogmatischen Miene, die ihr nicht so ganz übel
anstand, „nichts gut sey, was nicht — um es kurz zu sagen — gerade zum Ziel
führt. Alle unsere physischen und moralischen Handlungen standen längst unter
dieser Regel: aber erst seit ihm gebietet sie auch der Liebe. Seit dem
Ausspruche dieses großen Naturforschers ist das ekle Romanhafte unter uns
gänzlich verschwunden, und man wird jetzt selten ein so lächerliches Paar
finden, das einander gefällt, und nicht auf Büffons Gefahr damit anfinge, wo
die Großältern aufhörten.“ — „Wirklich?“ war das einzige Wort, daß ich, während
sie Athem holte, einschieben konnte. — „Was, mein Herr,“ überströmte mich jetzt
der Fluß ihrer Beredsamkeit aufs neue, „was sagen Sie von seinem hinreißenden
Style? Voltaire ist gewiß in seinen Gedichten ein rührender, melodischer
Sänger: aber ich gestehe, daß ich in beyden Rücksichten die Prose Büffons den
schönsten Versen des Dichters vorziehe. Vergleichen Sie nur die Stelle, wo
jener von den Schrecknissen der Natur spricht, mit dem Voltairischen Gedichte
über das Erdbeben von Lissabon. Wer von beyden hat hier das Grausen der
menschlichen Seele bey solchen Vorfällen am besten geschildert?“ — Indem wurde
mir der Flügel einer Poularde mit Trüffeln gebracht. Der Duft davon reizte
meine Zunge; aber ich ließ sie unbefriedigt, um nur endlich der ihrigen Ruhe zu
verschaffen. Es gelang mir vortrefflich. — „Solche Vergleichungen,“ begann ich
mit einer klugen Miene, „machen unstreitig ein großes Vergnügen; und derjenige
unter den Schriftstellern, wie Madam sehr richtig bemerken, ist gewiß der
größere, der es am besten versteht, durch die Magie der Sprache unsere
gesunkenen Empfindungen auf ihre erste Höhe zu treiben, und sie uns gleichsam,
wie auf Noten gesetzt, zur Wiederholung des Spiels wiederzugeben. Wenn Büffon
zum Beispiele denselben Schauer in Ihrem Herzen zu erregen weiß, den ihnen
diese schreckliche Naturbegebenheit zu der Zeit verursachte, da sie vorging, so
= = = — „Welche Naturbegebenheit?“ unterbrach sie mich hastig — „Des Erdbebens
von Lissabon,“ antwortete ich ganz unbefangen; und ohne mir eine Sylbe darauf
zu erwiedern, drehte sich nach der andern Seite. — „Ich meinte = = = rief ich
ihr nach; aber sie that nicht als ob sie mich hörte, und ich verlor alle
Hoffnung, daß sie mir diesen groben chronologischen Irrthum so bald vergeben
würde.
Ich war so verblüfft, daß eine Weile verging, ehe ich
nur daran dachte, daß ich auch zur linken Hand eine Nachbarin habe. Die
gelehrte Vielsprecherin hatte allein Schuld, daß ich nicht einmal wußte, wie
sie aussah. Ich erfuhr es nur zu bald. Drey brillantene Astern strahlten mir
auf den ersten Blick nach ihr gerade in die Augen, blendeten mich aber lange
nicht so als der junge wallende Busen, den sie verzierten. Wäre ich bey Sinnen
gewesen, so würde mich dieser Anblick wenig geirrt haben. Aber, Gott mag
wissen, wie es zuging! dachte ich mir die Ruhe, die ein Mann seinen Augen auf
diese Höhen erlaubt, noch alltäglicher, als die Prüfungen der Hand, die Bayle,
unter der Benennung quotidianae
incursonis, sogar dem frommen Abadie Schuld giebt, und übertrieb ich
meine Sittsamkeit, um nur nicht alltäglich zu scheinen — genug, ich kehrte
betroffener um, als ein Hase vor dem Schützen, und blickte auf den Tisch mit einer
Verlegenheit, die in der klugen Wendung, die sei einschlug, um sich zu
verstecken, erst dadurch recht ans Licht kam. Spielend mit meinem blanken
Messer, bemerkte ich das unselige London — ich wollte es wäre
Constantinopel gewesen — auf der Klinge, und ohne ein Auge davon zu verwenden,
fing ich nun an meine reitzenden Nachbarin, seitwärts, mit einer ganz neuen
Lobrede auf den Englischen Stahl zu unterhalten. Noch hatte ich sie nicht zu
Hälfte hervor gestottert, so mischte sich ein Maltheser Ritter darein, der auf
der andern Seite neben ihr saß. — „Es kann wohl nichts in der Welt,“ sagte er,
„dem Englischen Stahl so sehr zur Ehre gereichen, als der Uebergang von einem
solchen Bouquet, an einem solchen Platze, zu ihm.“ — Was denkst du wohl, wie
sich unsere gemeinschaftliche Nachbarin dabey benahm? Sie schien sein Epigramm
nicht zu hören, und antwortete nur meinen schlichten Bemerkungen. Dafür thaten
jetzt meine Blicke ihr möglichstes, um ihre Schüchternheit wieder gut zu
machen. Aber es währte nicht lange, so verdarb ich mein Spiel aufs neue. Ich
hörte Saint=Sauveurs Stimme, sah mich nach ihm um, fand ihn an der Seite einer
jungen Dame, und: „Ach wer ist denn,“ stürzte mir die Frage heraus — „dieser
Engel von Mädchen, dieß ungeschminkte edle Gesichtchen zur Rechten des
Brigadiers?“ — Sie blickte hin, — „Die Tochter vom Hause,“ antwortete sie
gleichgültig, und legte mir geschwind überzuckerte Castanien vor, um mir,
glaube ich, das Maul zu stopfen.
Während ich noch daran kaute, trug man das seltne
Gericht auf, das ich dir schon angekündigt habe: eine Schüssel mit
Dattelmuscheln. Diese werden — was du vielleicht bey deinen geringen
conchyliologischen Kenntnissen nicht wissen wirst — aus großen, dem Zugang
aller Elemente verschlossenen Steinen geschlagen, und dienen, wie die
Reichsritterschaft dem Kaiser, bey vorfallenden Festen dem hiesigen Intendanten
zu einer immediaten Beyhülfe. Der heutige Fang mußte indeß nicht so ergiebig
gewesen seyn, als das Bedürfniß seiner Tafel verlangte. Er konnte dieses Staatsessen
nur unter seine vorzüglichsten, das heißt, wie bekannt, nur unter seine
weiblichen Gäste vertheilen. Ich ging so leer aus als die andern Herren.
Glücklich jedoch für die Kenntnisse, die ich mir auf Reisen auch durch meinen
Gaumen zu erwerben suche, daß der Groll einer Französin gegen einen Deutschen
nie über zwei Schüsseln hinaus reicht. Ich gewann dießmal augenblicklich dabey.
Meine Nachbarinnen von beyden Seiten entzogen sich auf das gutmüthigste die
Hälfte des ihnen zugefallenen Antheils, so daß ich noch einmal so viel von
diesen Leckerbissen bekam, als jede behielt — der gewöhnliche Fall eines Mannes
zwischen zwey Weibern. Die Anbeterin von Büffon ließ sich sogar herab, mir
nicht nur die Geschichte dieses merkwürdigen Schalthiers, so weit als sie bekannt
ist, und das, um mich ihres Ausdrucks zu bedienen, weder der See noch dem Lande
angehöre, wortreich zu beschreiben; sondern sie zeichnete mir auf eine
Visitenkarte, die sie mit einem Bleystifte aus ihrem Calender zog, gerade unter
ihrem gräflichen Namen und Wappen, die Figur flüchtig hin, die diese Muschel
ihrer Eremitenwohnung eindrückt. Sie zeichnete nicht übel; doch war es immer,
besonders auf so einer Karte, zum Verständnisse der Zeichnung sehr gut, daß ich
nur auf meinen Teller sehen durfte, um nicht ungewiß über das Naturprodukt zu
seyn, von dessen Abdruck die Rede war. Diesem kleinen wohlschmeckenden Insekte
hatte ich es sonach einzig zu verdanken, daß unser durch das Erdbeben
zerrüttetes Gespräch aufs neue wieder in Gang kam, und sich auch bis zum Ende
der Tafel daran erhielt.
Den Vorzug, lieber Eduard, muß man doch Französischen
Gesellschaftern vor den unsrigen zugestehen, daß in ihnen der Langenweile kein
Raum, und den Mitgliedern keine Zeit gelassen wird, über den Werth oder die
mögliche Auslegung jedes Worts, das gesprochen wird, nachzudenken. Bey dem
Ueberfluß von Beyträgen, die zur Beförderung einer vergnügten Unterhaltung
eingehen, wird es nicht geachtet, wenn auch einer davon nicht so ausgesucht und
vollwichtig ist, als der andere.
Eine Stunde nach der Mahlzeit, die fröhlich verplaudert
wurde, setzte sich ein Theil der Anwesenden an den Spieltisch; der jüngere
Zirkel, dem auch ich mich anschloß, vereinigte sich zu einem Spaziergange nach
dem königlichen Garten. Jeder Herr bot einer seiner Nachbarinnen den Arm; da
aber die Liebhaberin der Natur die Karten meiner Unterhaltung im Mondscheine
vorzog, und der schöne Busen, von dem die Dame, ehe sie ging, die Astern
absteckte, dem Malteserritter zuwallte, so würde ich allein mitgeschlendert
seyn, hätte nicht ein glückliches Ohngefähr mir das große Loos verschafft, die
Tochter vom Hause zu führen. Indem wir nämlich die Treppe herab stiegen, kam
ein Officier der Marine herauf, und hinter ihm ein Commando, worunter ich auch
den lahmen Gefreyten erblickte. Er zeigte mir im Vorbeygehen das
wiedergefundene Einlaßbillet, und ich hätte nicht umhin gekonnt ihm ein Wort
darüber zu sagen, auf die Gefahr zehn tausend von ihm anzuhören, hätte mir
nicht indem der Brigadier die Hand des schönen Kindes, das er führte, in den
Arm gelegt, um dem Seeofficier, der ihn bey Seite winkte, zu folgen. Sie mußten
etwas wichtiges mit einander abzuthun haben, denn mein Freund ließ sich den
ganzen Abend nicht wieder sehen, und zum erstenmale vermißte ich ihn nicht. Die
Gesellschaft, so bald sie in dem weitläuftigen Garten anlangte, vertheilte sich
in einzelnen Gruppen zu zwey oder mehrern Personen, die sich trennten, sich
vertauschten, und wieder zusammen trafen, wie es der augenblicklichen Laune
einer jeden gemäß war.
Ich wüßte nicht, was ich von meiner Organisation denken
sollte, wenn das Zwanglose, Frohe und für mich ganz Neue dieses späten
Spaziergangs seinen Zauber auf mein Herz verfehlt hätte. Es mag mir auch sonst
noch so gewöhnlich seyn, meine Empfindungen aus dem verlaufenen Tage am
Schlusse desselben wiederzukäuen; dießmal schien es, das gegenwärtige Vergnügen
würde eine solche Grille nicht aufkommen lassen. Mein Wohlbehagen verstattete
mir zur Zeit nicht, weder an meinen verbluteten Bruder noch an meine
weitläufigern Verwandten auf den Galeeren zu denken. Die Farben, die mir die
Abendröthe, die mir der Mond aufmischte, setzten alle andere Bilder meiner
Seele in Schatten. Ach der herrliche Mond! In diesen kostbaren nächtlichen
Stunden, wo sein Abglanz mir jeden auch noch so feinen Zug in dem lieblichen,
reinen, unschuldigen Gesichtchen meiner Begleiterin vorführte, mußte ich ihn
wohl noch lieber gewinnen, als gestern, wo er zwar ein großes, herrliches, aber
doch immer nur lebloses Naturgemälde beschien.
Ich habe dir zwar schon vorhin die Vorzüge des Engels
an meinem Arme mit einzelnen, dem Lobe geheiligten Worten angedeutet. Aber ich
weiß schon, wie es mit solchen Worten geht. So gewählt sie auch seyn mögen,
gleiten sie doch über das Gehirn, wie die glänzenden Kügelchen des Quecksilbers
über eine Glastafel, hinweg. Man muß sie erst auflösen und zu einer Unterlage
verarbeiten, wenn man den Strahl, der uns blendet, auch in die Augen eines
andern zu spielen gedenkt. Leider hat mein in Asche verwandeltes Tagebuch, an
dem in dieser Rücksicht auch nichts verloren ist, bis zu der heutigen
Mitternachtsstunde nur Schilderungen aus der weiblichen Welt sammeln können,
wie, wenn ich das Dosenstück einer gewissen Margot ausnehme, das ich dir wohl
gegönnt hätte, nicht werth waren das Cabinet eines ächten Liebhabers des
schönen Geschlechts zu verzieren. Es thut mir daher recht wohl, daß ich einmal
auf ein Profil gestoßen bin, das selbst neben einer heiligen Familie von
Raphael kein unebenes Seitenstück abgeben würde, hätte mir nur das Original
lange genug sitzen können, um mehr als einen Schattenriß von ihm zu entwerfen.
Diese unvollkommene Darstellung wird indeß immer noch unendlich schätzbarer
seyn, als die ausgemaltesten Stücke meiner vorigen Sammlung. Es war schon ein
Zug seltener Gutmüthigkeit, daß die junge Schöne ohne Abnahme an Freundlichkeit
ihre Hand aus dem Arme eines bekannten Freundes in den meinigen legte; daß sie
aber auch nachher, als ihr im Garten die Wahl eines andern Gesellschafters frey
stand, sich mit einem Fremden begnügte, der weder über die Tagesgeschichte der
Stadt mit ihr schwatzen, noch in der ihm ungewohnten Sprache durch leichte
Scherze ihr Ohr reitzen konnte, muß ich ihr schon höher anrechnen. Doch daß sie
bey ihren sechzehn Jahren sich die Zeit nahm, ein Herz, das in der Nähe des
ihrigen schlug, zu behorchen, daß sie verstand den verdeckten Werth desselben
zu entwickeln, seine flatternden Fäden aufzufangen, mit der zartesten
Fühlbarkeit ihren Gehalt zu unterscheiden, und nur die bessern dem Gewebe ihrer
schönen Seele anzuknüpfen, das, Eduard, war mir vollends eine so ungewöhnliche
Erscheinung, als ich je eine erlebt habe.
Während mir an ihrer Seite so wohl war, brachte mich
meine Erinnerung — zum Glück nur ein einzigesmal — auf meine Nachbarinnen von
diesem Mittag. Es war ein krauser Gedanke. Sie hätten mir wohl zu keiner Zeit
mehr zur ihrem Nachtheile einfallen können. Was wäre aus mir und meinem
herrlichen Abend geworden, wenn es meiner glücklichen Albernheit nicht gelungen
wäre, beyde von mir zu verscheuchen. — Was hätte ich anfangen wollen, wenn die
eine so viel Geschmack an meiner Lehrbegierde, die andere an meinen sittsamen
Augen gewonnen, diese zu einem empfindsamen Spaziergange mit mir ihre Astern
abgesteckt, jene mir noch etwas über den Büffonischen Grundsatz zu sagen
gehabt, und mich — Gott erbarme sich — zu ihrem Begleiter gewählt hätte? Dieses
Bewußtsein entgangener Gefahr, wie mußte es nicht den Genuß meines
gegenwärtigen Glücks erhöhen! Meine Seele hing an den Lippen dieses Kindes, das
in dem lautern Ergusse seiner Empfindungen mir tausendmal beredter vorkam, als
die gräfliche Virtuosin in dem ungreinigten Ausflusse ihrer Gelehrsamkeit. Wenn
ich dir aber nun den Gang der Gespräche, die mich so anzogen, vorzeichnen, aus
ihrem gefälligen Inhalte die Schönheit des Herzen, dem sie entflossen, an das
Licht stellen will — ja, Freund, da entschlüpft mir die Feder. Solche feine
Schattirungen der Rede sind ihr so unerreichbar, als nimmermehr dem Pinsel
jenes ätherische Farbenspiel seyn kann, das unter unzähligen Abwechslungen dem
anbrechenden Morgen voran geht. So viel kann ich dir nur sagen, daß, nachdem
ich die kleine Zaubrerin einige Stunden in der Orangenallee auf= und abgeführt
hatte, ich mich unmerklich in eine Stimmung versetzt sah, die, der ihrigen
nachgebildet, sehr verschieden von der fröhlichen Laune war, deren ich mich
vorhin rühmte. Ihre Anfangs muntern Töne gingen, ganz ungleich dem Schlage der
Nachtigall, die mit einem Adagio anfängt, mir einem Allegro endigt, nach und
nach in immer rührendere Noten, immer schmelzendern Flötenlaut über, und hoben
und trieben mein sympathetisches Gefühl bis zum Bedürfnisse der Thränen. Ich
wollte ihr von unserm Könige erzählen; ich konnte nicht. Ich versuchte von
meinem Vaterlande zu sprechen; aber die Stimme versagte mir. Mir war, als ob
ich in der Ferne Klagen der Unschuld, über den dunkelhellen Bergen her den Ruf
der Ewigkeit hörte. Die trostarmen Vergessenen auf der Galeere erschienen mir
in allem ihrem Jammer, und ich konnte der Aufforderung nicht länger
widerstehen, dem Engel, der mir zuhörte, die Seelenleiden meines heutigen
Morgens an das Herz zu legen. Wir hatten uns kurz vorher einem Blumenbeete
gegenüber gesetzt, wohin sie einem Gärtnermädchen von ihrem Alter, das mit
einem Handkörbchen dahin ging, gefolgt war. Sie nickte ihr schon im Vorbeygehen
freundlich und bekannt zu, und bestimmte nun durch ihr Gutachten die Auswahl
der Blumen, die jene einsammelte. Sobald mein Gespräch aber ihr Mitleiden
erreichte, theilte sie nicht weiter ihre Aufmerksamkeit zwischen uns beyden.
Sie verließ den Platz, als ob er zu buntfarbig für den Ernst ihrer jetzigen
Empfindungen wäre, und führte mich, ohne ein Wort zu sagen, um keins der
meinigen zu verlieren, nach einem dunklen Bogengange, an den eine kleine
versteckte Laube stieß. Hier — wo der verschwiegene Mond nur durch die Blätter
über dem grünen Rasensitze zitterte, auf den wir uns niederließen — in dieser
nächtlichen Stille — allen Augen, außer jenem, verborgen, das über uns schwebte
— hier, an der Seite einer weichen weiblichen Seele, denke selbst wie viel
meine Erzählung unter diesen Umständen gewinnen mußte. Das liebe Kind beehrte
sie mit dem reinsten Beyfall, und, „o mein armer Vater!“ schluchzte sie am Ende
derselben, „welch einer Haushaltung des Kummers bist du vorgesetzt!“ — „Und
welchen Wundern der Tugend zugleich!“ fiel ich ihr ins Wort, und theilte ihr
nun auch, durch ihr Mitgefühl noch mehr befeuert, die Trauergeschichte des
frommen Kapuziners in Ausdrücken mit, die vielleicht nie über meine Lippen
wärmer gegangen sind. Durch Hülfe eines hellen Mondblicks sah ich, wie unter
ihren blauen, gen Himmel erhobenen Augen ein stilles Gebet auf ihrem rosigen
Munde schwebte. Ich glaubte eine Heilige in ihrer Verklärung zu sehen, und
schwieg. Meine Brust war gepreßt. Sie hörte mich seufzen, drückte mir die Hand,
und der Strudel hoher Empfindungen schien mich in eine andere Welt zu
versetzen.
Indem tönte die Gebetglocke eines nahen Nonnenklosters
in unsere Stille herüber. „Ach! ist es schon so spät?“ fuhr sie jetzt von der
Rasenbank auf, und eilte durch den finstern Bogengang dem bunten Lustbeete zu,
von welchem wir hergekommen waren. Ich folgte ihr, doch nur von weitem, nach,
wie sie zu erwarten schien, sah, wie sie sich neben das Körbchen setzte, das
die junge Gärtnerin indeß mit Hyazinthen, Mayblumen und Granatenblüthen gefüllt
und hingestellt hatte, und sah, als ich näher herbey kam, wie sie mit
thränendem Auge eine einzelne geruchlose, eine Passionsblume, heraus nahm, an
ihre Brust steckte, die Hand sinken ließ und sich in tiefes Nachdenken verlor.
Ich lehnte mich zitternd an einen Orangenbaum in einer mäßigen Entfernung von
ihrem Sitze. Drey feyerliche Pulse der Klosterglocke weckten sie wie aus dem
Schlafe. Sie sah sich erschrocken und noch erschrockener um, bis das Mädchen,
das sie erwartete, aus dem Gewächshause gelaufen kam. — „Geschwind, Marie,“
rief sie, und trug ihr das Körbchen einige Schritte entgegen, „noch ist die
Pfortenthüre nicht verriegelt, aber — eile.“ Indem ward sie meiner gewahr, kam
auf mich zu, und da ihr meine großen Augen nur zu deutlich verriethen, was in
mir vorging, war dieß dem lieben Kinde schon hinreichend, meine Neugier zu
befriedigen.
„Meine Unruhe über das Körbchen ist Ihnen gewiß
aufgefallen. — Es ist ein festgesetzter Tribut, den ich einer Freundin im
Kloster übersende, so oft ich diesen Garten besuche. Sie ging hier gern und
öfters mit mir spazieren, liebte das erste Grün des Frühlings, liebte die
Blumen so sehr, und kann jetzt hinter den hohen Mauern nicht einmal mit einem
Blicke das geringste Gräschen erreichen. Ueber ihre bewegliche Geschichte, mein
Herr, hätte ich mich beynahe mit meinem Geschenke verspätet — ich würde mirs
nicht verziehen haben. Ich kann mir die Freude der guten Agathe so lebhaft
denken, wenn sie aus dem Betstuhle in ihre Zelle zurück kommt und meine Blumen
findet, die ihr die Versicherung geben, daß ich in dem Garten bin, mich nach
ihr sehne, und ihr so lange in der Nähe bleibe, bis sich keine Glocke mehr
hören läßt. Das habe ich dem guten Kinde bey unsrer letzten Umarmung
versprochen. In drey Wochen geht ihr Probejahr zu Ende — o wie zittre ich für
sie! Denn ach! mein Herr, sie wählt das Kloster — ein schreckliches Unglück,
wen es trifft! — nicht aus Neigung, sondern aus Noth, weil sie keine Verwandte,
kein Vermögen, und in der weiten Welt nur an mir eine Freundin hat, die ihr
nicht helfen kann! Bald muß sie dem Andenken auch dieser feyerlich entsagen;
Gott wolle ihr beystehen, daß sie es willig thue!“ — Ein Thautropfen, der unter
diesen Klagen der Freundschaft aus den Augen der schönen Beterin in den Kelch
der Trauerblume an ihrem Busen herab fiel, erschütterte wie ein elektrischer
Schlag meine Nerven. — „Ach! wenn meine Erzählung,“ konnte ich kaum in
abgebrochenen Worten herausbringen. „Ihr edles, theilnehmendes Herz gerührte
hat, o wie haben Sie es wieder vergolten!“ — Wir wußte beyde vor Wehmuth nicht
wieder zur Sprache zu kommen, bis das dumpfe Geläut gänzlich verhallt war. Da
erst kehrte ihre Fassung zurück; aber meine blieb aus. — „Ich habe Sie, mein
Herr,“ fing sie gelassener an, „bis in die Nacht aufgehalten, ohne daran zu
denken, wie unbekannt mit meinem Kummer und wie fremd Sie mir sind. Aber eben
darum waren Sie mir in diesen Feyerstunden meiner Betrübniß kein überlästiger
Zeuge. Lassen Sie uns jetzt gehen, mein Herr. Die Gesellschaft ist längst aus
einander. Am Ende des Gartens erwartet mich, wie allemal, meiner Gouvernante.“
— In stiller, andächtiger Ehrfurcht folgte ich nun diesem wundervollen
Geschöpfe, das unter der Hülle hoher weiblicher Schönheit einen Geist besitzt,
der mir so überirdisch vorkam, als müsse er schon vor ihrer Geburt in den
Reihen der Seligen geglänzt haben. Halte dieß nicht für eine schwülstige
Phrase, Eduard; denn wahrlich ich wüßte dir die Empfindungen meiner Seele nicht
natürlicher und verständlicher auszudrücken.
Im Fortgehen kam uns in der Allee die ältliche Dame
entgegen, die weniger das Ansehen hatte, Aufseherin des Fräuleins, als ihre
ältere Freundin zu seyn. Sie empfing ihre holde Vertraute, die mir die letzten
Stunden des nun entflohenen Tages zu der unvergeßlichsten Epoche meines Lebens
erhoben hat, sie empfing sie mit schweigender, aber darum nicht weniger
herzlichen Umarmung, in der gewiß schon alles lag, was zu ihrem gegenseitigen
Verständnisse gehörte und keiner Worte bedurfte. Nur mir hatte sie etwas zu
sagen — aber was? Der Brigadier sey auf einen Augenblick da gewesen, und habe
ihr, weil er nicht Zeit gehabt mich aufzusuchen, das Schnupftuch zugestellt,
das mir diesen Morgen entkommen wäre. — — Wenn du dir einen Mann vorstellst,
der unter bänglichem Gefühle des Lebens sich über den Erdball erhebt, seine
Blicke in die Tiefen der Ewigkeit senkt, und an Gott und Unsterblichkeit
sauget, und dem in diesen Augenblicken ein Weib in das Ohr schreyt: Mein Herr,
Sie haben ein Loch in dem Strumpfe — so kannst du ungefähr errathen, wie mir in
der kostbaren Minute meiner vielleicht ewigen Trennung von dem erhabenen Kinde
eine so gleichgültige Nachricht und der Anblick meines einfältigen, längst
vergessenen Schnupftuchs gefallen mußte. Ich steckte es mit weit mehr Aergerniß
ein, als ich bey seinem Verluste hatte, machte der jüngern Dame im Geist
und in der Wahrheit, der ältern hingegen bloß nach dem gewöhnlichen
Schnitte, meine Verbeugung, und ging nun, die Arme in einander geschlagen,
langsamen Schritts meine Straße.
* * *
Das wilde Lärmen, in
welchem ich den goldenen Anker wiederfand, war mir nach meiner jetzigen
Stimmung äußerst zuwider. Den Schlaf zwar konnte es mir nicht rauben — der floh
meine Augenlieder ohnehin — aber es mußte mich doch, wenn es anhielt, nicht
wenig in dem ruhigen Ueberblicke meines verlebten Tages, und, worauf ich mich
besonders freute, in der Wiederholung der vielen süßen Empfindungen stören, die
ich aus der Geistesüberströmung meiner vortrefflichen Gesellschafterin
habsüchtig nur zusammen getragen, und gleichsam in Masse und mit der Hoffnung
nach Hause gebracht hatte, sie dort mit aller Muße zu ordnen und zu
zergliedern. Der Wirth, als er mir vorleuchtete, gab mir, als Ursache des
Nachtgetümmels in seinem Gasthofe, die Hinrichtung eines Deliquenten an. — „Bey
solchen Gelegenheiten,“ setzte er hinzu, „gewinnt unser eins am meisten; denn
kein Schauspiel macht und erhält das Volk munterer und durstiger als dieses.“ —
„Der rohe Mensch ohne Cultur,“ warf ich zur Antwort hin, giebt viele
dergleichen Räthsel zu lösen.“ — „Thun Sie dem cultivirten Menschen nicht
Unrecht,“ verhöhnte mich der Wirth; „einer ist wohl so unerklärbar als der
andere: doch, mein Beruf ist es heute nicht zu philosophiren, sondern meinen
Zechgästen Wein aufzutragen.“ Er wollte nun gehen; ich vertrat ihm die Thür. —
„Nur noch ein Wort, lieber Mann! Können Sie mir wohl Bescheid geben = = = — „O
ja,“ unterbrach er mich, „vollkommen.“ — „Wissen Sie doch noch nicht, worüber,“
fuhr ich ihn an. — „Vermuthlich doch,“ versetzte er, „über den Tod des
Gehenkten; denn heut wird nur davon gesprochen.“ — „Nichts weniger,“ gab ich
zur Antwort; „was geht mich der Gehenkte an! Die Rede ist von der
liebenswürdigen Tochter des Herrn Intendanten, deren Bekanntschaft ich heute
gemacht habe.“ — „Läuft ziemlich auf Eins hinaus,“ kauderwälschte der
betrunkene Kerl. „Nächster Tage wird Fräulein Clärchen“ — der Name gab mir
einen Stich durchs Herz — „auch nicht viel besser als executirt seyn.“ —
„Herr!“ polterte ich ihn an, „Sie sind nicht gescheut, oder haben mich nicht
verstanden. Um mich kurz zu fassen, wollte ich nur fragen, ob Fräulein Clärchen
das einzige Kind des Herrn von Saintsignan sey?“ — „Seine einzige Tochter ist
sie,“ antwortete er mir jetzt besonnener. „Doch vergeben Sie, ich will nur
einen Blick auf meine untere Wirthschaft werfen, und bin sogleich wieder zu
Ihren Diensten.“ Mit dieser Versicherung flog er, vor einer Stunde, zur Stube
hinaus, ohne sich weiter um mich zu bekümmern. —
* * *
Ach, mein Eduard! bis hierher hatte ich geschrieben,
und da ich dir nichts mehr zu erzählen hatte, war ich eben im Begriffe zu Bette
zu gehen, als der Wirth sachte die Thür öffnete, und, da er mich noch aufsah,
herein trat. — „Endlich,“ hustete er mir entgegen, „ist es ruhig in meinem
Hause. Mein Tagewerk ist vollbracht, bis auf die Erklärung, die ich Ihnen von
meiner vorigen Rede noch schuldig blieb. Sie erkundigten sich nach Fräulein
Clärchen. Das schöne Mädchen scheint Eindruck auf Sie gemacht zu haben. Sie
sind nicht der erste Fremde, dem das widerfährt. Executirt — sagte ich? Nun das
war nur scherzweise. Ich würde von der ganzen Sache nichts wissen: aber die
Dame, die Sie bey ihr werden gesehn haben, und ihre Gouvernante von Jugend auf,
ist meiner Frauen Schwester; durch sie erfahren wir alles. Nächster Tags, sagte
ich? Hören Sie nun wie ichs meine. Künftigen Sonntag, wird seyn der vier und
zwanzigste, feyert Fräulein Clärchen ihren sechzehnten Geburtstag; aber wie?
Sie setzt sich ganz früh mit meiner Schwägerin in einen zugemachten Wagen, in
Begleitung eines Geistlichen, schneeweiß gekleidet, wie ein armer Sünder,
steigt nicht weit von Marseille bey den Ursulinerinnen aus, laßt sich ihr
langes Haar abschneiden, tritt ihr Probejahr an, und wird in einer Zelle
begraben. Der Zirkel ihrer Freunde und Bekannten mit aller seiner Cultur trinkt
dann, so gut als heute meine Gäste, ein Glas mehr als gewöhnlich. Sieht das
nicht ganz wie eine Execution aus, mein Herr?“ — „Um Gottes willen,“ brach ich
jetzt los, „um Jesus Barmherzigkeit willen, Herr Wirth, besinnen Sie Sich. Ich
spreche von Fräulein von Saintaignan — von der Tochter des hiesigen Herrn
Intendanten.“ — „Und spreche ich denn von einer andern?“ erwiederte er. —
„Dieses herrliche Geschöpf, sagen Sie, würde Nonne?“ — „Ganz gewiß, mein Herr!
Wundert Sie das?“ — „Aber, bester Mann,“ trat ich ihm jetzt mit gefalteten
Händen näher, „wäre es denn möglich, daß ein so verständiger Vater seine
einzige Tochter, einen solchen Engel = = — „Vermuthlich damit sie es bleiben
soll,“ fiel mir der Wirth in die Rede, „bestimmte sie — nicht ihr Herr Vater —
zum Kloster — da thun Sie ihm Unrecht — sondern die Mutter that es vor zehn
Jahren auf ihrem Sterbebette.“ — „Aber was, ich beschwöre Sie, was brachte denn
diese aberwitzige Frau auf diesen barbarischen Einfall?“ — „Ich will nicht mit
ihnen um Worte streiten,“ antwortete der Wirth; „aber wer kann das genau
wissen? Was ich darüber habe schwatzen hören, will ich Ihnen mittheilen. Der
Beichtvater, erzählen einige, habe es der Sterbenden zur Bedingung ihrer
Seligkeit gemacht. Dawider wäre nichts einzuwenden. Es ist die Schuldigkeit
dieser Herren; aber, ich glaub es nicht einmal. Meine Schwägerin auch nicht.
Diese war bey der seligen Marquise bis zu ihrem Verscheiden, und hatte Fräulein
Clärchen auf dem Schooße. Auf der andern Seite vor dem Bette kniete der Sohn,
der um zehn Jahre älter als die Tochter, natürlich der Mutter auch zehnmal
lieber war. Und in diesen bangen Minuten, wie sich meine Schwägerin ausdrückt,
wurde das Schicksal der beyden Kinder für die Zukunft entschieden. Die Dame
machte, was diesen Punkt betrifft, den Dominicaner. der sie einsegnete, durch
eine förmliche Urkunde zum Executor — da haben Sie´s ja — ihres letzten
Willens, dessen Vollstreckung, wie gesagt, nächsten Sonntag seinen Anfang
nimmt, und in Jahresfrist der Schwester den Schleyer, dem Bruder die ganze
mütterliche Erbschaft zuspricht. Er wird dadurch einer der reichsten Herren im
Lande, und er verdient es. Ein wohl gebildeter, braver Officier, dem das Herz
auf dem rechten Flecke sitzt.“ — „Wenn Sie wahr sprächen, Herr Wirth,“
schluchzte ich, „würde er die Erbschaft nicht annehmen.“ — „Er sollte sie nicht
annehmen?“ schrie der Kerl, „sollte die schönen Güter in der Normandie, sollte die
Plantagen in Saint=Domingo nicht annehmen? Ist denn der letzte Wille einer
Mutter nicht umumstößlich? Wird denn das Fräulein nicht Zeitlebens gut
aufgehoben? und war ihr denn die Wahl des Klosters nicht frey gestellt?“ — „Der
letzte Unsinn einer schwachköpfigen, sterbenden Schwärmerin,“ beantwortete ich
mit Bitterkeit seine gehäuften dummen Fragen, „die niemand darüber zu Rathe
zieht als einen Dominicaner, kann weder Kraft bey ihren Erben, noch Gültigkeit
vor Gerichte haben.“ — „Um Vergebung,“ wendete der Wirth dagegen ein, „Frau von
Saintaignan war nichts weniger als eine schwachköpfige, war vielmehr eine sehr
kluge, rechtschaffene und empfindsame Dame, und das Vermögen, über das sie
Vorsehung traf, kam von ihr her. Ich sehe auch bey Gott nichts unkluges und
nicht halb so viel unbilliges in so einem Testamente, als bey einem Majorate;
denn jenes erhält die Familie nicht allein auf Erden, sondern auch im Himmel
bey Ansehen.“ — „Gehen Sie, Herr Wirth,“ unterbrach ich ihn, „Sie haben vorhin
sehr richtig über Ihren Beruf geurtheilt: Philosophie liegt wirklich ganz außer
Ihrer Sphäre. Gehen Sie und schaffen Sie mir ein Glas Limonade.“ — Er ging;
doch ehe ich mich noch im geringsten von meinem Schrecken erholt hatte, stand
er mit seiner Bouteille und seinem Geschwätze wieder vor mir. — „Da Sie doch,“
sagte er, indem er mir einschenkte, „eine Flasche Limonade nöthig haben, um
über das Schicksal Fräulein Clärchens Ihr Blut zu beruhigen, wie viel werden
Sie nicht brauchen, wenn Sie erst die Geschichte des Bruders erfahren!“ — „Ich
mag sie gar nicht wissen, Herr Wirth. Was so eine Seele angeht, ist mir ganz
gleichgültig.“ — „Das wird es Ihnen nicht bleiben; lassen Sie mich nur erst
erzählen. Daß Fräulein von Saintaignan den Schleyer annimmt, gereicht keinem
Menschen zum Nachtheile, so wenig als ihr selbst. Ihr Herz ist noch nicht
vergeben, und das Kloster befreyt sie von allen Nachstellungen. Wenn einem
Manne aber, wie dem jungen Marquis, des Heilands wegen eine Braut untreu wird,
so ist dieß wohl ein seltneres Unglück, und unserm jungen Herrn muß es noch
viel schmerzhafter fallen, weil sein Schwesterchen vielleicht noch mehr Antheil
daran hat als der Heiland.“ — Jetzt erst schenkte ich seiner Erzählung meine
ganze Aufmerksamkeit. — „Die junge schöne Prinzession von Montbasson,“ fuhr er
fort, „wurde hier unter der Aufsicht meiner Schwägerin mit Fräulein Clärchen
zugleich erzogen. Erstere war von jeher dem Bruder bestimmt; dem ungeachtet
gewannen die beyden jungen Leute einander lieb, die Zeit verging, der Tag ihrer
Vermählung war schon festgesetzt, und der Bräutigam wurde nächstens von der
Armee erwartet. Dieser Zwischenraum, so kurz er war, warf alles über den
Haufen. Die Freundschaft zur Schwester stritt schon lange in dem Herzen der
Prinzessin mit der Liebe zum Bruder, und, was wohl noch nie erhört ist, sie
siegte. Die schöne Verlobte entschloß sich kurz, schrieb ihrem Bräutigam einen
bethränten Abschiedsbrief, flüchtete, ehe sich meine Schwägerin dessen versah,
in das Kloster, das ihre Gespielin gewählt hat, und erwartet dort nun schon
seit acht Wochen die baldige Wiedervereinigung mit ihr auf Leben und Tod.
Dergleichen heldenmüthige Entschließungen, mein Herr, dergleichen Freundschaft,
Treue und Hingebung ist nur in unserer Religion möglich. Wenn auch sonst nichts
ihre Göttlichkeit bewiese, solche Beyspiele würden es allein thun. Der junge
Herr, sagt man, soll untröstlich seyn. Das ist begreiflich. Man wird freylich
eine Schwester gelassener einkleiden sehen, von der man erbt, als eine geliebte
Braut, die alles mitnimmt und dem Himmel aufhebt, was wir schon als uns
zugehörig betrachteten, und das unserer Phantasie von unersetzlichem Werthe
scheint.“ — „Wer hart genug ist,“ antwortete ich, „eine solche Schwester dem
Moloch — der Mönchswuth zu opfern, verdient statt der Schmeicheley eines
liebenden Auges die Umarmungen der Furien. Gott tröste und segne nur die beyden
trefflichen Mädchen — was kümmert mich der unnatürliche Bruder!“
Der Wirth schlich während meines heftigen Ausfalls
gähnend davon. Ich schlüpfte in meine Kammer — aber woher sollte mir der Schlaf
kommen? — stürzte wieder heraus, setzte mich an meinen Schreibtisch, und sitze
noch da, fluche der geistlichen Verrätherey an der Menschheit, und zanke zur
Abwechslung mit dem Schicksale. Ich kann mich nicht trösten über den Verlust,
den Welt, Tugend und Freude durch die Mordthat an diesem unvergleichlichen
Mädchen erleidet. Jetzt erst begreife ich ihre Erschütterung, als die
Klosterglocken zum nächtlichen Gebete läuteten; jetzt erst fühle ich das ganze
Gewicht der stillen Thräne, die ihr über die Wange in den Kelch der
Passionsblume rollte; erst jetzt wird mir es klar, warum ihre Bewunderung des
ausduldenden Kapuziners sich in Beben und Gebet verlor, warum ihr Auge so
gerührt über den Blumen hing, die sie ihrer eingekerkerten Agathe darbrachte,
und ich verstehe die Wehklage über ihr Unvermögen der verwaisten Armen zu
helfen.
O du, deren melodisch tönende Trauerstimme mir das Herz
jetzt schneidend durchdringt, wohl hattest du recht: ich entdecke mit Stolz den
Sinn deiner Rede, daß ich zwar unbekannt mit deinem Kummer, doch des Mitgenusses
deiner Schwermuth nicht ganz unwürdig sey. Hält mich auch der Nachschwung in
die lichtvolle Höhe der Unsterblichkeit, aus der du, gleich einem Engel, auf
diesen Todtenhügel herab schimmerst, immer noch fern von dir, so giebt mir doch
schon der mindeste Nebenstrahl deines heutigen Abglanzes alle Ehre und Würde
wieder, die ich in der niedern Sphäre des Leichtsinns und der Wollust verlor. —
Dich, die jeden Kreis erheitert, jeden geselligen Trieb veredelt, konnte ein
Vater, der Lebensgenuß, Freuden und Feste liebt, zu der Einsamkeit eines
Klosters verdammen? — eines Klosters? wo deine von ihm entsprossene und sorgsam
gepflegte Jugendblüthe, bey den höchsten Ansprüchen auf Gefallen und Liebe, wo
deine sanften Herzenserwartungen und jene geheimen Ahndungen mütterlichen
Entzückens — einem Götzenbilde zum unnützen Weihrauch dienen, und die Keime zu
den reichsten Ernten menschlichen Glücks in dem Darrofen einer Zelle dumpf
werden und vertrocknen sollen? — Unglückliches Kind! Entferne dich, wie die
Tugend vom Laster, von deinem abscheulichen Bruder, der die Stirn hat, das
Verbrechen seiner Erbschaft mit dem letzten Willen einer in Wahnsinn sterbenden
Mutter zu beschönigen. Entferne dich, noch ist es Zeit, von den arglistigen
Lockungen der frömmelnden Sirenen, die dich in den Strudel ihrer Langenweile zu
ziehen drohn. Erhalte deine holde Munterkeit der freyen, mit dir verwebten
Natur — fern von dem heiligen Schneckengang eines ungebrauchten strafbaren
Lebens. Und entflöhest du als Bettlerin dem undankbaren Lande, dessen Zierde du
bist, so würdest du doch die Sonne auf= und untergehen, den Wald grünen, die
Saatfelder wogen sehen, würdest die Lerchen singen, den Bach rieseln hören, und
in dem großen Tempel Gottes eine redlich freywillige Dienerin seiner
ausgespendeten Liebe seyn. —
Dreymal habe ich die niedergelegte Feder wieder
erhoben, und meine Herzensangst durch das Adagio der Elegie zu besänftigen
versucht; aber das Vorgefühl der unnennbaren Leiden, denen das unbefangene
Kind, zur Feyer seines Geburtstags, entgegen geht, foltert mich zu sehr, um
meinen Schmerz täuschen zu können. — Muß sie denn hin, die arme Verlockte, wo
schon so viel lebendig begraben wurden, die ihr an Schönheit, Tugend, und
Frohsinn gleich waren: nun so stärke sie Gott bey dem Erwachen ihres
Bewußtseyns! Er lasse ihr vollen Ersatz in der Freundschaftquelle der
Unnachahmlichen finden, die dem ehelichen und mütterlichen Berufe freywillig
entsagt, um jeden Kelch mit ihrer Jugendgespielin zu trinken, und auf denselben
Stufen, gleichen Schritts mit ihr, in die Region der Auserwählten zu steigen!
Möge der Gedanke untrennbarer Vereinigung euch immer als ein lachender Genius
zur Seite stehen und durch dieses kurze Leben begleiten, ihr göttlich
verschwisterten Seelen! — Zwo Blumen — so denk ich mir euch — zwo herrliche
Blumen im Thale, umringt von unübersteiglichen Felsen, die, der Kenntniß der
Menschen und ihrer Neugier ewig verborgen, ihr blühendes Daseyn in dem leeren
Lufraume verdunsten — aber ein Engel des Himmels hat sie unter seiner Obhut,
sonnet, pfleget und schmückt sie, und findet Wohlgefallen an ihrer Eintracht
und Schönheit. — Wer kann sagen, daß sie Unrecht leiden? Wer kennt den Umfang
ihrer Bestimmung? — An dieses tröstende Bild will ich mich halten und mein
Hauptküssen damit polstern, und so oft ich murrend = =
* * *
Gott! was ist mir begegnet! Es lag, Eduard — während
der drey Stunden, die ich dir vorjammerte, lag eine der schauderhaftesten
Nachrichten auf meinem Pulte. Ich entdeckte sie, da ich mir eine Thräne
abtrocknen wollte, die mir meine Trauer um das schöne, edle, duldende Kind
entriß. Indem ich mein Schnupftuch entwickelte, fiel ein Brief heraus. Hier ist
sein Inhalt.
„So sehr ich auch für Ueberraschungen bin, lieber
Wilhelm, so hätte ich derjenigen doch gern entbehrt, die du mir heute zu sehr
ungelegner Zeit verschafft hast.“ —
Was zum Henker, dachte ich bey mir selbst und legte
meine flache Hand auf das Blatt, will der Marquis mit diesem spitzigen
Eingange? Ich konnte es nicht errathen, und las fort. —
„Ich würde mich über meinen verlornen Spaziergang kaum
getröstet haben — das Glück, das dir ward, gehörte mir, du führtest Clärchen,
und ich inzwischen mußte deine tollen Geschäfte bey ihrem Vater vertreten —
wäre mir nicht zu einiger Entschädigung der Spaß geblieben, dich am Ende mit
den Folgen deiner angenehmen Zerstreuung, die alle deine Schritte durch die
Welt begleitet, selbst stärker noch zu überraschen als du mich.“ —
Zur Sache, lieber Marquis, rief ich voller Ungeduld.
Ach, ich erfuhr sie nur zu geschwind!
„Dein verlornes Schnupftuch und dein unbenutztes
Einlaßbillet haben sich wieder gefunden. Ich soll dir das erstere im Namen des
Königs überliefern. In Ansehung des andern wird dich das darüber gehaltene
Protocoll verständigen, das ich von dem Herrn Intendanten Erlaubniß habe dir
im Auszuge mitzutheilen:
„Nachdem der angeblich aus Chursachsen gebürtige
Ehrlieb Fürchtegott Freyherr von ...., der seit drey Jahren wiederholter
Betrügereyen halber, sonderlich in verbotenen Spielen, auf die königlichen
Galeeren allhier gebracht worden, heute dato sich des Verbrechens schuldig
gemacht, und eingestanden hat, daß er diesen Morgen die Unachtsamkeit eines
andern hier durchreisenden Deutschen, der die Galeeren besah, benutzt, und mit
derselben Hand, die er nach einem Almosen jenem entgegen streckte, nicht nur
dessen Taschentuch, sondern auch einen Erlaubnißschein zur Besichtigung des
königlichen Arsenals, diebischer Weise entwendet, und beydes eine Stunde
nachher einem Englischen Herumstreicher für sechs Livres verkauft habe. Nachdem
ferner nur gedachter aus Glocester gebürtiger Vagabond sich in anständige
Kleidung arglistig versteckt, und unter dem angemaßten, auf dem Einlaßschein
ausgedruckten Namen des rechtmäßigen Eigenthümers sich Zugang in das Arsenal
zu verschaffen kühnlich versucht, und nicht vermocht hat, seine dabey hegende
verrätherische Absicht zu läugnen, solche vielmehr durch sein wörtlich
folgendes Geständniß außer allem Zweifel gesetzt ist u.s.w. — Als haben die
königlichen Admiralitäts=Gerichte allhier für Recht erkannt, und sprechen
demnach für Recht: daß beyde genannte, ihrer Verschuldung überführte Gaudiebe,
und zwar der Englische Matrose, nachdem ihm der Name, den er sich fälschlich
zugeeignet, abgenommen, und sein eigner ehrenverlustiger an die Stelle gesetzt
worden, auf das im Hafen vor Anker liegende, noch uneingeweihete neue
Kriegsschiff Vengeance gebracht, dem zur Vollstreckung des Urtheils bereits
angewiesenen Officier daselbst überliefert, und vor Untergang der Sonne an den
Mastbaum aufgekhüpft und gehenkt werden, bis der Tod erfolge. v.R.w.“
* * *
Bey den letzten Worten — unheimlicher ist mir in meinem
Leben nicht zu Muthe gewesen — entfiel der Brief meinen zitternden Händen, das
Athemholen, das mir während des Fortlesens schon schwer genug ankam, schien
jetzt ganz auszubleiben. Für alles in der Welt hätte ich ich nicht gewagt mich
umzusehen; denn mir war immer, als ständen von den beyden Gehenkten der
Freyherr auf der einen, der Matrose auf der andern Seite meines Lehnstuhls, um
mich über ihre Hinrichtung zur Verantwortung zu ziehen. In diesen scheuen
Augenblicken sprudelte mein abgebranntes Licht, verlosch, und alle
Schrecknisse der Nacht stürzten über mich zusammen. Mein brausender Kopf — was
ist doch der Mensch für eine armselige Maschine! — drückte sich, wie im
Vorgefühl der Erdrosselung, zwischen die Achseln, Galle überlief meine Zunge,
und häßlicher Krampf sträubte mein Haar. So verschwitzte und verhorchte ich
eine lange peinliche Stunde in einer Todesangst, die von den Gehenkten auf mich
vererbt schien. — Endlich — es war die heftigste Erschütterung meiner
gespannten Nerven, aber auch die letzte — hörte ich von weitem ein Posthorn
schmettern, und einen Wagen vor das Haus fahren. Der Postillion — ich hätte ihm
billig für den blinden Passagier ein Trinkgeld bezahlen sollen — brachte mir
meine entlaufene Vernunft zurück. Ermannt sprang ich von meinem heißen
Lehnstuhle auf, hob die Vorhänge und öffnete das Fenster. Mein Grausen verflog.
Ich sah lebende Menschen, und den Anbruch des Morgens schon hell genug, meinen
furchtbaren Brief weiter zu lesen. Schamroth und lächelnd hob ich ihn vom Boden
auf, las herzhaft die Mordgeschichte noch einmal sammt der Nachschrift, die ich
dir noch abschreiben will.
„Damit du nun auch hörst,“ fährt Saint-Sauveur fort,
„wie erbaulich sich dein Landsmann bey seinem Uebergang in die andere Welt
betrug, so lege ich dir einen Auszug der Anzeige des Officiers bey, der die
Execution commandirt hat. — — „Und als nun beyde Verurtheilte auf dem Verdeck
zusammen trafen, weigerte sich jeder die Leiter zuerst zu besteigen. Da sich
die Sonne schon stark neigte, befahl ich, um keinem Unrecht zu thun, den Streit
durch Würfel zu
entscheiden, deren auch sogleich drey gebracht wurden. Zur
Kenntniß des menschlichen Herzens, wenn es bis auf einen gewissen Grad verdorben
ist, verdient angemerkt zu werden, daß die Freude des Deutschen, bey
Erblickung derselben unmäßig war. Als er sie von dem Engländer, der zuerst
warf, übernahm, küßte er sie, rieb sie warm zwischen den Händen, und: „Es geht
doch nichts über ein Hasardspiel!“ sagte er, warf, und verlor durch einen
Punkt weniger den ausetzten Preis. Unwillig, doch entschlossen, machte er sich
nun auf Weg. Indem ihm der Strick um den Hals gelegt wurde, sagte er zum
Nachrichter: Ich bin aus der Uebung gekommen. In den Bädern besonders in
Ronneburg, verstand ichs besser. Hätte ich den Satz Würfel gehabt, die mir der
dortige Kammerpräsident abnehmen ließ, der Engländer sollte, bey meiner
Cavaliers=Parole, eher gebammelt haben als ich. Noch ein Wort, lieber Freund,
mache Er Seine Sache gut: ich kann Ihn belohnen; denn ich habe die drey Würfel
dem Rumor heimlich eingesteckt; die gehören nun Sein. Sie können Ihm etwas
eintragen, ich will Ihm sagen wie: Schreibe Er unter meiner Adresse nach
Leipzig, so kommt der Brief sicher an meinen nächsten Blutsfreund. Diesem biete
er sie an. Er macht gewiß einen guten Handel; denn die Würfel eines Gehenkten
sind schon etwas werth. Sie sollen nie fehlen, sagt man: Schade daß ich nicht
selbst versuchen kann, was daran ist! Eile Er aber, damit der Kauf, vor der
Michaelis=Messe = = = Hier stieß ihn der Nachrichter von der Leiter.“
„Aus dem, was du gelesen hast, darf ich wohl
voraussetzen, daß dir morgen das schmalste Mittagsbrot anderwärts schmackhafter
dünken wird, als das prächtigste Fest unter dem Mastbaume der Vengeance. Die
angenommene Einladung ist leicht wieder abgesagt. Laß uns also, was wohl das
klügste ist, mit dem Tage von hier aufbrechen, damit wir noch vor Untergang
der Sonne, die du heute deinem Landsmann hast auslöschen helfen, unser schuld=
und straffreyes Thal erreichen. Dort wird es dir hoffentlich eher behagen, die
reichhaltige Geschichte des verlaufenen Tags in eigene stille Betrachtung zu
ziehen, als umringt von Fragern und Zuhörern. — Wo wolltest du Zeit hernehmen,
die Neugier aller zu befriedigen, in deren Mäuler du gerathen bist? Auf den
Malteser Ritter allein müßtest du eine gute Stunde rechnen. Er ist zu sehr
Genealogist, um nicht bey Gelegenheit des Mastbaums — den Stammbaum des
gehenkten Edelmanns bis auf den nun ausgegangenen Zweig zu beleuchten,
Ahnenprobe mit ihm anzustellen, und dabey zu bedauern, daß eine solche
Stiftsfähigkeit, für die mancher ehrliche Bürger gern Haus und Hof hingeben
würde, wenn er sie dadurch erlangen könnte, so schändlich verloren gegangen
sey. Hast du nun für dergleichen genealogische Ergetzungen keinen Sinn, trauest
du dir nicht Festigkeit genug zu, den Bemerkungen deiner moralischen
Tischnachbarin, dem viel sagenden höflichen Stillschweigen des Intendanten, den
Sticheleyen deines lahmern Begleiters, mit Einem Worte, allen den Folgen von Heute,
gesetzten Schritts morgen entgegen zu treten; so halte dich gegen fünf Uhr
früh, wo ich bey dir vorfahren werde, so deiner Abreise gefaßt.
Saint=Sauveur.“
* * *
Das trifft ganz vortrefflich zusammen! Eben schlägt
es. Ich bin völlig, noch von gestern her, gekleidet, und höre, wenn ich mich
nicht irre, den Wagen des Marquis über die Gasse herrollen. — Richtig er ists.
den 21. Februar.
* * *
Grimma,
gedruckt bey Georg
Joachim Göschen.
* * *