BRIEFE
VON & AN
MORITZ
AUGUST VON THÜMMEL
Eine Briefausgabe des Dichters
kann nur als in ständiger Veränderung begriffene Ausgabe erscheinen.
Die Grundlage bilden die in Gruners Lebensbeschreibung (s. links) wiedergegebenen
Briefe. Hier erscheinen Ergänzungen und Erweiterungen.
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Sonneborn d. 25th Novbr 93.
Während ich, lieber W., auf die Rückkehr den 4ten Theils meines
Manuscpts. warte, habe ich, um Ihnen zu zeigen wie viel ich auf Ihre Critik
achte, so wohl meinem wollüstigen Träume von Clärchen einen
anderen Ausgang gegeben, als auch meinen poetischen Lebenslauf mit einigen
Strophen zum Einschalten vermehrt, die ihn, glaube ich in einem bessern
Zusammenhang darstellen, ohne daß ich nöthig habe ihn durch
dazwischen laufende Prosa, zu unterbrechen. Ich schicke Ihnen diese neuen
Verbesserungen entgegen damit sie mir auch darüber noch zuvor
Ihre Meynung sagen, ehe ich jene Bogen, wenn ich sie von Ihnen erhalten,
umschreibe. Ich habe seitdem auch die Reise von Johann gelesen, die, unter
uns gesagt, nichts weniger als die Ehre hat mir zu gefallen. Wenn Sie wirklich
von Göschen ist, so sehe ich es als eine Buchhändler-Speculation
an die er auf Kosten meines ehrlichen Bedienten, unternommen hat um Käufer
anzulocken. In Gotha hat der Tittel, auch in dem ersten
Moment, eine Menge Leute verführt aber ich fürchte daß
es damit nun schon vorbey ist, und wenn G. die Kunstrichter nicht am Seilchen
führt, so fürchte ich daß er am Ende selbst noch seinen
Einfall bereuen wird. Leben Sie wohl
Th.
An den Herrn/ Kreissteuer Einnehmer/ Weise/ in/ Leipzig/ frey
Dieser Brief
steht stellvertretend für zwei Aspekte des Thümmel´schen
Schaffens: Die (fast) lebenslange Begleitung und Kritik durch den Freund
Christian Weisse und der Umgang der Verleger mit dem Werk, bzw. Teilen
des Werkes. Besondes einschneidend war Weisses lektorierende Tätigkeit
bei der »Wilhelmine« (vgl. die Ausführungen auf der Seite
>Nachrichten aus Thümmels Leben<.). Verleger hängen sich gern
an Erfolge: Friedrich Nicolai machte 1774 den etwas tumben Pastor, überglücklicher
Ehemann Wilhelmines, zum Helden seines Romans »Das Leben und die
Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker«; der Verleger Georg
Joachim Göschen läßt Johann, den treuen Begleiter des gemütskranken
Intellektuellen aus der »Reise ...« seine eigenen Aufzeichnungen
und Beobachtungen vorlegen. Der Leser mag entscheiden zwischen Original
und Nachahmung!
Veröffentlicht in: Bd. 1: Literaturvermittlung. Zeugnisse aus
einer Sammlung zur Geschichte des Buchwesens. Herausgegeben von Herbert
G. Göpfert und Mark Lehmstedt. Leipzig 1992. 229 S., 13 Abb., Seite
66.
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Breslau, den 10. Okt. 1794
Ich komme eben von einem Feste, welches Sie mir zubereitet haben.
Zwar habe ich noch nicht die drei letzten Teile der Reise nach der Provence
aus Ihren Händen empfangen und dieses Geschenk würde ich die
Eitelkeit haben, mir einzumahnen; wenn Herr Göschen es vergessen sollte,
aber ich habe sie gelesen; und, wie Sie aus Erfahrung wissen, das Werk
eines Mannes von Genie macht einen, während der Zeit, da man damit
beschäftigt ist, glücklicher. Es hat auch immer eine unterrichtende
und belebende Kraft in sich, der Gegenstand, von welchem es handelt, mag
sein, welcher er wolle. Ich lerne mehr, wenn mir ein Mann von Genie die
geheimen Kreuze des unheiligen Clärchen aufdeckt; als wenn mir ein
gemeiner Kopf die Wissenschaften der Moral und Politik vorträgt. In
der Tat ist, wenn ich nicht irre, selbst nach Ihrer Absicht, die Geschichte
nur das Vehikel, die Belehrungen, welche über menschliche Sitten und
Leidenschaften, und besonders über die Wirkungen des Aberglaubens,
in der Erzählung eingewebt sind, oder durch dieselbe veranlaßt
werden, auch für die Einbildungskraft der Leser anziehend zu machen.
Wenn in diesen Bänden auch nur die Episode von den päpstlichen
Soldaten und ihren Schicksalen vorkäme, so würde mir das Buch
und der Autor schätzbar sein, so wie es mir der Tristram Schandy und
sein Verfasser durch die Episode von dem Leutnant Le Fever sind. Diese
beiden Werke sind, in Absicht des Inhalts, des Tons, der Erzählung,
des Stils, einander sehr unähnlich, aber sie kommen darin überein,
ihre Verfasser als äußerst gutherzige Menschen, als sehr feine
Beobachter, und als Leute von entzündbarem Temperamente, in Absicht
des andern Geschlechts, zu schildern. Beide lieben etwas die nackten Gemälde,
beide hassen den Aberglauben, beide mischen einen gewissen Tiefsinn unter
die Frivolitäten. Der Witz von beiden ist Sterling=Witz, der oft erst
auf die Kapelle gebracht, probiert und gewogen sein will, ehe man seinen
ganzen Wert einsieht. Auch Dunkelheiten damit ich die Vergleichung noch
etwas weiter treibe, sind beiden gemein.
Schon in den beiden ersten Teilen Ihrer Reise
sind mir einige Verse unerklärlich geblieben, und auch in diesen sind
mir einige poetische Stellen schwer geworden, und andere, obgleich nur
wenige, völlig dunkel gewesen. Ich weiß nicht recht, ob die
Allegorie, mit welcher sich die gefährliche Szene der Geschichte schließt,
nur einen freiwilligen Rückzug, oder eine sich versagende Naturkraft
anzeigt, und ob bloß die Beweise der innigen Vertraulichkeit des
Probstes, oder ob noch schlimmere Ahndungen diese seltsame Veränderung
hervorbringen. Indes war dieser Punkt dazu gemacht, im Dunkeln zu bleiben.
Dafür ist in dem vortrefflichen Prologe der Marionettenspieler alles
sonnenklar. Die Ode über den Zufall, tiefer gedacht,und mit etwas
feiner angedeuteten Anspielungen angefüllt, belohnt die Mühe
sie zu verstehen, weil man den Sinn allenthalben, und einen reichen, philosophischen
Sinn, darin findet; und Sachen und poetischer Ausdruck sind, in den letzten
Stanzen, mit welchen Sie von dem Avignonschen Gebiet und von dem Leser
Abschied nehmen, gleich untadelhaft. Mit einem Worte, Ihr Buch ist eine
Galerie von Gemälden, wo der Sinn zuerst gereizt, aber die Imagination
noch mehr befeuert, und zuletzt auch der Verstand und die Vernunft befriedigt
werden.
Indessen Sie wollen gewiß nicht bloß
das Lob Ihres Freundes, sondern Sie wollen sein Urteil; und das erste kann
nur für aufrichtig gehalten werden, wenn das andere freimütig
ist.
Ich habe in der Tat schon den größten
Tadel, den ich dem Buche zu machen hätte, angezeigt. Es ist zu tiefsinnig
für die frivolen Leser, die es scheint, an sich ziehen zu wollen.
Es verrät einen Verfasser, der viel und tief über die Dinge in
der Welt nachgedacht hat, und es verlangt einen Leser, der wieder so nachdenkt;
und doch scheint der Hauptgegenstand nur bloß die Sinnlichkeit zu
beschäftigen. Überhaupt wünschte ich, daß ein so großer
Menschenkenner und ein so glücklicher Maler der Sitten sich
einen Stoff von noch größerm Umfange gewählt, und nicht
eine einzige Leidenschaft zum Mittelpunkte aller seiner Schilderungen gemacht
hätte, von wo aus freilich, wie es in der Natur auch geschieht, Strahlen
ausgehn, die sich über das ganze Gebiet der Sittlichkeit und des geselligen
Lebens erstrecken, wo aber doch vieles nur im Profil und wie im Hintergrunde
gezeigt werden kann, was auf einem Gemälde, dessen Hauptinhalt mannigfaltiger
wäre, in voller Gestalt und in vollem Lichte erschienen wäre.
Es ist das Werk des Genies, eine einfache kleine Begebenheit, durch den
Reichtum, den es aus seinen eigenen Schöpfungen hineinzubringen weiß,
interessant und lehrreich zu machen; aber was würde dasselbe Genie
nicht erst bewirkt haben, wenn es einen an sich reichhaltigen Stoff bearbeitet
hätte?
Was die Nackheit gewisser Gemälde betrifft,
über welche Sie vielleicht den Tadel der Kritik oder der Sittenrichter
am ersten befürchten, so erhält sie gewiß von niemanden
eher Verzeihung, als von uns kalten, ernsthaften, aber doch zugleich wißbegierigen
Leuten. Eine etwas schlüpfrige Szene bringt unsere Imagination nicht
so auf, um uns zu beunruhigen, oder unsere Tugend in Gefahr zu setzen;
aber wenn sie nach der Natur geschildert ist, so läßt sie uns
doch in einen Teil des menschlichen Lebens hineinsehen, der von großer
Wichtigkeit, und von sehr allgemeinem, obgleich verborgenem Einflusse auf
Glückseligkeit und Elend ist. Außer uns ist noch eine andere,
ziemlich kleine Gattung von Lesern, die nicht bloß Ihnen verzeihen,
sondern die ganz mit Ihnen einstimmen wird; und diese Leser könnten
Ihnen auch leicht die liebsten sein. Das sind diejenigen, die Ihnen ähnlich
sind, die einen philosophischen Geist, und edle, besonders menschenfreundliche
Gefühle mit einer schwelgenden Imagination, und einer starken, aber
sehr verfeinerten Sinnlichkeit verbinden. Eine seltene Komposition aber
ohne Zweifel diejenige, die in der Jugend dem Genusse, und im männlichen
Alter der Hervorbringung von Geisteswerken vorzüglich günstig
ist. Eine dritte Klasse von Lesern, und diese ist ohne Zweifel sehr zahlreich,
die, noch selbst durch die Reize der Wollust verführbar, doch gegen
dieselben durch die Lehren der Religion und Moral mißtrauisch und
unfähig, mit Ihnen die Reife der menschlichen Natur, mitten in dem
Aufruhr sinnlicher Begierden, zu erforschen, oder an dieser Philosophie
Geschmack zu finden, das Anstößige in Ihrem Werke mehr, als
das Lehrreiche und Nützliche, gewahr werden wird diese wird Sie
ohne Zweifel tadeln; und allerdings wünschte ich, daß Sie auch
auf diese Rücksicht genommen hätten. Ich wünschte, daß
Sie Rücksicht auf das junge weibliche Geschlecht genommen hätten,
welches Ihr Buch mit so vielem Vergnügen lesen, und welches so viel
daraus lernen könnte; und dem man es jetzo doch nicht mit Anstand
in die Hände geben oder vorlesen kann. Wie wehe mir das tut, der ich
so gern, was mir vorzüglich gefällt, in kleinen vermischten Zirkeln
vorlese, kann ich Ihnen nicht sagen. Indeß hat Ihr Buch, wie mich
dünkt, im ganzen eine sehr ernsthafte Tendenz, aber eine, die der
große Haufe von Lesern kaum argwohnen wird. Nirgends wird diese Tendenz
mehr wahrgenommen werden, und nirgends, glaube ich, wird das Buch mehr
Sensation machen, als in katholischen Ländern. Wenn irgendein gemeinschaftlicher
Gedanke durchs ganze Buch läuft, so ist es der, die unglücklichen
Wirkungen des Aberglaubens auf die Moralität der Menschen zu zeigen.
Alles zielt ab, die Verderbnisse der Sitten, die unter dem Scheine der
Heiligkeit verborgen sind, aufzudecken; alles vereinigt sich dahin, zu
beweisen, daß die Verführung der Unschuld doppelt leicht ist,
wenn sie eine abergläubische Frömmigkeit mit der Unwissenheit
vereinigt findet, und daß von der andern Seite alle bösen
Neigungen des Menschen freien Spielraum bekommen, wenn eine abergläubische
Religion dem Sünder so leichte Mittel zur Aussöhnung oder zur
Rechtfertigung darbietet. Insofern drückt das letzte Gedicht, womit
Sie schließen, den Geist und die Absicht des ganzen Werkes vollkommen
aus: den es schildert den ganzen Unwillen, den der Verfasser durch seinen
Aufenthalt und durch seine Begebenheiten in einem abergläubischen
Lande, gegen den Aberglauben des Papsttums überhaupt gefaßt
hatte. Ich kann mir nicht anders vorstellen, als daß dies noch wirkliche
Eindrücke sind, die Ihnen von Ihrer ehemaligen Reise in dieser Gegend
zurückgeblieben sind; und ich wundre mich in der Tat, wie, nach so
langer Zeit, sie noch so lebhaft sein können, um bei Verfassung Ihres
Werkes einen so starken Einfluß zu haben.
Ich wage es, noch gegen einige einzelne Stellen
Einwendungen zu machen, bei welchen ich doch aber mißtrauischer gegen
mein Urteil bin; teils, weil ich glaube, die Gegenstände, wovon die
Rede ist, bei weitem nicht so gut, als Sie, zu kennen, teils, weil ich
sehe, daß andere einsichtsvolle Leser mit meinem Urteile nicht übereinstimmen.
Ich begreife z.B. nicht, wie der Reisende einer Person, die er noch für
unschuldig und für fromm hält, gleich bei seinem ersten Besuche,
nicht nur seine ganze Absicht entdecken, sondern ihr auch, durch die Vorlesung
der abscheulichen Indulgenz des Papstes Alexander des Sechsten, und der
Stellen aus den Kasuisten, (von denen er doch voraussetzt, daß sie
sie versteht) diese Absicht in dem empörendsten Lichte zeigen kann.
Wie ist es möglich, daß, bei dieser Voraussetzung, er die Gleichgültigkeit
und Kälte, mit welcher sie diese Greuel anhört, für Unschuld
und Unwissenheit annehmen kann? Ich gestehe es, der Reisende scheint mir
von der Verworfenheit solcher scheinheiligen Dirnen schon so viele frühere
Erfahrungen gehabt zu haben, daß er glaubt, auch bei Clärchen
den Roman beim hintersten Ende anfangen zu können; und doch überreden
mich alle andere seiner Äußerungen, daß er noch de
bonne foi eine Heilige und eine kindliche Unschuldige in
ihr sucht. Ja, ich kann mich zuweilen in die Begriffe, die er von weiblicher
Tugend äußert, nicht finden. Es scheint mir, als wenn er sie
mit einer Unwissenheit, die nur von Dummheit herrühren kann, oder
verstellt sein muß, verwechsle.
Ich bekenne zweitens, daß ich nicht
völlig verstehe, wie nach so klaren Beweisen, als der Reisende gehabt
hat, daß die geheimsten Reize Clärchens von einem Vorgänger
gesehen, und höchst wahrscheinlich genossen worden sind; er doch durch
ihre Erzählung, die mit dem Berichte der päpstlichen Soldaten
in äußern Umständen übereinstimmt, aber diese auf
eine ihr günstige Weise erklärt, von neuem so für sie eingenommen
und von ihrer Unschuld überführt werden kann, daß er im
Ernste daran denkt, sie zu heiraten; und diese Liebe und dieses Zutrauen
gehen in wenig Minuten in eine so gänzliche Verachtung und fast Verabscheuung
über, daß er dasselbe Clärchen, wie die gemeinste Buhlschwester,
dem Herrn Fez gleichsam zur Mißhandlung preis gibt, gewiß,
daß sie die angebotene Partie nicht ausschlagen wird. Diese Übergänge
kommen mir zu plötzlich vor, und würden meiner Natur nicht gemäß
sein; aber ich entscheide deswegen nicht, daß sie auch der menschlichen
Natur widersprechen.
Die Rede, welcher der Reisende vor seinen
Richtern hält, ist ein Meisterstück der Beredsamkeit im Vortrage
und Stil, und sie übertrifft, nach dem Ausdrucke eines meiner Freunde,
alle Kunst der Demosthene und Cicerone. Indeß gestehe ich, daß
mir diese Beredsamkeit beinahe zu hoch für die Umstände und für
die Personen scheint, denen sie gewidmet ist; daß sie am Ende doch
den Richtern einen gar zu groben Staub in die Augen streut, und daß
diese sich durch einen Betrug so gänzlich umstimmen lassen, der mir
auch selbst für die stumpfe Fassungskraft eines Avignonschen Probstes
und Domherrn unverkennbar zu sein scheint.
Noch ein Wort von der an sich sehr malerischen
Episode von dem Gemälde=Kabinett, durch welches die Thronfolger eines
Fürstenhauses, vor dem wichtigen Aktus der Fortpflanzung desselben,
ihre Imagination anfeuern, und ihre verlorne Spannkraft wieder herstellen
sollten. Es scheint, daß Sie dadurch Ihre Rechtfertigung vor dem
Publikum machen wollen, und Sie verteidigen sich in der Tat vor diesem
Tribunale mit eben der Kunst, als vor dem Tribunale der Geistlichkeit in
Avignon; aber nicht auch ein wenig mit gleichen Advokatenkünsten?
Sollte wirklich die entnervte oder erschlaffte Mannheit eines Jünglings
durch wollüstige Gemälde gestärkt werden? Gehören diese
nicht einigermaßen selbst zu den entnervenden Ursachen, indem sie
eine Kraft in unnützen Begierden verzehren, die nur auf die Umarmungen
der ehelichen Liebe gewandt werden sollte? Sie sehen, wie voll ich von
Ihrem Werke bin, da ich nicht aufhören kann, Ihnen vielleicht unreife
Gedanken von mir mitzuteilen, um mich noch länger mit jenem zu beschäftigen.
Christian Garve
(1742 - 1798) Geboren in Breslau, war er kurze Zeit Dozent und Professor
der Philosophie in Leipzig. Er starb in Breslau.
Er übersetzte Schriften
von Ferguson, Burke, Cicero, Paley, Smith und Aristoteles. Garve ist ein
Popularphilosoph, der vom englischen Empirismus beeinflußt ist. Die
Sinnesqualitäten sind nach Garve Wirkungen der Dinge auf den Organismus.
Unlust entsteht, wenn der Körper Teile verliert oder wenn sich andere
anhäufen. Lust entsteht, wenn jener Mangel ersetzt wird oder dieser
Überfluß wegfällt.
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Gotha, den 10. Febr. 1795
Ein so freundschaftlicher überdachter Brief,
als der Ihrige, wäre wohl nicht drei Monate unbeantwortet geblieben,
wenn Sie, teuerster Freund, zu den Leuten gehörten, die man gern geschwind
abfertigt, um ihrer desto eher los zu werden. Ich habe, um mich mit Ihnen
desto traulicher unterhalten zu können, immer auf Ruhe gewartet.
Diese wollte nicht kommen, und ist jetzt, da das allgemeine Unglück
nun auch den Punkt in seinem Strudel getroffen hat, der meinem Vermögen
Gefahr und Untergang drohet, da Holland in den Händen unsrer Feinde
ist, weniger bei mir zu Hause, als jemals. Man ist in solchen Umständen
ein gar schlechter Korrespondent, lieber Garve, und bei einem so großen
pyhsischen Verluste, als mir wahrscheinlich bevorsteht, nur wenig aufgelegt,
an den Wert oder Unwert seiner geistigen Produkte zu denken. So spät
ich auch Ihren Brief beantworte, so habe ich doch einen guten Gebrauch
davon gemacht , habe ihn einer Menge Leuten zu studieren gegeben, die
bei Erscheinung meiner drei berüchtigten Teile nicht wußten,
was sie davon sagen sollten, und von denen mir immer lieber sein mußte,
daß sie Ihr Urteil ohne lange Untersuchung annahmen, als ihren eigenen
folgten. Es wäre indes doch wohl ein zu großes Wunder, als daß
Sie so leicht daran glauben würden, wenn der Autor selbst zu dieser
Menschenklasse gehörte. Ich will mich also, so gut es meine jetzige
Lage verstattet, zurechte setzen und den bekannten mißlichen Versuch
machen, meinen Opponenten auf meine Seite zu bringen. Ihr vorzüglichster
Tadel an meinem Buche, und den ich am wenigsten von einem Philosophen erwartet
hätte, ist: daß es bei seiner anscheinenden Frivolität
zu tiefsinnig sei. Würden Sie aber und andere verständige Leser,
die doch eigentlich dem Autor allein Ehre bringen, wohl Geduld haben, das
Werk bis zu Ende zu lesen, wenn ich, wie es noch dazu dem Charakter gemäß
war, unter dem ich im ersten Teile meiner Reise auftrat, aus meinem dermaligen
Leichtsinne nicht dann und wann in den Tiefsinn zurückgetreten wäre,
den ich aus meiner Bibliothek in Berlin mitnahm? Wirklich habe ich mir
meinen Text um deswillen schwerer gemacht: denn ein ganz frivoles Buch
zu schreiben, wäre ein ungleich leichtere Sache gewesen. Ich weiß
zwar wohl, daß man es im gemeinen Leben leicht mit beiden Parteien
verdirbt, wenn man sich jede derselben geneigt zu machen sucht, und es
sollte mir sehr leid tun, wenn das hier der Fall wäre. Wenn ich mir
jedoch nicht zu viel schmeichle, so hoffe ich, daß mein Hin= und
Herschwanken die meisten in Ungewißheit lassen soll, auf welche Seite
ich mich zuletzt hinneigen werde; und da hätte ich nur zu sorgen;
daß ich am Schlusse meiner Reise allen aus dem Gesicht käme,
ohne daß sie wüßten, was aus mir geworden sei. Dunkelheiten
ist ein anderer Vorwurf, der wohl wahr sein muß, weil ihn mir viele
meiner Leser machen, und es ist die Klage aller meiner Rezensenten ist.
Ich weiß dagegen nichts zu sagen, als daß ich einen und den
andern bitte, sie mir in in dem Werke selbst en
detail anzuzeigen: denn ein armer Autor, der, ohne es zu
wissen, die Erläuterung davon im Sinne behält, kommt von selbst
nimmermehr darauf. Wenn sie also einmal mein Buch wieder zur Hand nehmen
sollten, lieber Garve, so würden Sie mir einen wichtigen Dienst leisten,
wenn Sie auch Ihren Bleistift dazu nähmen, und die Stellung und Ausdrücke
anstrichen, die Ihnen unverständlich bleiben. In der skabrösesten
Szene meiner Geschichte, dächte ich, wäre alles so ziemlich deutlich.
Es muß wohl dem kraftvollsten Manne die Lust vergehen, wenn er in
dem Augenblicke, da er sie zu befriedigen gedenkt, Phantome von der Art
sieht, als um den Sofa des Reisenden schweben, die Hölle mit allen
ihren Attributen und in deren Mitte der Papst mit allen Schrecknissen der
Seuche, die sich von seiner Regierung her datiert, und an die man in solchen
Augenblicken schwerlich erinnert werden kann, ohne den Mut sinken zu lassen.
O es gehört, glaube ich, weniger dazu, um einen denkenden Kopf drehend
zu machen, wenn er seine Denkkraft in dieser animalischen Lage nicht beiseite
zu legen versteht.
Ich komme nun zu Ihrer Kritik einiger einzelner
Stellen meines Gewebes, gegen die ich meine Verteidigung kurz und gut hersetzen
will. Der Reisende kann immer, wie ich glaube und wie es sein Fall ist,
über die Wahrheit der Unschuld und Frömmigkeit seiner Schöne
noch schwanken: genug, daß er sie als eine Heilige, als eine eifrig
katholische Christin kennen lernt, die an die Unfehlbarkeit des Papstes
an die Lehre des Ablasses so gut glauben muß, als an jedes andere
Dogma ihrer Religion; genug, daß er Tags vorher schon gesehen und
gehört hat, mit welcher Begierde sie nach der Reliquie des Strumpfbandes
angelt, um daß er nicht ahnden sollte, wie gewiß die päpstliche
Indulgenz und die Verheißung der restitutio
in integrum seinem Wunsche beförderlich sein würden.
Da der Reisende ihr nichts als die eignen Worte des Papstes vorliest, so
kommt die Impertinenz, die darin liegt, allein auf die Rechnung dessen,
der, nach katholischen Begriffen, Macht hat, Impertinenzen zu sagen und
strafbare Handlungen zu entsündigen. Ob und in wie weit Clärchen
den Sinn des Ablasses verstand, konnte dem Reisenden im Grunde ganz gleich
sein, denn da sie einmal die Reliquie nicht aus der Hand lassen will, die
Bedingungen des Handels mit der Erlaubnis des Papstes glücklich übereintreffen,
und sie übrigens nicht lange Zeit hat, sich zu zieren und zu besinnen,
weil sonst die zwei einzigen Tage vergehen würden, die dem Verkäufer
und der Käuferin zu ihrem Tausche frei bleiben: so ist, glaube
ich, die Eile mit der er zu Werke geht, hinlänglich motiviert.
Auch holte er nicht, sondern sie, die Kasuisten zu Hilfe,
und sie wählte aus übergroßer Sicherheit nur diejenigen,
die ihr Gewissensrat, den sie selbst nicht sprechen durfte, gewöhnlich
zitierte, fand darin ihre wenigen noch übrigen Zweifel gehoben, und
sah nun mit innerm Vergnügen dem Besitze der Reliquie entgegen, der
ihr über alles ging, und zwar nicht aus dem Antriebe der Wollust,
sondern, wie der Reisende glauben mußte, der Frömmigkeit. Denn
gesetzt auch, daß der Probst so vielen Aberglauben und Wollust vereinigte,
daß er ihr nur die Kreuze malte, um ein Mädchen, daß er
für sich aufhob, für fremde Gefahr zu bewahren, so konnte er
doch wohl ein so junges eingezogenes und bewachtes Kind, als Clärchen
dem Reisenden vorkam, wirklich aus Unbekanntschaft der weitern Zeremonien
durch die Worte ihrer Lehrer sich so weit verleiten lassen, als hier nötig
war, ohne daß sie Unrecht zu tun glaubte, und der Reisende konnte
ebensowohl, bei den verworrenen Begriffen, die er in der Sitten= und Tugend=Lehre
der Katholiken überhaupt und der Avignonschen besonders, gewahr ward,
mit seinen leidenschaftlichen Spekulationen in Ungewißheit geraten,
ob sein Clärchen nur noch betrogen oder schon eine Betrügerin
sei, konnte eben deswegen durch die naive Darstellung ihres Schreckens
bei Erscheinung des Teufels ebenso leicht an den Glauben ihrer Unschuld
zurückgebracht werden, als er davon abging. Was kann ein schönes,
naives, geliebtes Mädchen einem solchen Schwächlinge in der Philosophie,
als ich mich selbst male, nicht alles weiß machen! Meine Begriffe
von weiblicher Tugend sind deshalb diesem Geschlechte nicht nachteilig.
Es gibt freilich genug, die, aufs beste unterrichtet, die Unwissenden spielen,
und einen Liebhaber um den andern damit anzuführen; es gibt aber auch
glauben Sie entweder meiner Erfahrung oder meiner Blindheit Kinder
genug, die es wirklich à
l´age d´en faire noch so sehr sind, wenn sie
den ersten Unterricht erhalten, als es Clärchen vorgibt. Ich weiß
nicht, welche alte Dame dem Hofrat Zimmermann gestand, daß sie als
Braut umsonst ihre Imagination aufgeboten habe, um sich das Glück
ihrer ersten Nacht begreiflich zu machen, und als sie in ihrem sechzehnten
Jahre dazu gelangte, immer bei sich gedacht habe: n´est
ce que cela? n´est ne que cela? Das war doch gewiß
ein echtes Clärchen in der Natur. Der geschwinde Übergang des
Reisenden von der Liebe zur äußersten Verachtung scheint mir
nicht weniger dem Übergange seiner Geliebten von Unbefangenheit, oder
der Maske derselben zu einem buhlerischen Gelächter angemessen
zu sein. Gegen den Champagner hält keine Scheinheiligkeit fest;
die plötzliche Veränderung, die der Wein bei Clärchen hervorbrachte,
liegt in der Natur des Rausches, der veritas
amicus ist. Da der Reisende nicht selbst betrunken war, so
hätte er mehr als Sophist er hätte rasend sein müssen,
wenn er sich länger hätte verblenden, noch länger schwanken
können; und da nichts schneller in Verachtung übergeht, als getäuschte
Liebe, so lassen sich sowohl daraus, als aus dem leichtsinnigen launischen
Charakter des Betrogenen, die nachherigen Auftritte mit Herrn Fez recht
gut erklären. Aus diesem launigen Charakter, in welchem sich der Reisende
bei allen Gelegenheiten zeigt, fließt auch die, sonst unnötige
Beredsamkeit seiner Verteidigungsrede. Sie kann immer für die Umstände
zu hoch sein; genug, daß ihre Verfertigung dem Gefangenen einen einsamen
Abend vertrieb, und, ohne daß sie in Avignon seiner Verteidigung
etwas schaden konnte, seinem Freunde in Berlin, der darin die Ironie des
Verfasser nicht verkennen wird, eine angenehme Lektüre gewährte.
Wenn Sie sagen, daß sie am Ende doch den Richtern zu großen
Staube in die Augen streut, so scheinen Sie vergessen zu haben, was es
mit diesen Richtern für eine Beschaffenheit hat. Der Probst, als
der feinste Kopf unter ihnen, wird ja nicht überzeugt und soll es
auch nicht, er wird aber überstimmt von der wichtigen Person des
Domherrn, von Clärchen und der Tante, die alle, schon durch das eigene
Interesse, das für jeden davon in meinem Wunder liegt, auf meine Seite
gebracht sind. Glauben Sie mir, lieber Garve, es ist die Geschichte aller
möglichen Wunder. Ich will das meinige heute des Tags noch mit gleichem
Glücke in Bayern verrichten, wenn Sie mich dort in dieselben Umstände
versetzen können, die mir in Avignon beistanden. Daß der Probst
den Betrug sehr gut eingesehen hat, und nachdem er den Verdruß davon
überwunden, mich des Talents wegen, daß er zur geistlichen Taschenspielerei
in mir zu entdecken glaubte, sogar seiner Freundschaft würdig hält,
zeigt sein Bilett und ist der wahre Gang des Jesuitismus. Um die Abscheulichkeit
und die Folgen desselben zu zeigen, wie ich mir in diesen dreien Teilen
vornahm, konnte ich freilich unmöglich Rücksicht auf das andere
Geschlecht nehmen, ohne mein Thema zu schwächen. Die Materie über
die Sünden des Fleisches schien mir auch noch am ersten den scherzhaften
Ton vertragen zu können, den ich in meiner Reisebeschreibung angenommen
habe. Es gibt Grundsätze in der Moral der Jesuiten, z.B. über
den Meuchelmord, über die Abtreibung der Leibesfrucht usw., gegen
die ich allen Ernst hätte aufbieten müssen, wenn ich sie hätte
berühren wollen. Ich blieb also wieder bei jenen stehen, die nur rot
machen, warne ja selbst alle jungen Mädchen in meinem Buche, es nicht
zu lesen und habe es meinen Töchtern zuerst verboten. Die Herrn Berliner
haben sich, wie billig, ihres Landsmannes angenommen. In dem Oktoberstücke
wird die Frage untersucht: ob die jetzigen Jesuiten von den ältern
verschieden wären, und meiner dabei ehrenvoller erwähnt, als
ich erwarten durfte.
Wäre es meinen Bestellungen nachgegangen,
liebster Freund, so hätten Sie die neuen drei Teile eher, als jedermann,
eher sogar, als ich selbst, erhalten. Ich hatte unserem Weiße aufgetragen,
sie Ihnen sogleich zu schicken, wie sie aus der Presse kommen würden.
Lassen Sie sich von ihm erzählen, warum es dennoch unterblieben ist,
und dabei meinem guten Willen und der Ihnen schuldigen Attention Gerechtigkeit
widerfahren. Ich schicke diesen Brief offen an Freund Weißen, dem
ich eben zu schreiben im Begriff bin. Es wird ihm nicht mißfällig
sein, daß ich seiner spitzigen Feder Gelegenheit gebe, meine schwache
Verteidigung mit seinen boshaften Anmerkungen zu begleiten. Ewig der Ihrige.
Zitiert nach:
Moritz August von Thümmel, Reise in die mittäglichen Provinzen
von Frankreich. Mit Kupfern und Vignetten von Pentzel, Schnorr von Carolsfeld
und Ramberg. Erster, Zweiter, Dritter Band. München und Leipzig 1918.
Verlegt bei Georg Müller. = Die Bücher der Abtei Thelem. 22.-24.
Band. Herausgeber: Conrad Höfer.
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Im Jahrbuch
für Fränkische Landesforschung, Bd. 22, Neustadt (Aisch) 1962
teilt Horst Heldmann, bekannt durch seine Thümmel-Forschungen, vier
Briefe an Moritz August von Thümmel mit. Da der Publikationsort etwas
abgelegen erscheint, sollen sie hier mitgeteilt werden. Ergänzt durch
kurze Hinweise Heldmanns. Die ausführliche Lektüre der kleinen
Monographie sei jedermann empfohlen.
Die persönlichen
Beziehungen Thümmels zu dem später als Philosoph und Schriftsteller
hervorgetretenen Friedrich Heinrich Jacobi haben sich wohl auf den in dem
unten abgedruckten Brief zur Sprache kommenden Bereich beschränkt.
Jacobi hat wahrscheinlich kein zweites Mal an Thümmel geschrieben;
der Brief Thümmels, den Jacobi mit seinem Schreiben beantwortete,
hat sich bisher noch nicht wieder aufgefunden. [H. Heldmann]
[Düsseldorf, 3.4.1774]
Hochwohlgebohrner Freyherr
Hochzuverehrender Herr GeheimRath,
Eine langwierige und ziemlich ernsthafte Unpäßlichkeit ist
Ursache, daß ich Dero geehrtestes Schreiben so lange habe unbeantwortet
liegen laßen müßen. Ich hätte zwar das Exemplar des
Agathon, welches Denenselben gebührt, und durch eine unglückliche
Irrung nicht zu Ihren Händen gekommen ist, unterdeßen nach Coburg
besorgen können; aber mir schien unerträglich, bey Ihnen den
Argwohn zu erregen, ich hätte bloß aus Trägheit oder Nachläßigkeit
das Paquet ohne alle Begleitung gelaßen. Gestern ist nun endlich
ein Exemplar des Agathon auf holländisches Papier, unter EwHochwohlgebohrnen
Aufschrift, mit dem Reichs=Wagen von hier abgegangen. Den begangenen Fehler,
nebst allen seinen Folgen und Zufälligkeiten, wollen Dieselben gütigst
verzeihen.
Meinen Bruder, der den verwichenen Winter
über zu Halberstadt gewesen ist, habe ich vergessen wegen des von
EwHochwohlgebohrnen auf die Gleimischen Werke in Vorschuß empfangenen
Ldor zu Rede zu stellen; er soll Denenselber von hier aus, wo er zu Ende
dieses Monats eintreffen wird, ohnverzüglich Rechenschaft darüber
ertheilen.
Sehr angenehm war mir in EwHochwohlgebohrnen
Schreiben die für mich so schmeichelhafte Erwähnung Dero zu kurzen
Erscheinung in Düßeldorf. Der Werth welchen Dieselben auf die
Bekantschaft legen, die ich zwischen Ihnen und dem Marquis
de St Simon zu veranlaßen das Glück hatte, giebt
mir selbst den einzigen, den ich mir anjetzt noch bey denenselben zuschreiben
kan. In Ihnen verehrte ich längst einen der liebenswürdigsten
Dichter; und gewiß weiß ich die Gefälligkeit zu schätzen,
wodurch mir das Glück zu Theil ward, in diesem liebenswürdigen
Dichter zugleich einen der liebenswürdigsten Menschen kennen zu lernen.
Ich bin mit der vorzüglichsten Hochachtung
EwHochwohlgebohrnen
Düsseldorf d 3ten April
ganz ergebenster Diener
1774
Friedrich Heinrich Jacobi
[Umschlag:]
An Tit:
Herrn GeheimRath
FreyHerrn von Thümmel
zu
Coburg
|
Thümmels
Briefwechsel mit Christian Felix Weiße, dem Leipziger Dichter und
Jugendschriftsteller, erstreckte sich über etwa 45 Jahre. Die beiden
jungen Männer hatten sich während Thümmels Studienaufenthalt
in Leipzig kennengelernt, wohl um 1758; sie wurden nahe Freunde und blieben
es bis zu Weißes Tod 1804. [H. Heldmann]
Der Hofrath Lerse, Göthens vertrauter Freund, den er sogar nament[lich]
in s. Goetz von Berlichingen
aufs Theater gebracht, vormalicher Prof. in Colmar, Pfeffels College, nach
der franz. Revolution zwey Jahre lang Capitain von der National=Garde,
itzigen Hofmeister des reichen Grafen von Fries
aus Wien, der itzt hier studirt, ein Mann voller Verstand, Gelehrsammkeit,
Welt u. Menschenkenntniß, wünscht bey seyner kleinen Reise mit
dem Grafen nach Gotha sehr Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen,
mein bester Freund, u. da ich ihn sehr oft sehe, kann ich seine gerechte
Foderung, ihm zu der Ehre zu verhelfen nicht versagen. Der Erbpr. von Hessen
Darmstadt ist mit ihm, aber nicht weiter als bis Weimar gegangen: sie kommen
aber beyde in 8 Tagen wieder zurück. Gern schriebe ich Ihnen recht
viel: aber, ich erwarte noch von Parthey Briefe, die mir noch zur Antwort
auf Ihr leztes dienen soll[en]. Hoffent[lich] werde ich bal Ihren H[err]n
Bruder wieder sehen: o daß er Sie doch mitbrächte, oder ich
itzt Lersen hätte begleiten können! Wenigsten soll er mir viel
von Ihnen sagen! Ich umarme Sie von ganzem Herzen. Ewig
L. den 5. Apr. [1796]
Ihr
W.
Beyliegendes Programm, womit mein Sohn vorige Woche seine Professur
angetreten, u. das, wie man sagt, eine wichtige publicistische Materie
bey dem unfern bevorstehenden Reichsfrieden abhandeln soll, geben Sie,
wer es lesen mag: vielleicht kann eine Anzeige davon in Ihrer gel. Zeitung
gebracht werden.
Unser Blankenburg ist sehr krank.
* * *
[Leipzig, 7.11.1798]
Es thut mir ordentlich weh, mein bester Freund, daß Sie unsere Gegend
wieder verlassen: denn so wenig ich auch Genuß davon gehabt habe,
so hat schon der Gedanke, einander in etlichen Stunden sehen zu können
etwas tröstliches für mich. Wollte der Himmel! daß Sie
wenigstens der Ruhe u. Zufriedenheit entgegen eilten: aber welche Ungeheuer
lauschen nicht an den liminibus
potentum! Wie wohl würde Ihnen u. mir seyn, wenn wir
uns noch von den kleinen Anhöhen von Schönfeld u. Stötteritz
einen guten Morgen bieten könnten! Gott gebe Ihnen und Ihrem Hn. Bruder
nur eine feste Gesundheit. Denn für ihn ist mir bey seiner betriebsamen
Thätigkeit immer leid, u. wenn man immer vielen Herrn zugleich dienen
soll, macht man es selten Einem oder dem andern recht. Unsere Leipziger
Herrn ware von der Güte Ihrer liebreichen Aufnahme ganz durchdrungen,
u. finden Ihres Lobes u. Dankes kein Ende.
Des armen Garve
Schicksal kann man sich nicht ohne Schaudern denken, u. welch ein Geist
in einer so elenden Hülle! Im neusten Briefe schreibt er mir, daß
er sich seiner Auflösung zu nahen hoffe, in dem die Füße
heftig an zu schwellen fiengen u. bittet sehr, daß ich ihn, so lang
sein Odem noch aus u. ein gieng, mit einer Zeitschrift erfreuen sollte:
dieß thue ich dann treufleißig: denn wer ist mir denn noch
von meinen alten Busenfreunden übrig, als Sie, meine Geliebtesten!
Er schreibt mir von Ihrer Hymne. Ich habe, sagte er, die Gedanken in derselben
trefflich, aber den poetischen Ausdruck unvollendet gefunden. Mein Brief
an ihn enthält eine umständliche Kritick; es wäre mir lieb,
wenn Sie beydes Brief u. Hymne läsen: doch er theilt sie Ihnen auch
selber mit. Von seinen neuesten Schriften haben mir die Bruchstücke
über Fr. den 2ten vorzüglich gefallen, zumal was er
über unsre Schriftstellerey sagt. Das neue Buch von Kant,
der Streit der 3. Facultäten, mißfällt mir sehr u. kann
zu Untergrabung aller Moralität vieles beytragen. Man schreibt mir
von Berlin, daß Nicolai
seinen Nothanker umarbeitet u. mich sollte wundern, wenn ihm nicht jenes
Veranlassung geben würde, sich aufs neue mit Kant
herum zu tummeln.
An Goeschen
habe ich Ihren Auftrag vollzogen. Er entschuldiget sich mit der Zerstreuung,
daß sein Schwiegervater gestorben u. verspricht uns nächstens
das Paquet zu
übersenden, ich werde nicht ermangeln es zu erinnern. Meine Frau wird
die verlangten Strümpfe baldmöglichst von Dresden verschreiben,
u. empfiehlt sich nebst mir u. den Meinigen Ihrem ganzen lieben Hauße
zu gnädigem Wohlwollen. Eben läßt mir Goeschen
sagen, daß er Wiel. Schriften durch die Alten[.] Landkutsche hinüber
schicken wolle, da sie ei[nen] großen Ballen ausmachten. Vielleicht
kömmt dieser noch zur rechten Zeit an u. wäre es nicht so wird
sich doch dort vielleicht noch eher eine Gelegenheit finden ihn zu transportiren.
H. Jean Paul ist vor 8. Tagen von hier nach Weimar abgeflattert. Schade
um den Mann, daß er nicht schreibt, wie er spricht u. ein so gar
wunderbares Ideal von einem großen u. guten Schriftsteller hat u.
so überspannt in seiner Imagination
ist, daß man für seinen Kopf wohl einmal fürchten muß.
Keine Kritick kann er gar nicht vertragen u. will nur bewundert seyn. Ich
habe ihn ungern verloren, da er viel Anhänglichkeit an mich hatte
u. höchst unterhaltend war. Für das andere Geschlecht kann er
ein gefährlicher Mann seyn; denn die Schwärmerey steckt an u.
er strebt immer die Menschen über Sphäre mit sich hinaufzuziehen,
so tief er oft wieder auf die Erde fällt.
Nun, bester liebster Freund, reisen Sie glücklich, behalten
Sie mich lieb, schreiben Sie mir ja bald! denn man Herz geht mit Ihnen,
u. schicken mir bald von Ihrer Reise Etwas! Ihren gütigen Hn. Bruder
erinnern Sie gelegent[lich] an Garvens Briefe! Noch einmal leben Sie wohl!
W.
Leipz. d. 7. Nov. 98.
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[St. Petersburg, 6./18.3.1805]
Die abgedruckte
Stelle aus einem Brief von Friedrich Maximilian Klinger an Thümmel
bedarf einer näheren Erläuterung, zumal die übrigen Theile
des Briefes zwar bereits gedruckt, aber doch nicht mehr ganz leicht zugänglich
sind. Jean Paul, der sich Thümmel freundschaflich verbunden fühlte
und Die Reise" zu seinen Lieblingsbüchern zählte, hatten dennoch
im Anhang zu seinem Kampaner Thal" (1797) die schlüpfrigen Clärchen-Szenen
im dritten bis fünften, besonders im vierten Teil des Thümmelschen
Werkes leise getadelt. Thümmel hatte sich im siebenten Teil (1800)
humorvoll gegen Jean Paul verteidigt und den Vorwurf zurückgewiesen.
Während er selbst aber Jean Paul den wohlmeinenden Tadel nicht verübelte,
glaubte Klinger sein Lieblingsbuch in Schutz nehmen zu müssen. Daneben
sah er in Thümmels Verteidigung auch eine Entschuldigung, ein Sich-Verneigen
vor dem jüngeren Dichter, das er für unberechtigt hielt, da er
Thümmels Werk weit über die Schriften Jean Pauls stellte. [H.
Heldmann]
. . . Jetzt auf den gewißen Mann! mich verschnupfte nur / ich tadelte
nicht / daß Sie! der genialische Daemon, dem sich anmassenden Sittenrichter
eine Reverenz von der Seite machten, als seyen seine Worte von Gewicht
für Geister Ihrer Art. So schnell u leicht Sie auch diese Seiten Reverenz
ihm machten, mußte der Mann nicht glauben, sein Urtheil sey wirklich
von Gewicht? Und dann fürchtete ich etwas schrecklichers ich muß
es gestehen, und [mag] auch das Geständniß mir schaden oder
nutzen; es mochte vielleicht bey der Seiten Reverenz nicht bleiben; aber
der 8. 9. Thl der Reisen haben mich von aller Furcht geheilt, der Genius
flog grade vorwärts kühn, kräftig, und schien von den Jeremiaden
u Capuzinaden, der Männer im Thal, die nur über negative Tugenden
für Freude weinen, gar nichts gehört zu haben. So wollt´
ich es, so erwartete ich es, und vortrefflich, haben Sie sich mit Ihrer
Clara aus dem Netze gezogen, in dem Sie nur Leute, wie der sich anmassende
Sittenrichter, verwickelt sehen konnten. Sie haben das liebliche Klärchen,
das Meister und Kunstwerk der Pfaffen unter das moralische Meßer
des psychologischen Anatomen / eines Lords / gebracht, der es werth ist,
ein solches Experiment zu machen. Der blinde, des Versuchs würdige
Zerleger oder Forscher fühlt indessen nicht, daß ihm während
er experimentirt, Klärchen das Meßer, mit schöner Hand,
und verhüllt, schon an das Herz oder den Hals gelegt hat. So wird
nun von beyden Seiten ein Experiment gemacht, wobey ich aber für Klärchen,
als von der catholischen Klerisey gebildet, wetten mögte. Sind dies
nicht noch viel höhere Bildner, als die Weiber, in deren Schule der
würdige Lord seine Studien gemacht, aber gewiß nicht vollendet
hat, wie hoffentlich die Pfaffen Tochter ihm zeigen wird? So ist nun alles
zufrieden; die Daemonen ahnden das, u der Plebs der Geister mag sie meinetwegen
nach seiner Denkungsart, in seiner Einbildung zu Bridwell endigen laßen,
denn für diese giebt es nur solche Zeichen der Strafe. Wir erwarten
nichts weiter als den gegebenen Wink, u ist der sich anmassende Sittenrichter
nicht damit zufrieden, so tröste er sich damit, daß das liebe
deutsche Publikum, seine in Thränen verklärte weibliche Ideale
nachschluchzt. . . .
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Goethe an Moritz August v. Thümmel.
Hochwohlgeborener
Insonders hochzuehrender
Herr Geheimderath
Das Andenken der schönen, leider nur zu kurzen Tage, die ich bei Ihnen zu genießen das Glück gehabt, erneuert sich bei mir auf das lebhafteste, da ich die Feder ergreife Ew. Hochwohlgeboren wegen einer Akademischen Sache nochmals zu behelligen.
Ihres gnädigsten Herrn Durchl. geruhten mir zu versichern, daß hochdieselben alles nach meinem Unterthänigsten Antrage, und nach dem Wunsche meines Herrn des Herzogs, würden verfügen lassen. Darunter war, ausser der Vokation des Herrn Döderlein zur zweyten Theologischen Stelle, auch die des Herrn Ausfeld zur dritten, und die gefällige Comunikation mit den beyden übrigen Höfen.
Wie ich vernehme so fehlet Serenissimi Coburgensis gnädigstes Rescript an die Akademie wegen Herrn Ausfelds, auch siehet man in Gotha einer beifälligen Comunikation entgegen, um gleichfalls an die Akademie zu rescribiren.
Herr Döderlein hat sich erklärt er wolle die Vokation aufnehmen, und es wird also keine Zeit zu verliehren sein.
Mit der heutigen Post gehen hierüber Comunikations Schreiben an die sämmtlichen Höfe ab und ich bitte Ew. Hochwohlgeboren noch ganz besonders um Beförderung und Berichtigung dieser Sache.
Auch Herr Blasche leidet unter dem Verzuge indem man hiesiger Seits vor der Berufung des Herrn Ausfelds sich ihm zu der Erfüllung keiner Bedingung verbunden hält.
Mir selbst ist persönlich daran gelegen daß dieses Geschäfte berichtigt werde, weil es sonst scheinen könnte als hätte ich mich in Betreibung desselben einiger Nachlässigkeit schuldig gemacht.
Die nicht genug zu preisende Gnade Ihres gnädigsten Herrn, welche mir höchstdieselben bezeigt, läßt mich das beste hoffen, und das Zutrauen, das ich auf Ew. Hochwohlgeboren Mitwürkung setze, wird gewiß vollkommen befriedigt werden.
Darf ich bitten mich den höchsten Herrschaften zu Füssen zu legen, und meine Dankbarkeit zu bezeugen.
Der Frau Gemahlin und Herrn Schwager empfehle ich mich auf das angelegentlichste.
Mit angefügter Bitte mich gelegentlich mit den versprochenen Naturalien zu bedenken, versichere ich meine Vollkommenste Hochachtung und Dankbarkeit und unterzeichne mich mit den ergebensten Gesinnungen.
Ew. Hochwohlgeb.
gehorsamster Diener
Goethe.
Weimar d. 5. Juni 82.
(aus: Goethes Briefe, 5.
Band, Weimar 1889, Seite 338-340) |
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