BRIEFE VON & AN
MORITZ AUGUST VON THÜMMEL
Eine Briefausgabe des Dichters kann nur als in ständiger Veränderung begriffene Ausgabe erscheinen. Die Grundlage bilden die in Gruners Lebensbeschreibung (s. links) wiedergegebenen Briefe.
Hier erscheinen Ergänzungen und Erweiterungen.

M.A.v.Th. an Christian Weisse (25.11.1793) Christian Garve an M.A.v.Th. (10.10.1794)
M.A.v.Th. an Christian Garve (10.2.1795) Friedrich Heinrich Jacobi an M.A.v.Th. (3.4.1774)
Chr. Felix Weise an M.A.v.Th. (5.4.1796 / 7.11.1798) Friedrich Maxim. Klinger an M.A.v.Th. (6./18.3.1805)
J. W. v. Goethe an M.A.v.Th. (5.6.1782)

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Sonneborn d. 25th Novbr 93.
Während ich, lieber W., auf die Rückkehr den 4ten Theils meines Manuscpts. warte, habe ich, um Ihnen zu zeigen wie viel ich auf Ihre Critik achte, so wohl meinem wollüstigen Träume von Clärchen einen anderen Ausgang gegeben, als auch meinen poetischen Lebenslauf mit einigen Strophen zum Einschalten vermehrt, die ihn, glaube ich in einem bessern Zusammenhang darstellen, ohne daß ich nöthig habe ihn durch dazwischen laufende Prosa, zu unterbrechen. Ich schicke Ihnen diese neuen
Verbesserungen entgegen — damit sie mir auch darüber noch zuvor Ihre Meynung sagen, ehe ich jene Bogen, wenn ich sie von Ihnen erhalten, umschreibe. Ich habe seitdem auch die Reise von Johann gelesen, die, unter uns gesagt, nichts weniger als die Ehre hat mir zu gefallen. Wenn Sie wirklich von Göschen ist, so sehe ich es als eine Buchhändler-Speculation an die er auf Kosten meines ehrlichen Bedienten, unternommen hat um Käufer anzulocken. In Gotha hat der Tittel, auch in dem ersten
Moment, eine Menge Leute verführt — aber ich fürchte daß es damit nun schon vorbey ist, und wenn G. die Kunstrichter nicht am Seilchen führt, so fürchte ich daß er am Ende selbst noch seinen Einfall bereuen wird. Leben Sie wohl
Th.
An den Herrn/ Kreissteuer Einnehmer/ Weise/ in/ Leipzig/ frey

Dieser Brief steht stellvertretend für zwei Aspekte des Thümmel´schen Schaffens: Die (fast) lebenslange Begleitung und Kritik durch den Freund Christian Weisse und der Umgang der Verleger mit dem Werk, bzw. Teilen des Werkes. — Besondes einschneidend war Weisses lektorierende Tätigkeit bei der »Wilhelmine« (vgl. die Ausführungen auf der Seite >Nachrichten aus Thümmels Leben<.). Verleger hängen sich gern an Erfolge: Friedrich Nicolai machte 1774 den etwas tumben Pastor, überglücklicher Ehemann Wilhelmines, zum Helden seines Romans »Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker«; der Verleger Georg Joachim Göschen läßt Johann, den treuen Begleiter des gemütskranken Intellektuellen aus der »Reise ...« seine eigenen Aufzeichnungen und Beobachtungen vorlegen. Der Leser mag entscheiden zwischen Original und Nachahmung!

Veröffentlicht in: Bd. 1: Literaturvermittlung. Zeugnisse aus einer Sammlung zur Geschichte des Buchwesens. Herausgegeben von Herbert G. Göpfert und Mark Lehmstedt. Leipzig 1992. 229 S., 13 Abb., Seite 66.

Breslau, den 10. Okt. 1794
 Ich komme eben von einem Feste, welches Sie mir zubereitet haben. Zwar habe ich noch nicht die drei letzten Teile der Reise nach der Provence aus Ihren Händen empfangen — und dieses Geschenk würde ich die Eitelkeit haben, mir einzumahnen; wenn Herr Göschen es vergessen sollte, — aber ich habe sie gelesen; und, wie Sie aus Erfahrung wissen, das Werk eines Mannes von Genie macht einen, während der Zeit, da man damit beschäftigt ist, glücklicher. Es hat auch immer eine unterrichtende und belebende Kraft in sich, der Gegenstand, von welchem es handelt, mag sein, welcher er wolle. Ich lerne mehr, wenn mir ein Mann von Genie die geheimen Kreuze des unheiligen Clärchen aufdeckt; als wenn mir ein gemeiner Kopf die Wissenschaften der Moral und Politik vorträgt. In der Tat ist, wenn ich nicht irre, selbst nach Ihrer Absicht, die Geschichte nur das Vehikel, die Belehrungen, welche über menschliche Sitten und Leidenschaften, und besonders über die Wirkungen des Aberglaubens, in der Erzählung eingewebt sind, oder durch dieselbe veranlaßt werden, auch für die Einbildungskraft der Leser anziehend zu machen. Wenn in diesen Bänden auch nur die Episode von den päpstlichen Soldaten und ihren Schicksalen vorkäme, so würde mir das Buch und der Autor schätzbar sein, so wie es mir der Tristram Schandy und sein Verfasser durch die Episode von dem Leutnant Le Fever sind. Diese beiden Werke sind, in Absicht des Inhalts, des Tons, der Erzählung, des Stils, einander sehr unähnlich, aber sie kommen darin überein, ihre Verfasser als äußerst gutherzige Menschen, als sehr feine Beobachter, und als Leute von entzündbarem Temperamente, in Absicht des andern Geschlechts, zu schildern. Beide lieben etwas die nackten Gemälde, beide hassen den Aberglauben, beide mischen einen gewissen Tiefsinn unter die Frivolitäten. Der Witz von beiden ist Sterling=Witz, der oft erst auf die Kapelle gebracht, probiert und gewogen sein will, ehe man seinen ganzen Wert einsieht. Auch Dunkelheiten — damit ich die Vergleichung noch etwas weiter treibe, sind beiden gemein.
     Schon in den beiden ersten Teilen Ihrer Reise sind mir einige Verse unerklärlich geblieben, und auch in diesen sind mir einige poetische Stellen schwer geworden, und andere, obgleich nur wenige, völlig dunkel gewesen. Ich weiß nicht recht, ob die Allegorie, mit welcher sich die gefährliche Szene der Geschichte schließt, nur einen freiwilligen Rückzug, oder eine sich versagende Naturkraft anzeigt, und ob bloß die Beweise der innigen Vertraulichkeit des Probstes, oder ob noch schlimmere Ahndungen diese seltsame Veränderung hervorbringen. Indes war dieser Punkt dazu gemacht, im Dunkeln zu bleiben. Dafür ist in dem vortrefflichen Prologe der Marionettenspieler alles sonnenklar. Die Ode über den Zufall, tiefer gedacht,und mit etwas feiner angedeuteten Anspielungen angefüllt, belohnt die Mühe sie zu verstehen, weil man den Sinn allenthalben, und einen reichen, philosophischen Sinn, darin findet; und Sachen und poetischer Ausdruck sind, in den letzten Stanzen, mit welchen Sie von dem Avignonschen Gebiet und von dem Leser Abschied nehmen, gleich untadelhaft. Mit einem Worte, Ihr Buch ist eine Galerie von Gemälden, wo der Sinn zuerst gereizt, aber die Imagination noch mehr befeuert, und zuletzt auch der Verstand und die Vernunft befriedigt werden.
     Indessen Sie wollen gewiß nicht bloß das Lob Ihres Freundes, sondern Sie wollen sein Urteil; und das erste kann nur für aufrichtig gehalten werden, wenn das andere freimütig ist.
     Ich habe in der Tat schon den größten Tadel, den ich dem Buche zu machen hätte, angezeigt. Es ist zu tiefsinnig für die frivolen Leser, die es scheint, an sich ziehen zu wollen. Es verrät einen Verfasser, der viel und tief über die Dinge in der Welt nachgedacht hat, und es verlangt einen Leser, der wieder so nachdenkt; und doch scheint der Hauptgegenstand nur bloß die Sinnlichkeit zu beschäftigen. Überhaupt wünschte ich, daß ein so großer Menschenkenner und ein so glücklicher  Maler der Sitten sich einen Stoff von noch größerm Umfange gewählt, und nicht eine einzige Leidenschaft zum Mittelpunkte aller seiner Schilderungen gemacht hätte, von wo aus freilich, wie es in der Natur auch geschieht, Strahlen ausgehn, die sich über das ganze Gebiet der Sittlichkeit und des geselligen Lebens erstrecken, wo aber doch vieles nur im Profil und wie im Hintergrunde gezeigt werden kann, was auf einem Gemälde, dessen Hauptinhalt mannigfaltiger wäre, in voller Gestalt und in vollem Lichte erschienen wäre. Es ist das Werk des Genies, eine einfache kleine Begebenheit, durch den Reichtum, den es aus seinen eigenen Schöpfungen hineinzubringen weiß, interessant und lehrreich zu machen; aber was würde dasselbe Genie nicht erst bewirkt haben, wenn es einen an sich reichhaltigen Stoff bearbeitet hätte?
     Was die Nackheit gewisser Gemälde betrifft, über welche Sie vielleicht den Tadel der Kritik oder der Sittenrichter am ersten befürchten, so erhält sie gewiß von niemanden eher Verzeihung, als von uns kalten, ernsthaften, aber doch zugleich wißbegierigen Leuten. Eine etwas schlüpfrige Szene bringt unsere Imagination nicht so auf, um uns zu beunruhigen, oder unsere Tugend in Gefahr zu setzen; aber wenn sie nach der Natur geschildert ist, so läßt sie uns doch in einen Teil des menschlichen Lebens hineinsehen, der von großer Wichtigkeit, und von sehr allgemeinem, obgleich verborgenem Einflusse auf Glückseligkeit und Elend ist. Außer uns ist noch eine andere, ziemlich kleine Gattung von Lesern, die nicht bloß Ihnen verzeihen, sondern die ganz mit Ihnen einstimmen wird; und diese Leser könnten Ihnen auch leicht die liebsten sein. Das sind diejenigen, die Ihnen ähnlich sind, die einen philosophischen Geist, und edle, besonders menschenfreundliche Gefühle mit einer schwelgenden Imagination, und einer starken, aber sehr verfeinerten Sinnlichkeit verbinden. Eine seltene Komposition — aber ohne Zweifel diejenige, die in der Jugend dem Genusse, und im männlichen Alter der Hervorbringung von Geisteswerken vorzüglich günstig ist. Eine dritte Klasse von Lesern, und diese ist ohne Zweifel sehr zahlreich, — die, noch selbst durch die Reize der Wollust verführbar, doch gegen dieselben durch die Lehren der Religion und Moral mißtrauisch und unfähig, mit Ihnen die Reife der menschlichen Natur, mitten in dem Aufruhr sinnlicher Begierden, zu erforschen, oder an dieser Philosophie Geschmack zu finden, das Anstößige in Ihrem Werke mehr, als das Lehrreiche und Nützliche, gewahr werden wird — diese wird Sie ohne Zweifel tadeln; und allerdings wünschte ich, daß Sie auch auf diese Rücksicht genommen hätten. Ich wünschte, daß Sie Rücksicht auf das junge weibliche Geschlecht genommen hätten, welches Ihr Buch mit so vielem Vergnügen lesen, und welches so viel daraus lernen könnte; und dem man es jetzo doch nicht mit Anstand in die Hände geben oder vorlesen kann. Wie wehe mir das tut, der ich so gern, was mir vorzüglich gefällt, in kleinen vermischten Zirkeln vorlese, kann ich Ihnen nicht sagen. Indeß hat Ihr Buch, wie mich dünkt, im ganzen eine sehr ernsthafte Tendenz, aber eine, die der große Haufe von Lesern kaum argwohnen wird. Nirgends wird diese Tendenz mehr wahrgenommen werden, und nirgends, glaube ich, wird das Buch mehr Sensation machen, als in katholischen Ländern. Wenn irgendein gemeinschaftlicher Gedanke durchs ganze Buch läuft, so ist es der, die unglücklichen Wirkungen des Aberglaubens auf die Moralität der Menschen zu zeigen. Alles zielt ab, die Verderbnisse der Sitten, die unter dem Scheine der Heiligkeit verborgen sind, aufzudecken; alles vereinigt sich dahin, zu beweisen, daß die Verführung der Unschuld doppelt leicht ist, wenn sie eine abergläubische Frömmigkeit mit der Unwissenheit vereinigt findet, — und daß von der andern Seite alle bösen Neigungen des Menschen freien Spielraum bekommen, wenn eine abergläubische Religion dem Sünder so leichte Mittel zur Aussöhnung oder zur Rechtfertigung darbietet. — Insofern drückt das letzte Gedicht, womit Sie schließen, den Geist und die Absicht des ganzen Werkes vollkommen aus: den es schildert den ganzen Unwillen, den der Verfasser durch seinen Aufenthalt und durch seine Begebenheiten in einem abergläubischen Lande, gegen den Aberglauben des Papsttums überhaupt gefaßt hatte. Ich kann mir nicht anders vorstellen, als daß dies noch wirkliche Eindrücke sind, die Ihnen von Ihrer ehemaligen Reise in dieser Gegend zurückgeblieben sind; und ich wundre mich in der Tat, wie, nach so langer Zeit, sie noch so lebhaft sein können, um bei Verfassung Ihres Werkes einen so starken Einfluß zu haben.
     Ich wage es, noch gegen einige einzelne Stellen Einwendungen zu machen, bei welchen ich doch aber mißtrauischer gegen mein Urteil bin; teils, weil ich glaube, die Gegenstände, wovon die Rede ist, bei weitem nicht so gut, als Sie, zu kennen, teils, weil ich sehe, daß andere einsichtsvolle Leser mit meinem Urteile nicht übereinstimmen. Ich begreife z.B. nicht, wie der Reisende einer Person, die er noch für unschuldig und für fromm hält, gleich bei seinem ersten Besuche, nicht nur seine ganze Absicht entdecken, sondern ihr auch, durch die Vorlesung der abscheulichen Indulgenz des Papstes Alexander des Sechsten, und der Stellen aus den Kasuisten, (von denen er doch voraussetzt, daß sie sie versteht) diese Absicht in dem empörendsten Lichte zeigen kann. Wie ist es möglich, daß, bei dieser Voraussetzung, er die Gleichgültigkeit und Kälte, mit welcher sie diese Greuel anhört, für Unschuld und Unwissenheit annehmen kann? Ich gestehe es, der Reisende scheint mir von der Verworfenheit solcher scheinheiligen Dirnen schon so viele frühere Erfahrungen gehabt zu haben, daß er glaubt, auch bei Clärchen den Roman beim hintersten Ende anfangen zu können; und doch überreden mich alle andere seiner Äußerungen, daß er noch de bonne foi eine Heilige und eine kindliche Unschuldige in ihr sucht. Ja, ich kann mich zuweilen in die Begriffe, die er von weiblicher Tugend äußert, nicht finden. Es scheint mir, als wenn er sie mit einer Unwissenheit, die nur von Dummheit herrühren kann, oder verstellt sein muß, verwechsle.
     Ich bekenne zweitens, daß ich nicht völlig verstehe, wie nach so klaren Beweisen, als der Reisende gehabt hat, daß die geheimsten Reize Clärchens von einem Vorgänger gesehen, und höchst wahrscheinlich genossen worden sind; er doch durch ihre Erzählung, die mit dem Berichte der päpstlichen Soldaten in äußern Umständen übereinstimmt, aber diese auf eine ihr günstige Weise erklärt, von neuem so für sie eingenommen und von ihrer Unschuld überführt werden kann, daß er im Ernste daran denkt, sie zu heiraten; und diese Liebe und dieses Zutrauen gehen in wenig Minuten in eine so gänzliche Verachtung und fast Verabscheuung über, daß er dasselbe Clärchen, wie die gemeinste Buhlschwester, dem Herrn Fez gleichsam zur Mißhandlung preis gibt, gewiß, daß sie die angebotene Partie nicht ausschlagen wird. Diese Übergänge kommen mir zu plötzlich vor, und würden meiner Natur nicht gemäß sein; aber ich entscheide deswegen nicht, daß sie auch der menschlichen Natur widersprechen.
     Die Rede, welcher der Reisende vor seinen Richtern hält, ist ein Meisterstück der Beredsamkeit im Vortrage und Stil, und sie übertrifft, nach dem Ausdrucke eines meiner Freunde, alle Kunst der Demosthene und Cicerone. Indeß gestehe ich, daß mir diese Beredsamkeit beinahe zu hoch für die Umstände und für die Personen scheint, denen sie gewidmet ist; daß sie am Ende doch den Richtern einen gar zu groben Staub in die Augen streut, und daß diese sich durch einen Betrug so gänzlich umstimmen lassen, der mir auch selbst für die stumpfe Fassungskraft eines Avignonschen Probstes und Domherrn unverkennbar zu sein scheint.
     Noch ein Wort von der an sich sehr malerischen Episode von dem Gemälde=Kabinett, durch welches die Thronfolger eines Fürstenhauses, vor dem wichtigen Aktus der Fortpflanzung desselben, ihre Imagination anfeuern, und ihre verlorne Spannkraft wieder herstellen sollten. Es scheint, daß Sie dadurch Ihre Rechtfertigung vor dem Publikum machen wollen, und Sie verteidigen sich in der Tat vor diesem Tribunale mit eben der Kunst, als vor dem Tribunale der Geistlichkeit in Avignon; — aber nicht auch ein wenig mit gleichen Advokatenkünsten? — Sollte wirklich die entnervte oder erschlaffte Mannheit eines Jünglings durch wollüstige Gemälde gestärkt werden? Gehören diese nicht einigermaßen selbst zu den entnervenden Ursachen, indem sie eine Kraft in unnützen Begierden verzehren, die nur auf die Umarmungen der ehelichen Liebe gewandt werden sollte? Sie sehen, wie voll ich von Ihrem Werke bin, da ich nicht aufhören kann, Ihnen vielleicht unreife Gedanken von mir mitzuteilen, um mich noch länger mit jenem zu beschäftigen.

Christian Garve (1742 - 1798) — Geboren in Breslau, war er kurze Zeit Dozent und Professor der Philosophie in Leipzig. Er starb in Breslau.
Er übersetzte Schriften von Ferguson, Burke, Cicero, Paley, Smith und Aristoteles. Garve ist ein Popularphilosoph, der vom englischen Empirismus beeinflußt ist. Die Sinnesqualitäten sind nach Garve Wirkungen der Dinge auf den Organismus. Unlust entsteht, wenn der Körper Teile verliert oder wenn sich andere anhäufen. Lust entsteht, wenn jener Mangel ersetzt wird oder dieser Überfluß wegfällt.

Gotha, den 10. Febr. 1795
     Ein so freundschaftlicher überdachter Brief, als der Ihrige, wäre wohl nicht drei Monate unbeantwortet geblieben, wenn Sie, teuerster Freund, zu den Leuten gehörten, die man gern geschwind abfertigt, um ihrer desto eher los zu werden. Ich habe, um mich mit Ihnen desto traulicher unterhalten zu können, immer auf Ruhe gewartet. — Diese wollte nicht kommen, und ist jetzt, da das allgemeine Unglück nun auch den Punkt in seinem Strudel getroffen hat, der meinem Vermögen Gefahr und Untergang drohet, — da Holland in den Händen unsrer Feinde ist, weniger bei mir zu Hause, als jemals. Man ist in solchen Umständen ein gar schlechter Korrespondent, lieber Garve, und bei einem so großen pyhsischen Verluste, als mir wahrscheinlich bevorsteht, nur wenig aufgelegt, an den Wert oder Unwert seiner geistigen Produkte zu denken. So spät ich auch Ihren Brief beantworte, so habe ich doch einen guten Gebrauch davon gemacht — , habe ihn einer Menge Leuten zu studieren gegeben, die bei Erscheinung meiner drei berüchtigten Teile nicht wußten, was sie davon sagen sollten, und von denen mir immer lieber sein mußte, daß sie Ihr Urteil ohne lange Untersuchung annahmen, als ihren eigenen folgten. Es wäre indes doch wohl ein zu großes Wunder, als daß Sie so leicht daran glauben würden, wenn der Autor selbst zu dieser Menschenklasse gehörte. Ich will mich also, so gut es meine jetzige Lage verstattet, zurechte setzen und den bekannten mißlichen Versuch machen, meinen Opponenten auf meine Seite zu bringen. Ihr vorzüglichster Tadel an meinem Buche, und den ich am wenigsten von einem Philosophen erwartet hätte, ist: daß es bei seiner anscheinenden Frivolität zu tiefsinnig sei. Würden Sie aber und andere verständige Leser, die doch eigentlich dem Autor allein Ehre bringen, wohl Geduld haben, das Werk bis zu Ende zu lesen, wenn ich, wie es noch dazu dem Charakter gemäß war, unter dem ich im ersten Teile meiner Reise auftrat, aus meinem dermaligen Leichtsinne nicht dann und wann in den Tiefsinn zurückgetreten wäre, den ich aus meiner Bibliothek in Berlin mitnahm? Wirklich habe ich mir meinen Text um deswillen schwerer gemacht: denn ein ganz frivoles Buch zu schreiben, wäre ein ungleich leichtere Sache gewesen. Ich weiß zwar wohl, daß man es im gemeinen Leben leicht mit beiden Parteien verdirbt, wenn man sich jede derselben geneigt zu machen sucht, und es sollte mir sehr leid tun, wenn das hier der Fall wäre. Wenn ich mir jedoch nicht zu viel schmeichle, so hoffe ich, daß mein Hin= und Herschwanken die meisten in Ungewißheit lassen soll, auf welche Seite ich mich zuletzt hinneigen werde; — und da hätte ich nur zu sorgen; daß ich am Schlusse meiner Reise allen aus dem Gesicht käme, ohne daß sie wüßten, was aus mir geworden sei. Dunkelheiten — ist ein anderer Vorwurf, der wohl wahr sein muß, weil ihn mir viele meiner Leser machen, und es ist die Klage aller meiner Rezensenten ist. — Ich weiß dagegen nichts zu sagen, als daß ich einen und den andern bitte, sie mir in in dem Werke selbst en detail anzuzeigen: denn ein armer Autor, der, ohne es zu wissen, die Erläuterung davon im Sinne behält, kommt von selbst nimmermehr darauf. Wenn sie also einmal mein Buch wieder zur Hand nehmen sollten, lieber Garve, so würden Sie mir einen wichtigen Dienst leisten, wenn Sie auch Ihren Bleistift dazu nähmen, und die Stellung und Ausdrücke anstrichen, die Ihnen unverständlich bleiben. In der skabrösesten Szene meiner Geschichte, dächte ich, wäre alles so ziemlich deutlich. Es muß wohl dem kraftvollsten Manne die Lust vergehen, wenn er in dem Augenblicke, da er sie zu befriedigen gedenkt, Phantome von der Art sieht, als um den Sofa des Reisenden schweben, — die Hölle mit allen ihren Attributen und in deren Mitte der Papst mit allen Schrecknissen der Seuche, die sich von seiner Regierung her datiert, und an die man in solchen Augenblicken schwerlich erinnert werden kann, ohne den Mut sinken zu lassen. O es gehört, glaube ich, weniger dazu, um einen denkenden Kopf drehend zu machen, wenn er seine Denkkraft in dieser animalischen Lage nicht beiseite zu legen versteht.
     Ich komme nun zu Ihrer Kritik einiger einzelner Stellen meines Gewebes, gegen die ich meine Verteidigung kurz und gut hersetzen will. Der Reisende kann immer, wie ich glaube und wie es sein Fall ist, über die Wahrheit der Unschuld und Frömmigkeit seiner Schöne noch schwanken: — genug, daß er sie als eine Heilige, als eine eifrig katholische Christin kennen lernt, die an die Unfehlbarkeit des Papstes — an die Lehre des Ablasses so gut glauben muß, als an jedes andere Dogma ihrer Religion; — genug, daß er Tags vorher schon gesehen und gehört hat, mit welcher Begierde sie nach der Reliquie des Strumpfbandes angelt, um daß er nicht ahnden sollte, wie gewiß die päpstliche Indulgenz und die Verheißung der restitutio in integrum seinem Wunsche beförderlich sein würden. Da der Reisende ihr nichts als die eignen Worte des Papstes vorliest, so kommt die Impertinenz, die darin liegt, allein auf die Rechnung dessen, der, nach katholischen Begriffen, Macht hat, Impertinenzen zu sagen und strafbare Handlungen zu entsündigen. Ob und in wie weit Clärchen den Sinn des Ablasses verstand, konnte dem Reisenden im Grunde ganz gleich sein, denn da sie einmal die Reliquie nicht aus der Hand lassen will, die Bedingungen des Handels mit der Erlaubnis des Papstes glücklich übereintreffen, und sie übrigens nicht lange Zeit hat, sich zu zieren und zu besinnen, weil sonst die zwei einzigen Tage vergehen würden, die dem Verkäufer und der Käuferin zu ihrem Tausche frei bleiben: —  so ist, glaube ich, die Eile mit der er zu Werke geht, hinlänglich motiviert. Auch holte er nicht, sondern sie, die Kasuisten zu Hilfe, und sie wählte aus übergroßer Sicherheit nur diejenigen, die ihr Gewissensrat, den sie selbst nicht sprechen durfte, gewöhnlich zitierte, fand darin ihre wenigen noch übrigen Zweifel gehoben, und sah nun mit innerm Vergnügen dem Besitze der Reliquie entgegen, der ihr über alles ging, und zwar nicht aus dem Antriebe der Wollust, sondern, wie der Reisende glauben mußte, der Frömmigkeit. Denn gesetzt auch, daß der Probst so vielen Aberglauben und Wollust vereinigte, daß er ihr nur die Kreuze malte, um ein Mädchen, daß er für sich aufhob, für fremde Gefahr zu bewahren, so konnte er doch wohl ein so junges eingezogenes und bewachtes Kind, als Clärchen dem Reisenden vorkam, wirklich aus Unbekanntschaft der weitern Zeremonien durch die Worte ihrer Lehrer sich so weit verleiten lassen, als hier nötig war, ohne daß sie Unrecht zu tun glaubte, — und der Reisende konnte ebensowohl, bei den verworrenen Begriffen, die er in der Sitten= und Tugend=Lehre der Katholiken überhaupt und der Avignonschen besonders, gewahr ward, mit seinen leidenschaftlichen Spekulationen in Ungewißheit geraten, ob sein Clärchen nur noch betrogen oder schon eine Betrügerin sei, — konnte eben deswegen durch die naive Darstellung ihres Schreckens bei Erscheinung des Teufels — ebenso leicht an den Glauben ihrer Unschuld zurückgebracht werden, als er davon abging. Was kann ein schönes, naives, geliebtes Mädchen einem solchen Schwächlinge in der Philosophie, als ich mich selbst male, nicht alles weiß machen! Meine Begriffe von weiblicher Tugend sind deshalb diesem Geschlechte nicht nachteilig. Es gibt freilich genug, die, aufs beste unterrichtet, die Unwissenden spielen, und einen Liebhaber um den andern damit anzuführen; es gibt aber auch — glauben Sie entweder meiner Erfahrung oder meiner Blindheit — Kinder genug, die es wirklich à l´age d´en faire noch so sehr sind, wenn sie den ersten Unterricht erhalten, als es Clärchen vorgibt. Ich weiß nicht, welche alte Dame dem Hofrat Zimmermann gestand, daß sie als Braut umsonst ihre Imagination aufgeboten habe, um sich das Glück ihrer ersten Nacht begreiflich zu machen, und als sie in ihrem sechzehnten Jahre dazu gelangte, immer bei sich gedacht habe: n´est ce que cela? n´est ne que cela? Das war doch gewiß ein echtes Clärchen in der Natur. Der geschwinde Übergang des Reisenden von der Liebe zur äußersten Verachtung scheint mir nicht weniger dem Übergange seiner Geliebten von Unbefangenheit, oder der Maske derselben — zu einem buhlerischen Gelächter — angemessen zu sein. Gegen den Champagner hält keine Scheinheiligkeit fest; — die plötzliche Veränderung, die der Wein bei Clärchen hervorbrachte, liegt in der Natur des Rausches, der veritas amicus ist. Da der Reisende nicht selbst betrunken war, so hätte er mehr als Sophist — er hätte rasend sein müssen, wenn er sich länger hätte verblenden, noch länger schwanken können; und da nichts schneller in Verachtung übergeht, als getäuschte Liebe, so lassen sich sowohl daraus, als aus dem leichtsinnigen launischen Charakter des Betrogenen, die nachherigen Auftritte mit Herrn Fez recht gut erklären. Aus diesem launigen Charakter, in welchem sich der Reisende bei allen Gelegenheiten zeigt, fließt auch die, sonst unnötige Beredsamkeit seiner Verteidigungsrede. Sie kann immer für die Umstände zu hoch sein; genug, daß ihre Verfertigung dem Gefangenen einen einsamen Abend vertrieb, und, ohne daß sie in Avignon seiner Verteidigung etwas schaden konnte, seinem Freunde in Berlin, der darin die Ironie des Verfasser nicht verkennen wird, eine angenehme Lektüre gewährte. Wenn Sie sagen, daß sie am Ende doch den Richtern zu großen Staube in die Augen streut, so scheinen Sie vergessen zu haben, was es mit diesen Richtern für eine Beschaffenheit hat. — Der Probst, als der feinste Kopf unter ihnen, wird ja nicht überzeugt und soll es auch nicht, — er wird aber überstimmt von der wichtigen Person des Domherrn, von Clärchen und der Tante, die alle, schon durch das eigene Interesse, das für jeden davon in meinem Wunder liegt, auf meine Seite gebracht sind. Glauben Sie mir, lieber Garve, es ist die Geschichte aller möglichen Wunder. Ich will das meinige heute des Tags noch mit gleichem Glücke in Bayern verrichten, wenn Sie mich dort in dieselben Umstände versetzen können, die mir in Avignon beistanden. Daß der Probst den Betrug sehr gut eingesehen hat, und nachdem er den Verdruß davon überwunden, mich des Talents wegen, daß er zur geistlichen Taschenspielerei in mir zu entdecken glaubte, sogar seiner Freundschaft würdig hält, zeigt sein Bilett und ist der wahre Gang des Jesuitismus. Um die Abscheulichkeit und die Folgen desselben zu zeigen, wie ich mir in diesen dreien Teilen vornahm, konnte ich freilich unmöglich Rücksicht auf das andere Geschlecht nehmen, ohne mein Thema zu schwächen. Die Materie über die Sünden des Fleisches schien mir auch noch am ersten den scherzhaften Ton vertragen zu können, den ich in meiner Reisebeschreibung angenommen habe. Es gibt Grundsätze in der Moral der Jesuiten, z.B. über den Meuchelmord, über die Abtreibung der Leibesfrucht usw., gegen die ich allen Ernst hätte aufbieten müssen, wenn ich sie hätte berühren wollen. Ich blieb also wieder bei jenen stehen, die nur rot machen, warne ja selbst alle jungen Mädchen in meinem Buche, es nicht zu lesen und habe es meinen Töchtern zuerst verboten. Die Herrn Berliner haben sich, wie billig, ihres Landsmannes angenommen. In dem Oktoberstücke wird die Frage untersucht: ob die jetzigen Jesuiten von den ältern verschieden wären, und meiner dabei ehrenvoller erwähnt, als ich erwarten durfte.
     Wäre es meinen Bestellungen nachgegangen, liebster Freund, so hätten Sie die neuen drei Teile eher, als jedermann, eher sogar, als ich selbst, erhalten. Ich hatte unserem Weiße aufgetragen, sie Ihnen sogleich zu schicken, wie sie aus der Presse kommen würden. Lassen Sie sich von ihm erzählen, warum es dennoch unterblieben ist, und dabei meinem guten Willen und der Ihnen schuldigen Attention Gerechtigkeit widerfahren. Ich schicke diesen Brief offen an Freund Weißen, dem ich eben zu schreiben im Begriff bin. Es wird ihm nicht mißfällig sein, daß ich seiner spitzigen Feder Gelegenheit gebe, meine schwache Verteidigung mit seinen boshaften Anmerkungen zu begleiten. Ewig der Ihrige.

Zitiert nach: Moritz August von Thümmel, Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich. Mit Kupfern und Vignetten von Pentzel, Schnorr von Carolsfeld und Ramberg. Erster, Zweiter, Dritter Band. München und Leipzig 1918. Verlegt bei Georg Müller. = Die Bücher der Abtei Thelem. 22.-24. Band. Herausgeber: Conrad Höfer.


Im Jahrbuch für Fränkische Landesforschung, Bd. 22, Neustadt (Aisch) 1962 teilt Horst Heldmann, bekannt durch seine Thümmel-Forschungen, vier Briefe an Moritz August von Thümmel mit. Da der Publikationsort etwas abgelegen erscheint, sollen sie hier mitgeteilt werden. Ergänzt durch kurze Hinweise Heldmanns. — Die ausführliche Lektüre der kleinen Monographie sei jedermann empfohlen.

Die  persönlichen Beziehungen Thümmels zu dem später als Philosoph und Schriftsteller hervorgetretenen Friedrich Heinrich Jacobi haben sich wohl auf den in dem unten abgedruckten Brief zur Sprache kommenden Bereich beschränkt. Jacobi hat wahrscheinlich kein zweites Mal an Thümmel geschrieben; der Brief Thümmels, den Jacobi mit seinem Schreiben beantwortete, hat sich bisher noch nicht wieder aufgefunden.  [H. Heldmann]


[Düsseldorf, 3.4.1774]

Hochwohlgebohrner Freyherr
Hochzuverehrender Herr GeheimRath,

Eine langwierige und ziemlich ernsthafte Unpäßlichkeit ist Ursache, daß ich Dero geehrtestes Schreiben so lange habe unbeantwortet liegen laßen müßen. Ich hätte zwar das Exemplar des Agathon, welches Denenselben gebührt, und durch eine unglückliche Irrung nicht zu Ihren Händen gekommen ist, unterdeßen nach Coburg besorgen können; aber mir schien unerträglich, bey Ihnen den Argwohn zu erregen, ich hätte bloß aus Trägheit oder Nachläßigkeit das Paquet ohne alle Begleitung gelaßen. Gestern ist nun endlich ein Exemplar des Agathon auf holländisches Papier, unter EwHochwohlgebohrnen Aufschrift, mit dem Reichs=Wagen von hier abgegangen. Den begangenen Fehler, nebst allen seinen Folgen und Zufälligkeiten, wollen Dieselben gütigst verzeihen.
     Meinen Bruder, der den verwichenen Winter über zu Halberstadt gewesen ist, habe ich vergessen wegen des von EwHochwohlgebohrnen auf die Gleimischen Werke in Vorschuß empfangenen Ldor zu Rede zu stellen; er soll Denenselber von hier aus, wo er zu Ende dieses Monats eintreffen wird, ohnverzüglich Rechenschaft darüber ertheilen.
     Sehr angenehm war mir in EwHochwohlgebohrnen Schreiben die für mich so schmeichelhafte Erwähnung Dero zu kurzen Erscheinung in Düßeldorf. Der Werth welchen Dieselben auf die Bekantschaft legen, die ich zwischen Ihnen und dem Marquis de St Simon zu veranlaßen das Glück hatte, giebt mir selbst den einzigen, den ich mir anjetzt noch bey denenselben zuschreiben kan. In Ihnen verehrte ich längst einen der liebenswürdigsten Dichter; und gewiß weiß ich die Gefälligkeit zu schätzen, wodurch mir das Glück zu Theil ward, in diesem liebenswürdigen Dichter zugleich einen der liebenswürdigsten Menschen kennen zu lernen.
Ich bin mit der vorzüglichsten Hochachtung
                                                                    EwHochwohlgebohrnen

Düsseldorf d 3ten April                                                      ganz ergebenster Diener
                           1774                                                       Friedrich Heinrich Jacobi

[Umschlag:]
            An Tit:
            Herrn GeheimRath
            FreyHerrn von Thümmel
                                  zu
                           Coburg


Thümmels Briefwechsel mit Christian Felix Weiße, dem Leipziger Dichter und Jugendschriftsteller, erstreckte sich über etwa 45 Jahre. Die beiden jungen Männer hatten sich während Thümmels Studienaufenthalt in Leipzig kennengelernt, wohl um 1758; sie wurden nahe Freunde und blieben es bis zu Weißes Tod 1804. [H. Heldmann]
Der Hofrath Lerse, Göthens vertrauter Freund, den er sogar nament[lich] in s. Goetz von Berlichingen aufs Theater gebracht, vormalicher Prof. in Colmar, Pfeffels College, nach der franz. Revolution zwey Jahre lang Capitain von der National=Garde, itzigen Hofmeister des reichen Grafen von Fries aus Wien, der itzt hier studirt, ein Mann voller Verstand, Gelehrsammkeit, Welt u. Menschenkenntniß, wünscht bey seyner kleinen Reise mit dem Grafen nach Gotha sehr Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, mein bester Freund, u. da ich ihn sehr oft sehe, kann ich seine gerechte Foderung, ihm zu der Ehre zu verhelfen nicht versagen. Der Erbpr. von Hessen Darmstadt ist mit ihm, aber nicht weiter als bis Weimar gegangen: sie kommen aber beyde in 8 Tagen wieder zurück. Gern schriebe ich Ihnen recht viel: aber, ich erwarte noch von Parthey Briefe, die mir noch zur Antwort auf Ihr leztes dienen soll[en]. Hoffent[lich] werde ich bal Ihren H[err]n Bruder wieder sehen: o daß er Sie doch mitbrächte, oder ich itzt Lersen hätte begleiten können! Wenigsten soll er mir viel von Ihnen sagen! Ich umarme Sie von ganzem Herzen. Ewig

L. den 5. Apr. [1796]
                                        Ihr
                                                   W.
Beyliegendes Programm, womit mein Sohn vorige Woche seine Professur angetreten, u. das, wie man sagt, eine wichtige publicistische Materie bey dem unfern bevorstehenden Reichsfrieden abhandeln soll, geben Sie, wer es lesen mag: vielleicht kann eine Anzeige davon in Ihrer gel. Zeitung gebracht werden.
     Unser Blankenburg ist sehr krank.

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[Leipzig, 7.11.1798]
Es thut mir ordentlich weh, mein bester Freund, daß Sie unsere Gegend wieder verlassen: denn so wenig ich auch Genuß davon gehabt habe, so hat schon der Gedanke, einander in etlichen Stunden sehen zu können etwas tröstliches für mich. Wollte der Himmel! daß Sie wenigstens der Ruhe u. Zufriedenheit entgegen eilten: aber welche Ungeheuer lauschen nicht an den liminibus potentum! Wie wohl würde Ihnen u. mir seyn, wenn wir uns noch von den kleinen Anhöhen von Schönfeld u. Stötteritz einen guten Morgen bieten könnten! Gott gebe Ihnen und Ihrem Hn. Bruder nur eine feste Gesundheit. Denn für ihn ist mir bey seiner betriebsamen Thätigkeit immer leid, u. wenn man immer vielen Herrn zugleich dienen soll, macht man es selten Einem oder dem andern recht. Unsere Leipziger Herrn ware von der Güte Ihrer liebreichen Aufnahme ganz durchdrungen, u. finden Ihres Lobes u. Dankes kein Ende.
Des armen Garve Schicksal kann man sich nicht ohne Schaudern denken, u. welch ein Geist in einer so elenden Hülle! Im neusten Briefe schreibt er mir, daß er sich seiner Auflösung zu nahen hoffe, in dem die Füße heftig an zu schwellen fiengen u. bittet sehr, daß ich ihn, so lang sein Odem noch aus u. ein gieng, mit einer Zeitschrift erfreuen sollte: dieß thue ich dann treufleißig: denn wer ist mir denn noch von meinen alten Busenfreunden übrig, als Sie, meine Geliebtesten! Er schreibt mir von Ihrer Hymne. „Ich habe, sagte er, die Gedanken in derselben trefflich, aber den poetischen Ausdruck unvollendet gefunden. Mein Brief an ihn enthält eine umständliche Kritick; es wäre mir lieb, wenn Sie beydes Brief u. Hymne läsen: doch er theilt sie Ihnen auch selber mit. „Von seinen neuesten Schriften haben mir die Bruchstücke über Fr. den 2ten vorzüglich gefallen, zumal was er über unsre Schriftstellerey sagt. Das neue Buch von Kant, der Streit der 3. Facultäten, mißfällt mir sehr u. kann zu Untergrabung aller Moralität vieles beytragen. Man schreibt mir von Berlin, daß Nicolai seinen Nothanker umarbeitet u. mich sollte wundern, wenn ihm nicht jenes Veranlassung geben würde, sich aufs neue mit Kant herum zu tummeln.
An Goeschen habe ich Ihren Auftrag vollzogen. Er entschuldiget sich mit der Zerstreuung, daß sein Schwiegervater gestorben u. verspricht uns nächstens das Paquet zu übersenden, ich werde nicht ermangeln es zu erinnern. Meine Frau wird die verlangten Strümpfe baldmöglichst von Dresden verschreiben, u. empfiehlt sich nebst mir u. den Meinigen Ihrem ganzen lieben Hauße zu gnädigem Wohlwollen. Eben läßt mir Goeschen sagen, daß er Wiel. Schriften durch die Alten[.] Landkutsche hinüber schicken wolle, da sie ei[nen] großen Ballen ausmachten. Vielleicht kömmt dieser noch zur rechten Zeit an u. wäre es nicht so wird sich doch dort vielleicht noch eher eine Gelegenheit finden ihn zu transportiren.
H. Jean Paul ist vor 8. Tagen von hier nach Weimar abgeflattert. Schade um den Mann, daß er nicht schreibt, wie er spricht u. ein so gar wunderbares Ideal von einem großen u. guten Schriftsteller hat u. so überspannt in seiner Imagination ist, daß man für seinen Kopf wohl einmal fürchten muß. Keine Kritick kann er gar nicht vertragen u. will nur bewundert seyn. Ich habe ihn ungern verloren, da er viel Anhänglichkeit an mich hatte u. höchst unterhaltend war. Für das andere Geschlecht kann er ein gefährlicher Mann seyn; denn die Schwärmerey steckt an u. er strebt immer die Menschen über Sphäre mit sich hinaufzuziehen, so tief er oft wieder auf die Erde fällt.
 Nun, bester liebster Freund, reisen Sie glücklich, behalten Sie mich lieb, schreiben Sie mir ja bald! denn man Herz geht mit Ihnen, u. schicken mir bald von Ihrer Reise Etwas! Ihren gütigen Hn. Bruder erinnern Sie gelegent[lich] an Garvens Briefe! Noch einmal leben Sie wohl!
                                                       W.
Leipz. d. 7. Nov. 98.

[St. Petersburg, 6./18.3.1805]
Die abgedruckte Stelle aus einem Brief von Friedrich Maximilian Klinger an Thümmel bedarf einer näheren Erläuterung, zumal die übrigen Theile des Briefes zwar bereits gedruckt, aber doch nicht mehr ganz leicht zugänglich sind. Jean Paul, der sich Thümmel freundschaflich verbunden fühlte und Die „Reise" zu seinen Lieblingsbüchern zählte, hatten dennoch im Anhang zu seinem „Kampaner Thal" (1797) die schlüpfrigen Clärchen-Szenen im dritten bis fünften, besonders im vierten Teil des Thümmelschen Werkes leise getadelt. Thümmel hatte sich im siebenten Teil (1800) humorvoll gegen Jean Paul verteidigt und den Vorwurf zurückgewiesen. Während er selbst aber Jean Paul den wohlmeinenden Tadel nicht verübelte, glaubte Klinger sein Lieblingsbuch in Schutz nehmen zu müssen. Daneben sah er in Thümmels Verteidigung auch eine Entschuldigung, ein Sich-Verneigen vor dem jüngeren Dichter, das er für unberechtigt hielt, da er Thümmels Werk weit über die Schriften Jean Pauls stellte. [H. Heldmann]
. . . Jetzt auf den gewißen Mann! mich verschnupfte nur / ich tadelte nicht / daß Sie! der genialische Daemon, dem sich anmassenden Sittenrichter eine Reverenz von der Seite machten, als seyen seine Worte von Gewicht für Geister Ihrer Art. So schnell u leicht Sie auch diese Seiten Reverenz ihm machten, mußte der Mann nicht glauben, sein Urtheil sey wirklich von Gewicht? Und dann fürchtete ich etwas schrecklichers — ich muß es gestehen, und [mag] auch das Geständniß mir schaden oder nutzen; es mochte vielleicht bey der Seiten Reverenz nicht bleiben; aber der 8. 9. Thl der Reisen haben mich von aller Furcht geheilt, der Genius flog grade vorwärts kühn, kräftig, und schien von den Jeremiaden u Capuzinaden, der Männer im Thal, die nur über negative Tugenden für Freude weinen, gar nichts gehört zu haben. So wollt´ ich es, so erwartete ich es, und vortrefflich, haben Sie sich mit Ihrer Clara aus dem Netze gezogen, in dem Sie nur Leute, wie der sich anmassende Sittenrichter, verwickelt sehen konnten. Sie haben das liebliche Klärchen, das Meister und Kunstwerk der Pfaffen unter das moralische Meßer des psychologischen Anatomen / eines Lords / gebracht, der es werth ist, ein solches Experiment zu machen. Der blinde, des Versuchs würdige Zerleger oder Forscher fühlt indessen nicht, daß ihm während er experimentirt, Klärchen das Meßer, mit schöner Hand, und verhüllt, schon an das Herz oder den Hals gelegt hat. So wird nun von beyden Seiten ein Experiment gemacht, wobey ich aber für Klärchen, als von der catholischen Klerisey gebildet, wetten mögte. Sind dies nicht noch viel höhere Bildner, als die Weiber, in deren Schule der würdige Lord seine Studien gemacht, aber gewiß nicht vollendet hat, wie hoffentlich die Pfaffen Tochter ihm zeigen wird? So ist nun alles zufrieden; die Daemonen ahnden das, u der Plebs der Geister mag sie meinetwegen nach seiner Denkungsart, in seiner Einbildung zu Bridwell endigen laßen, denn für diese giebt es nur solche Zeichen der Strafe. Wir erwarten nichts weiter als den gegebenen Wink, u ist der sich anmassende Sittenrichter nicht damit zufrieden, so tröste er sich damit, daß das liebe deutsche Publikum, seine in Thränen verklärte weibliche Ideale nachschluchzt.  . . .

Goethe an Moritz August v. Thümmel.

          Hochwohlgeborener
          Insonders hochzuehrender
          Herr Geheimderath
   Das Andenken der schönen, leider nur zu kurzen Tage, die ich bei Ihnen zu genießen das Glück gehabt, erneuert sich bei mir auf das lebhafteste, da ich die Feder ergreife Ew. Hochwohlgeboren wegen einer Akademischen Sache nochmals zu behelligen.
   Ihres gnädigsten Herrn Durchl. geruhten mir zu versichern, daß hochdieselben alles nach meinem Unterthänigsten Antrage, und nach dem Wunsche meines Herrn des Herzogs, würden verfügen lassen. Darunter war, ausser der Vokation des Herrn Döderlein zur zweyten Theologischen Stelle, auch die des Herrn Ausfeld zur dritten, und die gefällige Comunikation mit den beyden übrigen Höfen.
   Wie ich vernehme so fehlet Serenissimi Coburgensis gnädigstes Rescript an die Akademie wegen Herrn Ausfelds, auch siehet man in Gotha einer beifälligen Comunikation entgegen, um gleichfalls an die Akademie zu rescribiren.
   Herr Döderlein hat sich erklärt er wolle die Vokation aufnehmen, und es wird also keine Zeit zu verliehren sein.
   Mit der heutigen Post gehen hierüber Comunikations Schreiben an die sämmtlichen Höfe ab und ich bitte Ew. Hochwohlgeboren noch ganz besonders um Beförderung und Berichtigung dieser Sache.
   Auch Herr Blasche leidet unter dem Verzuge indem man hiesiger Seits vor der Berufung des Herrn Ausfelds sich ihm zu der Erfüllung keiner Bedingung verbunden hält.
   Mir selbst ist persönlich daran gelegen daß dieses Geschäfte berichtigt werde, weil es sonst scheinen könnte als hätte ich mich in Betreibung desselben einiger Nachlässigkeit schuldig gemacht.
   Die nicht genug zu preisende Gnade Ihres gnädigsten Herrn, welche mir höchstdieselben bezeigt, läßt mich das beste hoffen, und das Zutrauen, das ich auf Ew. Hochwohlgeboren Mitwürkung setze, wird gewiß vollkommen befriedigt werden.
   Darf ich bitten mich den höchsten Herrschaften zu Füssen zu legen, und meine Dankbarkeit zu bezeugen.
   Der Frau Gemahlin und Herrn Schwager empfehle ich mich auf das angelegentlichste.
   Mit angefügter Bitte mich gelegentlich mit den versprochenen Naturalien zu bedenken, versichere ich meine Vollkommenste Hochachtung und Dankbarkeit und unterzeichne mich mit den ergebensten Gesinnungen.
      Ew. Hochwohlgeb.
      gehorsamster Diener
      Goethe.
Weimar d. 5. Juni 82.

(aus: Goethes Briefe, 5. Band, Weimar 1889, Seite 338-340)